George & Arthur
George hatte die Artikel im Telegraph mehrmals gelesen, bevor er Sir Arthur brieflich dankte; er las sie noch einmal vor ihrem zweiten Treffen im Grand Hotel, Charing Cross. Es war äußerst verwirrend, sich nicht von irgendeinem Schreiberling aus der Provinz dargestellt zu sehen, sondern von dem berühmtesten Schriftsteller der Epoche. Es war ein Gefühl, als wäre er mehrere sich überschneidende Personen zugleich: ein Opfer, das Wiedergutmachung fordert; ein Solicitor, der sich dem höchsten Gericht des Landes stellt; und eine Figur in einem Roman.
Da erläuterte Sir Arthur, warum er, George, unmöglich etwas mit der angeblichen Rüpelbande von Wyrley zu tun haben konnte: »Erstens trinkt er keinen Tropfen Alkohol, was wohl an sich schon keine Empfehlung für eine solche Bande ist. Er raucht nicht. Er ist überaus schüchtern und nervös. Er war ein hervorragender Student.« Das stimmte alles und stimmte doch nicht; es war schmeichelhaft und doch wenig schmeichelhaft; glaubwürdig und doch unglaubwürdig. Er war kein hervorragender, sondern nur ein guter und fleißiger Student gewesen. Er hatte seine Abschlussprüfung mit Second Class, nicht First Class Honours bestanden und war von der Birmingham Law Society mit einer Bronzemedaille ausgezeichnet worden, nicht mit Silber oder Gold. Er war sicher ein tüchtiger Solicitor, tüchtiger als Greenway oder Stentson wohl je sein würden, aber er würde sich nie besonders hervortun. Auch war er seiner eigenen Einschätzung nach nicht überaus schüchtern. Und wenn er aufgrund ihrer ersten Begegnung in dem Hotel für nervös gehalten wurde, dann konnte er mildernde Umstände geltend machen. Er hatte in der Halle gesessen, seine Zeitung gelesen und sich allmählich Sorgen gemacht, ob er sich nicht in der Zeit oder sogar im Tag geirrt hatte, und dann hatte er ein paar Meter weiter eine große Gestalt in einem Mantel bemerkt, die ihn eingehend musterte. Wie würden andere reagieren, wenn sie von einem berühmten Schriftsteller angestarrt würden? George dachte, dieses Bild von ihm als einem schüchternen und nervösen Menschen sei wahrscheinlich von seinen Eltern bestätigt, wenn nicht gar verbreitet worden. Wie das in anderen Familien war, wusste er nicht, aber im Pfarrhaus hatte das elterliche Bild von Kindern nicht mit der Entwicklung der Kinder Schritt gehalten. George dachte dabei nicht nur an sich; auch von Mauds Entwicklung schienen seine Eltern nichts wahrzunehmen und nicht zu bemerken, wie sie an Kraft und Fähigkeiten zunahm. Und als er weiter darüber nachdachte, glaubte er nicht, dass er Sir Arthur gegenüber tatsächlich so nervös gewesen war. Bei anderer Gelegenheit, die viel eher Nervosität hätte hervorrufen können, hatte er vollkommen gefasst in den dicht besetzten Gerichtssaal geblickt – hatte das nicht in der Birminghamer Daily Post gestanden?
Er rauchte nicht. Das stimmte. Er hielt Rauchen für eine unnötige, unangenehme und kostspielige Angewohnheit. Aber auch für eine Angewohnheit, die nichts mit kriminellem Verhalten zu tun hatte. Sherlock Holmes rauchte bekanntlich Pfeife – und Sir Arthur ebenfalls, soweit er wusste –, doch das machte keinen von beiden zu einem Kandidaten für die Mitgliedschaft in einer Bande. Es stimmte auch, dass er keinen Tropfen Alkohol trank: eine Folge seiner Erziehung, nicht eines grundsätzlichen, bewussten Verzichts. Doch er sah ein, dass jeder Geschworene wie auch jeder Ausschuss das auf verschiedene Art interpretieren konnte. Enthaltsamkeit konnte ebenso als Beweis für ein maßvolles wie für ein maßloses Naturell ausgelegt werden. Es konnte bedeuten, dass man in der Lage war, seine menschlichen Triebe unter Kontrolle zu halten; oder aber, dass man dem Laster widerstand, um sich auf andere, wesentlichere Dinge zu konzentrieren – dass man ein wenig unmenschlich, ja fanatisch war.
Er wollte den Wert und die Qualität von Sir Arthurs Arbeit in keiner Weise herabsetzen. In den Artikeln wurde mit seltener Kunstfertigkeit eine Kette von Ereignissen geschildert, die so absonderlich erscheinen, dass sie die Phantasie eines Romanschriftstellers weit übersteigen. Mit Stolz und Dankbarkeit hatte George ein ums andere Mal Aussagen gelesen wie Solange diese Fragen nicht samt und sonders geklärt sind, wird ein dunkler Fleck auf den Annalen der Verwaltung dieses Landes liegen. Sir Arthur hatte ihm versprochen, Lärm zu schlagen, und der Widerhall dieses Lärms war weit über Staffordshire, weit über London, ja weit über England hinausgedrungen. Wenn Sir Arthur nicht an den Bäumen gerüttelt hätte, wie er sich ausgedrückt hatte, dann hätte das Innenministerium mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keinen Ausschuss eingesetzt; wie der Ausschuss selbst dann allerdings auf den Lärm und das Bäumerütteln reagieren würde, war eine andere Frage. Georges Eindruck nach hatte Sir Arthur sehr harte Worte für den Umgang des Ministeriums mit Mr Yelvertons Memorandum gefunden, als er schrieb, etwas Absurderes und Ungerechteres könne er sich selbst in einem despotischen asiatischen Staat nicht vorstellen. Jemanden als despotisch anzuprangern war vielleicht nicht die beste Methode, wenn man ihn dazu bringen wollte, in Zukunft weniger despotisch zu sein. Und dann noch die Anklage gegen Royden Sharp …
»George! Ich bitte vielmals um Verzeihung. Wir wurden aufgehalten.«
Da steht er, und nicht allein. Er hat eine hübsche junge Frau mitgebracht, eine elegante und selbstbewusste Erscheinung, gekleidet in einen Grünton, dem George unmöglich einen Namen geben könnte. Eine Farbe, mit der sich nur Frauen auskennen. Sie lächelt ein wenig und streckt die Hand aus.
»Das ist Miss Jean Leckie. Wir waren … einkaufen.« Anscheinend fühlt er sich nicht ganz wohl in seiner Haut.
»Nein, Arthur, du hast geredet.« Ihr Tonfall ist freundlich, aber bestimmt.
»Nun, ich habe mit einem Ladenbesitzer gesprochen. Er hatte in Südafrika gedient, und es war nur höflich, ihn zu fragen …«
»Das ist trotzdem Reden und nicht Einkaufen.«
Dieses Gespräch verwirrt George.
»Wie Sie sehen, George, bereiten wir uns auf die Ehe vor.«
»Ich freue mich sehr, Sie kennenzulernen«, sagt Miss Jean Leckie mit breiterem Lächeln, sodass George ihre ziemlich großen Schneidezähne bemerkt. »Und nun muss ich gehen.« Sie nickt Arthur scherzhaft zu und ist verschwunden.
»Die Ehe«, sagt Arthur, als er sich im Schreibzimmer in einen Sessel fallen lässt. Das ist eigentlich keine Frage. Dennoch antwortet George darauf – und mit merkwürdiger Präzision.
»Das ist ein Stand, den ich anstrebe.«
»Nun, es kann ein verwirrender Stand sein, ich warne Sie. Das höchste Glück natürlich. Aber meist ein verdammt verwirrendes Glück.«
George nickt. Er ist anderer Meinung, muss aber zugeben, dass ihm die Beweise dafür fehlen. Die Ehe seiner Eltern würde er gewiss nicht als ein verdammt verwirrendes Glück bezeichnen. Eigentlich passt keins dieser drei Wörter auf das Leben im Pfarrhaus.
»Nun ja, kommen wir zur Sache.«
Sie erörtern die Artikel im Telegraph, das Echo, das diese ausgelöst haben, den Gladstone-Ausschuss sowie dessen Aufgaben und Zusammensetzung. Arthur überlegt, ob er Sir Albert de Rutzens Vetternschaft selbst entlarven oder einem Zeitungsredakteur in seinem Club einen Tipp geben oder die Sache einfach auf sich beruhen lassen soll. Er sieht George an und wartet auf eine spontane Meinung. Doch George hat keine spontane Meinung. Das mag daran liegen, dass er überaus schüchtern und nervös ist oder dass er ein Solicitor ist oder dass er Mühe hat, von der Rolle als Sir Arthurs Schützling auf die als Sir Arthurs taktischer Berater umzuschalten.
»Ich denke, in dieser Frage sollten Sie vielleicht Mr Yelverton zu Rate ziehen.«
»Aber ich ziehe Sie zu Rate«, erwidert Arthur, als wollte George nicht mit der Sprache herausrücken.
George ist der Meinung, falls das die richtige Bezeichnung ist für etwas, das ihm wie ein bloßes instinktives Gefühl vorkommt, dass die erste Möglichkeit zu provozierend ist, die dritte zu passiv, darum würde er alles in allem eher zu dem Mittelweg raten. Es sei denn, natürlich … und während er zu erneuten Überlegungen ansetzt, wird ihm Sir Arthurs Ungeduld bewusst. Das macht ihn, zugegeben, ein wenig nervös.
»Eins kann ich schon voraussagen, George. Der Bericht des Untersuchungsausschusses wird nicht offen und ehrlich verkündet werden.«
George überlegt, ob Arthur immer noch seine Ansicht zu der vorherigen Frage hören will. Vermutlich nicht. »Aber sie müssen ihn veröffentlichen.«
»Oh, das müssen sie, und das werden sie auch. Aber ich weiß, wie Regierungen funktionieren, vor allem, wenn sie blamiert oder beschämt worden sind. Sie werden den Bericht irgendwie verstecken. Wenn sie können, werden sie ihn in der Versenkung verschwinden lassen.«
»Wie sollte das gehen?«
»Nun, sie könnten ihn zum Beispiel an einem Freitagnachmittag herausbringen, wenn alle schon ins Wochenende aufgebrochen sind. Oder während der Parlamentsferien. Es gibt alle möglichen Tricks.«
»Aber wenn der Bericht gut ist, wirkt er sich doch günstig für sie aus.«
»Der Bericht kann nicht gut sein«, erklärt Arthur bestimmt. »Nicht von deren Standpunkt aus. Wenn der Bericht Ihre Unschuld bestätigt, wie es zwangsläufig der Fall sein wird, dann hat das Innenministerium in den letzten drei Jahren offenbar allen ihm vorgelegten Informationen zum Trotz wissentlich verhindert, dass Gerechtigkeit geschieht. Und in dem äußerst unwahrscheinlichen – ich würde sagen, unmöglichen – Fall, dass man Sie immer noch für schuldig befindet – und dies ist die einzige andere Möglichkeit –, wird es einen derart gewaltigen Stunk geben, dass Karrieren auf dem Spiel stehen.«
»Ja, ich verstehe.«
Sie reden nun schon etwa eine halbe Stunde miteinander, und Arthur wundert sich, dass George noch kein Wort zu seiner Anklage gegen Royden Sharp gesagt hat. Nein, er ist mehr als verwundert; er ist irritiert und kurz davor, beleidigt zu sein. Er überlegt so halb, ob er George nach diesem Bettelbrief fragen soll, den man ihm in Green Hall gezeigt hat. Doch nein, dann würde er Ansons Spiel für ihn spielen. Vielleicht geht George einfach davon aus, dass der Gastgeber die Tagesordnung bestimmt. Das muss es sein.
»Also«, sagt er. »Royden Sharp.«
»Ja«, antwortet George. »Ich habe ihn nicht gekannt, wie ich Ihnen bereits geschrieben habe. Wahrscheinlich war ich als kleiner Junge mit seinem Bruder auf der Schule. An den kann ich mich allerdings auch nicht erinnern.«
Arthur nickt. Na komm schon, Mann, denkt er. Ich habe nicht nur dich entlastet, ich habe auch den Täter fix und fertig präsentiert; jetzt braucht man ihn nur noch zu verhaften und vor Gericht zu stellen. Ist das nicht zumindest eine Neuigkeit für dich? Ganz gegen seine Art wartet er ab.
»Ich bin überrascht«, sagt George endlich. »Warum sollte er mir etwas Böses tun wollen?«
Arthur antwortet nicht. Er hat seine Antworten bereits gegeben. Er denkt, allmählich könnte George auch selbst etwas tun.
»Ich bin mir bewusst, dass Sie Rassenvorurteile für einen wesentlichen Faktor in dem Fall halten, Sir Arthur. Doch wie ich schon sagte, kann ich Ihnen nicht zustimmen. Sharp und ich, wir kennen uns nicht. Um eine Abneigung gegen jemanden zu haben, muss man ihn kennen. Und dann findet man den Grund für diese Abneigung. Und wenn man keinen hinreichenden Grund finden kann, schiebt man seine Abneigung vielleicht auf irgendeine Eigenart des anderen, wie etwa dessen Hautfarbe. Doch wie gesagt, Sharp kennt mich nicht. Ich habe mich zu erinnern versucht, ob ich womöglich etwas getan habe, das er als Kränkung oder Beleidigung aufgefasst haben könnte. Vielleicht ist er mit jemandem verwandt, den ich als Anwalt beraten habe …« Arthur äußert sich dazu nicht; er denkt, man kann das Offensichtliche nicht endlos wiederholen. »Und ich begreife nicht, warum er Vieh und Pferde derart verstümmeln wollte. Oder warum überhaupt jemand das wollte. Begreifen Sie das, Sir Arthur?«
»Wie ich in meiner Erklärung ausgeführt habe«, antwortet Arthur, der mit jeder Minute verdrießlicher wird, »vermute ich, dass der Neumond eine seltsame Wirkung auf ihn hat.«
»Schon möglich«, erwidert George. »Aber nicht alle Vorfälle geschahen am selben Punkt des Mondzyklus.«
»Das stimmt. Aber die meisten.«
»Ja.«
»Könnte man daraus nicht den einleuchtenden Schluss ziehen, dass die nicht in das Schema passenden Verstümmelungen begangen wurden, um die Ermittlungen bewusst in die Irre zu führen?«
»Ja, das könnte man.«
»Mr Edalji, ich habe Sie anscheinend nicht überzeugen können.«
»Verzeihen Sie, Sir Arthur, das liegt nicht daran, dass ich Ihnen nicht unendlich dankbar wäre; diesen Eindruck möchte ich auf keinen Fall erwecken. Vielleicht liegt es daran, dass ich ein Solicitor bin.«
»Das kann sein.« Vielleicht urteilt er zu streng. Doch es ist seltsam: Als hätte er ihm vom äußersten Ende der Welt einen Sack Gold mitgebracht und die Antwort bekommen: Ehrlich gesagt, Silber wäre mir lieber gewesen.
»Das Instrument«, sagt George. »Die Pferdelanzette.«
»Ja?«
»Darf ich fragen, woher Sie wissen, wie sie aussieht?«
»Ja, gern. Ich weiß es aus zwei Gründen. Erstens habe ich Mrs Greatorex gebeten, mir ein Bild davon zu zeichnen. Anhand dessen hat Mr Wood das Gerät als Pferdelanzette erkannt. Und zweitens …«, hier legt Arthur eine Kunstpause ein, »habe ich sie in meinem Besitz.«
»Sie haben sie?«
Arthur nickt. »Wenn Sie möchten, kann ich sie Ihnen zeigen.« George wirkt erschrocken. »Nicht hier. Keine Angst, ich habe sie nicht mitgebracht. Sie ist in Undershaw.«
»Darf ich fragen, wie sie in Ihren Besitz gekommen ist?«
Arthur streicht sich mit dem Finger über die Nase. Dann lässt er sich doch erweichen. »Wood und Harry Charlesworth sind darüber gestolpert.«
»Gestolpert?«
»Es war klar, dass die Waffe sichergestellt werden musste, bevor Sharp sie beseitigen konnte. Er wusste, dass ich in der Gegend und ihm auf der Spur war. Er hat sogar angefangen, mir solche Briefe zu schicken wie Ihnen damals. Hat mir die Entfernung lebenswichtiger Organe angedroht. Wenn er seinen Verstand noch einigermaßen beisammen hätte, dann hätte er das Instrument irgendwo vergraben, wo man es in hundert Jahren nicht finden würde. Darum habe ich Wood und Harry beauftragt, darüber zu stolpern.«
»Ich verstehe.« George hat ein Gefühl, als würde ein Mandant ihm im Vertrauen Dinge erzählen, die kein Mandant je einem Solicitor erzählen sollte, nicht einmal seinem eigenen – schon gar nicht seinem eigenen. »Und haben Sie Sharp befragt?«
»Nein. Ich glaube, das geht aus meiner Erklärung deutlich hervor.«
»Ja, natürlich. Verzeihen Sie.«
»Wenn Sie keine Einwände haben, werde ich also meine Anklage gegen Sharp mit den anderen Unterlagen zusammen beim Innenministerium einreichen.«
»Sir Arthur, ich kann gar nicht zum Ausdruck bringen, wie dankbar ich Ihnen bin …«
»Das sollen Sie auch nicht. Ich habe es nicht um Ihrer verfluchten Dankbarkeit willen getan, die Sie bereits hinreichend zum Ausdruck gebracht haben. Ich habe es getan, weil Sie unschuldig sind und weil ich mich dafür schäme, wie die Maschinerie der Justiz und Bürokratie dieses Landes arbeitet.«
»Dennoch hätte niemand sonst tun können, was Sie getan haben. Und noch dazu in vergleichsweise kurzer Zeit.«
Damit will er mir praktisch sagen, ich hätte das nur so hingepfuscht, denkt Arthur. Nein, sei nicht albern – er hat eben viel mehr Interesse an seiner eigenen Verteidigung, deren er sich absolut sicher sein will, als an der Verfolgung von Sharp. Was völlig verständlich ist. Man führt erst eine Sache zu Ende, bevor man sich an die nächste macht – was würde man von einem umsichtigen Juristen anderes erwarten? Ich dagegen greife an allen Fronten zugleich an. Er hat einfach Angst, dass ich den Ball aus den Augen verliere.
Später jedoch, als sie sich verabschiedet hatten und Arthur in einer Droschke zu Jeans Wohnung saß, kam er ins Grübeln. Wie hieß dieser Spruch? Der Mensch kann alles verzeihen, nur nicht die Hilfe, die man ihm erweist? Irgendwas in der Art. Und vielleicht galt das in einem Fall wie diesem erst recht. Als er sich über die Dreyfus-Affäre kundig gemacht hatte, war ihm aufgefallen, dass viele, die dem Franzosen zu Hilfe kamen, die sich mit Leidenschaft für ihn einsetzten, die diesen Fall nicht nur als einen großen Kampf zwischen Wahrheit und Lüge, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit begriffen, sondern meinten, der Fall sage etwas über das Land aus, in dem sie lebten, und charakterisiere es sogar – dass viele von denen gar nicht viel von Colonel Alfred Dreyfus hielten. Sie fanden ihn ausgesprochen langweilig, kühl und korrekt und nicht gerade von Dankbarkeit und Menschenfreundlichkeit überfließend. Jemand hatte geschrieben, das Opfer werde dem Mythos seiner Affäre nur selten gerecht. Ein sehr französischer Satz, aber nicht unbedingt ganz verkehrt.
Aber vielleicht war das genauso ungerecht. Bei seiner ersten Begegnung mit George Edalji war er davon beeindruckt gewesen, dass dieser eher zarte und empfindsame junge Mann drei Jahre Zuchthaus überstanden hatte. Vor lauter Verwunderung hatte er sicher nicht recht gewürdigt, was es George gekostet haben musste. Vielleicht konnte man das nur überleben, indem man sich von morgens bis abends voll und ganz auf die Details des eigenen Falls konzentrierte, an nichts anderes dachte, alle Fakten und Argumente parat hatte für den Fall, dass sie irgendwann einmal gebraucht wurden. Nur so konnte man eine ungeheuerliche Ungerechtigkeit und die erbärmliche Umkehrung aller Lebensgewohnheiten ertragen. Daher war es vielleicht zu viel verlangt, dass George Edalji so reagieren sollte wie ein freier Mann. Solange man ihn nicht begnadigt und entschädigt hatte, konnte er nicht wieder der Mensch sein, der er zuvor gewesen war.
Spar dir deinen Ärger für andere auf, dachte Arthur. George ist ein netter Kerl und ein unschuldiger Mann, doch es hat keinen Sinn, ihn zum Heiligen machen zu wollen. Mehr Dankbarkeit von ihm zu verlangen, als er geben kann, ist so, als sollte jeder Rezensent jedes neue Buch von dir zu einem genialen Meisterwerk erklären. Ja, spar dir deinen Ärger für andere auf. Für Captain Anson zum Beispiel, dessen Brief heute Morgen eine neue Unverschämtheit enthielt: Er weigert sich rundheraus zuzugeben, dass die Verstümmelungen von einer Pferdelanzette stammen könnten. Und als Krönung des Ganzen der abfällige Satz: »Sie haben mir da eine ganz gewöhnliche Lanzette aufgemalt.« Das war doch die Höhe! Mit dieser neuesten Provokation hatte Arthur George nicht behelligen wollen.
Und Willie Hornung ärgerte ihn genauso wie Anson. Sein Schwager hatte einen neuen Scherz, den Connie ihm bei einem Mittagessen weitererzählt hatte. »Was haben Arthur Conan Doyle und George Edalji gemeinsam? Na? Soll ich’s euch sagen? ›Ein hartes Urteil.‹« Arthur grummelte vor sich hin. Ein hartes Urteil – das fand er komisch? Objektiv gesehen konnte Arthur verstehen, dass manch einer das komisch finden mochte. Aber wirklich … Es sei denn, er verlor allmählich seinen Sinn für Humor. Wie es hieß, kam das mit zunehmendem Alter häufig vor. Nein – Unsinn. Und nun ärgerte er sich auch noch über sich selbst. Bestimmt wieder so eine Alterserscheinung.
Währenddessen saß George noch immer im Schreibzimmer des Grand Hotel. Er war niedergeschlagen. Er hatte sich Sir Arthur gegenüber schändlich unhöflich und undankbar benommen. Und das, nachdem dieser monatelang Arbeit in den Fall gesteckt hatte. George schämte sich. Er musste ihm schreiben und sich entschuldigen. Und dennoch … und dennoch … es wäre unehrlich gewesen, hätte er mehr gesagt. Oder vielmehr, hätte er mehr gesagt, hätte er ehrlich sein müssen.
Er hatte die Anklage gegen Royden Sharp gelesen, die Arthur an das Innenministerium schicken wollte. Selbstverständlich hatte er sie mehrmals gelesen. Und mit jedem Mal hatte sich sein Eindruck verfestigt. Er war zu dem Schluss – dem zwangsläufigen Schluss eines Juristen – gekommen, dass diese Erklärung seiner eigenen Position nicht förderlich sein würde. Obendrein war er der Meinung – die er bei ihrem Gespräch nie zu äußern gewagt hätte –, dass Sir Arthurs Anklage gegen Sharp eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der Anklage der Staffordshire Constabulary gegen ihn, Edalji, hatte.
Zunächst einmal gründeten sich beide in exakt derselben Weise auf die Briefe. Sir Reginald Hardy hatte in seiner Zusammenfassung in Stafford gesagt, wer die Briefe geschrieben habe, müsse auch das Vieh verstümmelt haben. Dieser Zusammenhang war von Mr Yelverton und denen, die sich für ihn eingesetzt hatten, ausdrücklich und zu Recht kritisiert worden. Und nun stellte Sir Arthur genau denselben Zusammenhang her. Er war von den Briefen ausgegangen und hatte mit ihrer Hilfe allüberall Royden Sharps Handschrift erkannt und seinen wechselnden Aufenthaltsorten nachgespürt. Die Briefe belasteten Sharp, genau wie sie vordem George belastet hatten. Nun kam man zu dem Schluss, Sharp und sein Bruder hätten die Briefe eigens geschrieben, um George in die Sache hineinzuziehen – aber warum konnten sie dann nicht ebenso gut von jemand anderem geschrieben worden sein, um Sharp in die Sache hineinzuziehen? Wenn sie beim ersten Mal falsch waren, warum sollten sie dann beim zweiten Mal echt sein?
Desgleichen hatte Sir Arthur nichts anderes vorzuweisen als Indizien, und das waren zum großen Teil Beweise vom Hörensagen. Eine Frau und ein Kind waren von einem Mann überfallen worden, der Royden Sharp gewesen sein könnte, nur war sein Name damals nicht gefallen, und es hatte keinerlei polizeiliche Maßnahmen gegeben. Mrs Greatorex hatte vor mindestens drei Jahren etwas gehört, das sie damals für sich behalten wollte, nun aber zur Sprache brachte, als von Royden Sharp die Rede war. Außerdem erinnerte sie sich an Gerede – oder Weiberklatsch – von Sharps Frau. Royden Sharp hatte als Schüler ausgesprochen schlechte Zeugnisse bekommen: Doch wenn das als hinreichender Beweis für kriminelle Absichten gälte, wären sämtliche Gefängnisse überfüllt. Angeblich hatte der Mond einen seltsamen Einfluss auf Royden Sharp – aber manchmal auch nicht. Des Weiteren wohnte Sharp in einem Haus, das man nachts leicht unbeobachtet verlassen konnte: Dasselbe galt für das Pfarrhaus und etliche andere Häuser in der Umgebung.
Und wenn das noch nicht reichte, um einem Solicitor den Mut zu nehmen, dann kam es noch schlimmer, viel schlimmer. Sir Arthurs einziges konkretes Beweisstück war die Pferdelanzette, die er nun in seinen Besitz gebracht hatte. Und was war ein Gegenstand, den man sich auf diese Weise angeeignet hatte, vor Gericht tatsächlich wert? Ein Dritter, nämlich Sir Arthur, hatte einen Vierten, nämlich Mr Wood, dazu angestiftet, widerrechtlich bei einem Fünften, Royden Sharp, einzudringen und einen Gegenstand zu stehlen, den er dann durch das halbe Königreich transportiert hatte. Dass er ihn nicht der Staffordshire Constabulary übergeben hatte, war verständlich, aber man hätte ihn bei einer geeigneten Person der Rechtspflege hinterlegen können. Bei einem Solicitor, zum Beispiel. So aber hatte Sir Arthur das Beweisstück kontaminiert. Selbst die Polizei wusste, dass sie entweder einen Durchsuchungsbeschluss oder aber die ausdrückliche und unmissverständliche Genehmigung des Haushaltsvorstands brauchte, ehe sie in ein Haus oder auf ein Grundstück eindringen durfte. George räumte ein, dass das Strafrecht nicht sein Fachgebiet war, doch wie ihm schien, hatte Sir Arthur einen Komplizen zum Diebstahl angestiftet und zugleich ein entscheidendes Beweisstück wertlos gemacht. Und womöglich konnte er von Glück sagen, wenn er keine Anzeige wegen Verabredung zur Begehung eines Diebstahls bekam.
So weit hatte Sir Arthurs Überschwang ihn getrieben. Und an allem war, wie George meinte, nur Sherlock Holmes schuld. Sir Arthur hatte sich zu sehr von seinem eigenen Geschöpf beeinflussen lassen. Holmes führte seine brillanten Deduktionen vor, und wenn er die Übeltäter dann den Behörden übergab, stand ihnen die Schuld eindeutig auf die Stirn geschrieben. Doch Holmes hatte noch nie in den Zeugenstand treten und zusehen müssen, wie seine Vermutungen und Eingebungen und makellosen Theorien von Leuten wie Mr Disturnal in stundenlanger Kleinarbeit zu allerfeinstem Staub zermahlen wurden. Sir Arthur war sozusagen auf ein Feld gegangen, auf dem sich womöglich die Fußspuren des Täters befanden, war dort überall herumgetrampelt und hatte dabei noch mehrere verschiedene Stiefel getragen. In seinem Eifer hatte er eine Anklage gegen Royden Sharp vorgebracht, die er gleichzeitig selbst zunichte machte. Und schuld daran war Mr Sherlock Holmes.