Arthur
Arthurs Ehe begann, wie sein bewusstes Leben, mit dem Tod.
Er schloss seine Ausbildung zum Arzt ab, übernahm Vertretungen in Sheffield, Shropshire und Birmingham und dann einen Posten als Schiffsarzt auf dem Walfänger Hope. Das Schiff fuhr von Peterhead bis ins arktische Eis, um Robben und anderes Getier aufzuspüren, das man jagen und töten konnte. Arthurs Aufgaben waren leicht, und da er ein ganz gewöhnlicher junger Mann war, der beim Trinken und, wenn nötig, auch beim Raufen fröhlich mittat, gewann er rasch das Vertrauen der Mannschaft; auch fiel er so oft ins Meer, dass er den Spitznamen Eistaucher bekam. Und wie jeder andere gesunde Brite hatte er Freude an einer guten Jagd: Auf dieser Fahrt erbeutete er fünfundfünfzig Robben.
Wenn sie draußen im unendlichen Eis waren und Robben totschlugen, war das für ihn wenig mehr als ein kraftvoll-männlicher Wettstreit. Doch eines Tages fingen sie einen Grönlandwal, und dieses Erlebnis war für ihn anders als alles, was er bisher gekannt hatte. Es mag ein königliches Spiel sein, seine Kräfte mit einem Lachs zu messen, doch wenn die arktische Beute schwerer ist als eine Vorstadtvilla, lässt das jeden Vergleich verblassen. Arthur stand keine Handbreit entfernt, als er zusah, wie sich das Auge des Wals – zu seinem Erstaunen nicht größer als das eines Ochsen – im Tode allmählich trübte.
Das Mysterium des Opfers: Etwas in seinem Denken hatte sich verändert. Er schoss weiter Enten aus dem schneeigen Himmel und war stolz auf seine Treffsicherheit; doch dahinter lag ein Gefühl, das er erhaschen, aber nicht greifen konnte. Jeder Vogel, den man vom Himmel holte, trug im Magen Kiesel von einem Land, das auf keiner Karte verzeichnet war.
Danach fuhr er nach Süden; die Mayumba nahm von Liverpool aus Kurs auf die Kanarischen Inseln und die afrikanische Westküste. Getrunken wurde an Bord nach wie vor, doch gekämpft wurde nur noch am Bridgetisch und am Cribbagebrett. Falls er bereute, die Gummistiefel und zwanglose Kleidung eines Walfängers gegen die Messingknöpfe und Kammgarnanzüge eines Passagierschiffs eingetauscht zu haben, fand er hier zum Ausgleich wenigstens weibliche Gesellschaft. Eines Abends verknoteten ihm die Damen aus Jux die Bettlaken, und am nächsten Abend übte er gutmütig Rache, indem er in einem ihrer Nachthemden einen Fliegenden Fisch versteckte.
Er kehrte aufs Festland, zur Vernunft und zu einer Karriere zurück. Er hing sein Messingschild in Southsea heraus. Er wurde Freimaurer und im 3. Grad in die Phönix-Loge Nr. 257 aufgenommen. Er wurde Kapitän des Portsmouth Cricket Club und galt als einer der verlässlichsten Fußball-Verteidiger in Hampshire. Dr. Pike, wie er Mitglied im Southsea Bowling Club, überwies Patienten an ihn; die Gresham Life Insurance Company beauftragte ihn mit medizinischen Untersuchungen.
Eines Tages bat Dr. Pike ihn um seine Meinung zu einem jungen Patienten, der vor kurzem mit seiner verwitweten Mutter und seiner älteren Schwester nach Southsea gezogen war. Dieses Einholen einer zweiten Meinung war bloße Höflichkeit: Es lag klar auf der Hand, dass Jack Hawkins an Meningitis litt, und dagegen konnte die gesamte Ärzteschaft, geschweige denn Arthur, nichts ausrichten. Kein Hotel und keine Pension wollte dem armen Burschen Unterkunft gewähren, daher erbot sich Arthur, ihn als seinen Patienten im eigenen Haus aufzunehmen. Hawkins war nur einen Monat älter als sein Gastgeber. Trotz unzähliger Gaben von Pfeilwurz, die ihm Linderung bringen sollten, verfiel er zusehends, delirierte und verwüstete sein ganzes Zimmer. Nach wenigen Tagen war er tot.
Diesen Leichnam sah sich Arthur genauer an als das weiße, wächserne Ding in seiner Kinderzeit. Er hatte während seiner medizinischen Ausbildung festgestellt, dass in den Gesichtern der Toten oft viel Verheißung lag – als wären Anspannung und Druck des Lebens einem höheren Frieden gewichen. Die wissenschaftliche Erklärung dafür lautete postmortale Muskelerschlaffung, doch Arthur fragte sich insgeheim, ob das schon die ganze Antwort war. Auch tote Menschen trugen im Magen Kiesel von einem Land, das auf keiner Karte verzeichnet war.
Als Arthur in dem aus einer einzigen Kutsche bestehenden Trauerzug von seinem Haus zum Friedhof an der Highland Road fuhr, regten sich seine ritterlichen Gefühle beim Anblick der ganz in Schwarz gekleideten Mutter und Schwester, die nun in einer fremden Stadt ohne männlichen Schutz allein waren. Dann wurde der Schleier gehoben, und Louisa erwies sich als schüchterne junge Frau mit einem runden Gesicht und blauen, ins Meergrüne spielenden Augen. Nach Verstreichen einer Anstandsfrist durfte Arthur ihr seine Aufwartung machen.
Der junge Doktor erklärte ihr, die Insel – denn Southsea war allem Anschein zum Trotz eine Insel – lasse sich als eine Abfolge konzentrischer Ringe darstellen: innen Freiflächen, dann der mittlere Ring der Stadt und danach der äußere Ring des Meeres. Er erzählte ihr von dem Kiesboden, der für einen schnellen Wasserabfluss sorgte, von Sir Frederick Bramwells segensreichen Sanitäreinrichtungen, von der Reputation der Stadt als einem der Gesundheit zuträglichen Ort. Dieser letzte Punkt bereitete Louisa jähen Kummer, den sie hinter einer Frage zu Bramwell verbarg. Sie erfuhr sehr viel über diesen hervorragenden Ingenieur.
Damit waren die Fundamente gelegt, und nun konnte der Ort richtig in Augenschein genommen werden. Sie besichtigten beide Piers, auf denen anscheinend den ganzen Tag lang Militärkapellen spielten. Sie sahen die Fahnenparade auf dem Governor’s Green und parodistische Darbietungen auf dem Common; durch Ferngläser inspizierten sie die Schlachtflotte der Nation, die in mittlerer Entfernung in der Bucht von Spithead vor Anker lag. Sie spazierten über die Clarence Esplanade, wobei ihr Arthur nacheinander sämtliche dort zur Schau gestellten Trophäen und Schlachtdenkmäler erläuterte. Hier eine russische Kanone, dort ein japanisches Geschütz und ein japanischer Mörser, überall Gedenktafeln und Obelisken für Marinesoldaten und Infanteristen, die in allen Ecken und Winkeln des Empire ums Leben gekommen waren, und das auf jede erdenkliche Art – Geldfieber, Schiffbruch, die List und Tücke indischer Aufständischer. Sie fragte sich, ob der Doktor einen Hang zum Morbiden hatte, neigte aber einstweilen lieber zu der Ansicht, dass sich bei ihm interessierte Neugier mit physischer Unermüdlichkeit die Waage hielt. Er brachte sie sogar mit der Pferdebahn zum Royal Clarence Victualling Yard, um sich die Herstellung von Schiffszwieback anzusehen: von einem Sack Mehl zum Teig, der sich dann unter Hitzeeinwirkung in ein Souvenir verwandelte, das die Besucher am Ausgang zwischen den Zähnen hatten.
Miss Louisa Hawkins war sich nicht bewusst gewesen, dass Liebeswerben – wenn es sich denn um solches handelte – so anstrengend sein und so viel Ähnlichkeit mit Tourismus haben konnte. Als Nächstes wandten sie den Blick nach Süden zur Isle of Wight. Von der Esplanade aus deutete Arthur auf die azurnen Hügel des Vektischen Eilands, wie er die Insel nannte, ein Ausdruck, der ihr höchst poetisch erschien. In der Ferne konnten sie Osborne House sehen, und er erklärte ihr, vermehrte Schiffsbewegungen ließen erkennen, dass sich die Königin dort aufhielt. Dann nahmen sie ein Dampfschiff über den Solent und um die Insel herum; Louisas Blick wurde auf die Needles gelenkt, auf Alum Bay, Carisbrooke Castle, den Landslip und das Undercliff – bis sie sich genötigt sah, um einen Liegestuhl und eine Decke zu bitten.
Eines Abends, als sie vom South Parade Pier auf das Meer hinausblickten, schilderte er ihr seine Heldentaten in Afrika und der Arktis; doch als er von den Unternehmungen auf dem Eisfeld sprach, traten ihr Tränen in die Augen, und so prahlte er lieber nicht mit seiner Jagdbeute. Sie hatte, wie er entdeckte, eine angeborene Mildherzigkeit, die er für eine Eigenschaft aller Frauen hielt, wenn man nur recht mit ihnen vertraut wurde. Sie war stets zu einem Lächeln bereit, ertrug aber keine Späße, die etwas Grausames hatten oder die Überlegenheit des Spaßvogels ausnutzten. Sie hatte ein offenherziges, großzügiges Wesen, einen lieblichen Lockenkopf und ein kleines eigenes Einkommen.
Im Umgang mit Frauen hatte Arthur bislang den ehrbaren Flirter gespielt. Während sie jetzt durch diesen konzentrischen Ferienort spazierten, während sie lernte, sich bei ihm unterzuhaken, während ihr Name sich in seinem Mund von Louisa zu Touie wandelte, während er, wenn sie sich umdrehte, verstohlen ihre Hüften betrachtete, wusste er, dass er mehr wollte als einen Flirt. Auch meinte er, sie werde einen besseren Menschen aus ihm machen, was schließlich eine der Grundfesten der Ehe war.
Zunächst aber musste die junge Kandidatin von der Mama gutgeheißen werden, die zur Inspektion in Hampshire anreiste. Sie fand Louisa schüchtern, fügsam und aus anständiger, wenn auch nicht vornehmer Familie. Sie konnte nichts Gewöhnliches an ihr entdecken und keine erkennbare moralische Schwäche, die ihren geliebten Sohn in Verlegenheit bringen könnte. Auch schien das Mädchen frei von verborgenem Dünkel, sodass es sich in künftigen Zeiten wohl kaum gegen Arthurs Autorität auflehnen würde. Die Mutter, Mrs Hawkins, wirkte gefällig und respektvoll zugleich. Als die Mama ihre Zustimmung gab, erlaubte sie sich sogar darüber nachzusinnen, dass Louisa etwas an sich haben mochte – gerade jetzt, wenn sie so im Licht stand –, das an sie selbst in jüngeren Jahren erinnerte. Und war das schließlich nicht alles, was eine Mutter sich wünschen konnte?