Arthur

Arthurs Wut hat stetig zugenommen, seit sich die Tür von Green Hall hinter ihm geschlossen hat. Der erste Teil seiner Rückreise nach Hindhead trug wenig dazu bei, diesen Zorn abklingen zu lassen. Die Strecke Walsall, Cannock & Rugeley der London & North Western Railway war eine einzige Folge von Provokationen: von Stafford, wo George verurteilt wurde, über Rugeley, wo er zur Schule gegangen war, Hednesford, wo er angeblich gedroht hatte, Sergeant Robinson in den Kopf zu schießen, Cannock, wo diese Idioten von Laienrichtern ihn an die nächste Instanz überwiesen hatten, Wyrley & Churchbridge, wo alles angefangen hatte, dann an Feldern entlang, auf denen womöglich Blewitts Pferde weideten, ging es über Walsall, wo mit Sicherheit der Ursprung der Verschwörung zu finden war, nach Birmingham, wo George festgenommen worden war. Jede Station an der Strecke gab ihm etwas zu verstehen, und die Botschaft war immer gleich und stammte aus Ansons Feder: Ich und meinesgleichen sind hier die Herren über das Land und die Menschen und die Gerechtigkeit.

Jean hat ihn noch nie so aufgebracht gesehen. Es ist heller Nachmittag, und Arthur lässt das Teegeschirr klirren, während er seine Geschichte erzählt.

»Und weißt du, was er noch gesagt hat? Er hat doch glatt behauptet, es würde meinem Ruf nicht gut tun, meine … meine amateurhaften Spekulationen weiter zu verbreiten. Mit solcher Herablassung hat mich kein Mensch mehr behandelt, seit ich als mittelloser Arzt in Southsea einen reichen Patienten davon überzeugen wollte, dass er vollkommen gesund sei, während er darauf beharrte, er stehe an der Schwelle des Todes.«

»Und was hast du dann gemacht? In Southsea, meine ich.«

»Was ich gemacht habe? Ich habe ihm noch einmal versichert, dass er kerngesund sei, er hat erwidert, er bezahle keinen Arzt dafür, dass der ihm so etwas sage, also habe ich ihm geraten, sich einen anderen Spezialisten zu suchen, der ihm jedes Leiden diagnostizieren würde, das er sich einzubilden beliebe.«

Jean lacht über diese Szene, wobei in ihrer Belustigung auch ein wenig Bedauern mitschwingt, dass sie nicht dabei war, nie hätte dabei sein können. Sicher, die Zukunft liegt vor ihnen, doch auf einmal stört es sie, dass sie nicht auch einen kleinen Anteil an der Vergangenheit hat.

»Was willst du jetzt machen?«

»Ich weiß genau, was ich mache. Anson glaubt, ich hätte dieses Dossier in der Absicht zusammengestellt, es an das Innenministerium zu schicken, wo es verstaubt und dann ganz nebenbei in irgendeinem internen Bericht kurz erwähnt wird, der schließlich herauskommt, wenn wir alle längst tot sind. Ich denke nicht daran, dieses Spiel mitzuspielen. Ich werde meine Erkenntnisse so weit verbreiten, wie es nur geht. Im Zug habe ich mir alles überlegt. Ich biete meinen Bericht dem Daily Telegraph an, der ihn sicherlich mit dem größten Vergnügen abdruckt. Aber ich tue noch mehr. Ich lasse den Vermerk »Nachdruck gestattet« dazusetzen, sodass andere Zeitungen – und vor allem die in den Midlands – ihn in voller Länge und unentgeltlich übernehmen können.«

»Wunderbar. Und so großzügig.«

»Darum geht es nicht. Es geht darum, die größtmögliche Wirkung zu erzielen. Außerdem stelle ich jetzt Captain Ansons Rolle in dem Fall, sein voreingenommenes Agieren von Anfang an, klar und deutlich heraus. Wenn er meine amateurhaften Spekulationen über sein Treiben hören will, soll er sie haben. Er kann sie auch vor Gericht hören, falls er mich wegen Verleumdung verklagen will. Und es kann sehr gut sein, dass er am Ende seine berufliche Zukunft neu überdenken muss.«

»Arthur, darf ich …«

»Ja, meine Liebe?«

»Vielleicht ist es ratsam, keinen persönlichen Rachefeldzug gegen Captain Anson aus dem Fall zu machen.«

»Warum denn nicht? Ein großer Teil des Unheils geht auf ihn zurück.«

»Ich meine, liebster Arthur, du darfst dich von Captain Anson nicht von deinem eigentlichen Ziel ablenken lassen. Sonst wäre Captain Anson nämlich der Erste, der höchst zufrieden ist.«

Arthur sieht sie mit Stolz und Freude an. Ein nützlicher Hinweis, und ein verdammt kluger noch dazu.

»Du hast völlig recht. Ich werde Anson nicht mehr zusetzen, als es Georges Interessen dient. Aber er soll auch nicht ungeschoren davonkommen. Und mit dem zweiten Teil meiner Ermittlungen beschäme ich ihn und seine gesamte Polizeitruppe. Es zeichnet sich allmählich ab, wer der Täter war, und wenn ich zeigen kann, dass der von Anfang an direkt vor Ansons Nase saß und er nichts unternommen hat, was bleibt ihm dann anderes übrig, als sein Amt niederzulegen? Wenn ich diese Sache zu Ende gebracht habe, ist die Staffordshire Constabulary durch mein Zutun von oben bis unten neu organisiert. Volle Kraft voraus!«

Er sieht Jeans Lächeln, das ihm voller Bewunderung wie auch Nachsicht zu sein scheint, eine höchst wirksame Kombination.

»Und da wir gerade dabei sind, mein Liebling, ich finde wirklich, wir sollten ein Datum für die Hochzeit festsetzen. Sonst halten die Leute dich noch für eine Frau, die hemmungslos flirtet!«

»Mich, Arthur? Mich?«

Er lacht und greift nach ihrer Hand. Volle Kraft voraus, denkt er, sonst explodiert noch der ganze Kesselraum.

Daheim in Undershaw griff Arthur zur Feder und rechnete mit Anson ab. Dieser Brief an den Pfarrer: »Ich bin zuversichtlich, dass ich dem Täter eine gehörige Zuchthausstrafe verschaffen kann« – hatte es jemals eine derart krasse Vorverurteilung durch eine hochgestellte Amtsperson gegeben? Arthur spürte, wie der Zorn in ihm aufwallte, während er diese Worte erneut abschrieb; aber er spürte auch das Besänftigende von Jeans Ratschlag. Er musste das tun, was George am meisten nützte; er musste Verleumdungen vermeiden; zugleich musste er ein vernichtendes Urteil über Anson fällen. So verächtlich hatte man ihn lange nicht mehr behandelt. Nun, Anson würde schon merken, was das für ein Gefühl war.

Zwar [so begann er] hege ich keinerlei Zweifel daran, dass Captain Ansons Abneigung gegen George Edalji vollkommen aufrichtig und er sich seines Vorurteils nicht bewusst war. Es wäre töricht, etwas anderes anzunehmen. Doch ein Mann in seiner Position hat kein Recht auf solche Gefühle. Dazu ist er zu mächtig, sind andere zu schwach, sind die Folgen zu entsetzlich. Der Verlauf der Ereignisse hat mir gezeigt, dass diese Abneigung des Chief Constable immer weitere Kreise zog, bis die gesamte Polizeitruppe davon durchdrungen war, und als die Polizei dann George Edalji hatte, ließ sie ihm nicht die elementarste Gerechtigkeit widerfahren.

Vor dem Verfahren, während des Verfahrens, aber auch danach: Ansons Arroganz war ebenso grenzenlos wie seine Vorurteile.

Welche Berichte Captain Ansons späterhin verhinderten, dass im Innenministerium Gerechtigkeit geübt wurde, weiß ich nicht, aber eins weiß ich – statt einen Mann, der am Boden liegt, in Ruhe zu lassen, wurde nach seiner Verurteilung jede erdenkliche Anstrengung unternommen, um ihn wie auch seinen Vater zu verunglimpfen, was allen zur Abschreckung dienen sollte, die diesem Fall womöglich nachgehen wollten. Als Mr Yelverton sich der Sache annahm, erhielt er umgehend einen von Captain Anson unterzeichneten und vom 8. November 1903 datierten Brief, in dem es hieß: »Es ist nur recht und billig, Ihnen mitzuteilen, dass jeder Versuch zu beweisen, George Edalji könne sich aufgrund seiner Position und seines angeblich guten Charakters nicht des Verfassens beleidigender und abscheulicher Briefe schuldig gemacht haben, reine Zeitverschwendung wäre. Sein Vater ist sich seiner Neigung hinsichtlich des Schreibens anonymer Briefe ebenso bewusst wie ich, und verschiedene andere Personen haben diesbezüglich eigene Erfahrungen gemacht.«

Nun erklären sowohl Edalji als auch sein Vater unter Eid, dass Ersterer in seinem Leben niemals einen anonymen Brief geschrieben hat, und als Mr Yelverton um die Namen der »verschiedenen anderen Personen« nachsuchte, erhielt er keine Antwort. Man bedenke, dass dieser Brief unmittelbar nach der Verurteilung geschrieben wurde und dem Zweck diente, jedes Bestreben, Gnade walten zu lassen, im Keim zu ersticken. Das lässt sich sicher damit vergleichen, dass man weiter auf einen bereits am Boden liegenden Mann eintritt.

Wenn Anson damit nicht erledigt ist, dachte Arthur, dann kann ihn nichts erledigen. Er malte sich die Leitartikel in den Zeitungen aus, die Anfragen im Parlament, eine gewundene Verlautbarung des Innenministeriums und vielleicht eine ausgedehnte Auslandsreise, bis dann ein behaglicher, aber weit entfernter Posten für den ehemaligen Chief Constable gefunden würde. Auf den Westindischen Inseln vielleicht. Das wäre traurig für Mrs Anson, die Arthur als anregende Tischgenossin erlebt hatte. Doch sie würde die rechtmäßige Demütigung ihres Gatten zweifellos besser verwinden, als Georges Mutter die unrechtmäßige Demütigung ihres Sohns hatte verwinden können.

Der Daily Telegraph druckte Arthurs Erkenntnisse in zwei Folgen ab, am 11. und 12. Januar. Die Artikel waren gut aufgemacht, und die Setzer hatten sich von ihrer besten Seite gezeigt. Arthur las alles noch einmal von Anfang an durch, bis hin zu dem donnernden Schluss:

Wir stehen vor verschlossenen Türen. Nun wenden wir uns an das allerhöchste Gericht, ein Gericht, das sich niemals irrt, wenn die Tatsachen offen vor ihm ausgebreitet werden, und wir fragen die Bevölkerung von Großbritannien, ob das so weitergehen soll.

Das Echo auf die Artikel war überwältigend. Der Telegrammbote hätte den Weg nach Undershaw bald mit verbundenen Augen gefunden. Barrie, Meredith und andere von der schreibenden Zunft sagten ihre Unterstützung zu. Die Debatte über Georges Sehkraft und das Versäumnis der Verteidigung, dies geltend zu machen, nahm die gesamte Leserbriefseite des Telegraph ein. Hier meldete sich auch Georges Mutter selbst zu Wort:

Ich habe den mit der Verteidigung beauftragten Solicitor immer wieder auf die extreme Kurzsichtigkeit meines Sohnes angesprochen, die er von Kindheit an hat. Für mich war das ein unmittelbarer und ausreichender Beweis, falls es sonst keinen gegeben hätte, dass er des Nachts nicht zu dem Feld hätte gehen können, ist doch die sogenannte »Landstraße« selbst für Menschen mit guten Augen unmöglich. Ich war davon so überzeugt, dass es mich sehr betrübte, als mir bei meiner Zeugenaussage keine Gelegenheit geboten wurde, von seinem Sehfehler zu sprechen. Es wurde mir nur sehr wenig Zeit zugestanden, und ich vermute, der Fall hatte die Menschen bereits ermüdet … Das Sehvermögen meines Sohns ist seit jeher so beeinträchtigt, dass er sich beim Schreiben immer tief über das Papier beugte und sich ein Buch oder eine Zeitung ganz dicht vor die Augen hielt, und bei Spaziergängen erkannte er andere nur mit Mühe. Wenn ich irgendwo mit ihm verabredet war, meinte ich immer, ich müsse nach ihm Ausschau halten, nicht er nach mir.

Andere Briefe forderten, dass nach Elizabeth Foster gesucht werde, sezierten den Charakter von Captain Anson und ließen sich über die Verbreitung von Banden in Staffordshire aus. Ein Briefeschreiber erläuterte, wie leicht Pferdehaare sich aus dem Futter eines Mantels lösen können. Es kamen Briefe von einem Fahrgast, der immer mit George im Zug gesessen hatte, von einem »Beobachter« aus Hampstead NW und einem »Freund der Parsen«. Herr Dr. med. (Cantab.) Aroon Chunder Dutt machte darauf aufmerksam, dass das Verstümmeln von Vieh ein dem asiatischen Naturell vollkommen fremdes Verbrechen sei. Dr. med. Chowry Muthu, New Cavendish Street, wies die Leser darauf hin, dass ganz Indien den Fall verfolge und der gute Name sowie die Ehre Englands auf dem Spiel stünden.

Drei Tage nach Erscheinen des zweiten Telegraph – Artikels wurden Arthur und Mr Yelverton im Innenministerium von Mr Gladstone, Sir Mackenzie Chambers und Mr Blackwell empfangen. Es wurde vereinbart, die Unterredung als vertraulich zu betrachten. Das Gespräch dauerte eine Stunde. Hinterher erklärte Sir A. Conan Doyle, man habe ihm und Mr Yelverton einen freundlichen und aufgeschlossenen Empfang bereitet, und er sei gewiss, das Ministerium werde alles in seinen Kräften Stehende zur Klärung der Angelegenheit unternehmen.

Die Nachdruckerlaubnis trug dazu bei, dass der Artikel nicht nur bis in die Midlands, sondern in der ganzen Welt Verbreitung fand. Arthurs Zeitungsausschnittsbüro hatte alle Hände voll zu tun, und er gewöhnte sich an die immer wiederkehrende Schlagzeile, aus der er ein und dasselbe Verb in vielen verschiedenen Sprachen lernte: SHERLOCK HOLMES ERMITTELT. Mit jeder Post trafen Schreiben der Unterstützung – und bisweilen des Widerspruchs – ein. Phantastische Lösungen des Falls wurden unterbreitet: Zum Beispiel sei die Verfolgung der Edaljis von anderen Parsen zur Strafe für Shapurjis Abtrünnigkeit betrieben worden. Und es kam natürlich wieder ein Brief in einer mittlerweile wohlvertrauten Handschrift:

Ich weiß von einem Polizisten von Scotland Yard wenn Sie an Gladstone schreiben dass Sie Edalji doch für schuldig halten werden Sie nächstes Jahr zum Lord gemacht. Ist es nicht besser ein Lord zu sein als Gefahr zu laufen Niere und Leber zu verlieren. Denken Sie an all die mackabren Morde die es gibt warum sollten Sie dann davonkommen?

Arthur bemerkte den Rechtschreibfehler, fand, er habe seinem Mann Dampf gemacht, und drehte das Blatt um:

Der Beweis für das was ich Ihnen sage liegt in dem Schreiben das er in die Zeitungen gesetzt hat als sie ihn aus dem Gefängnis entlassen haben wo er hätte bleiben sollen mitsamt seinem Papa und allen schwarzen und gelbhäutigen Juden. Niemand könnte seine Schrift so nachmachen, Sie blinder Trottel.

Diese plumpe Provokation bestätigte nur, wie notwendig es war, an allen Fronten energisch weiterzukämpfen. Er durfte nicht nachlassen in seinen Bemühungen. Mr Mitchell schrieb, Milton habe in der Tat in dem für Sir Arthur relevanten Zeitraum auf dem Lehrplan der Schule von Walsall gestanden; er dürfe jedoch hinzufügen, dass der große Dichter in den Schulen Staffordshires gelehrt worden sei, solange die ältesten Lehrer zurückdenken könnten, und auch weiterhin gelehrt werde. Harry Charlesworth teilte mit, er habe den einstigen Klassenkameraden von Brookes Sohn aufgespürt, Fred Wynn, der jetzt Anstreicher in Cheslyn Hay sei, und er wolle ihn nach Speck befragen. Drei Tage darauf traf ein Telegramm mit einer abgesprochenen Formel ein: einladung essen hednesford dienstag charlesworth stopp.

Harry Charlesworth holte Sir Arthur und Mr Wood am Bahnhof von Hednesford ab und führte sie zu einem Gasthaus namens Rising Sun. Dort stellte er ihnen einen hoch aufgeschossenen jungen Mann mit Zelluloidkragen und ausgefransten Manschetten vor. Auf einem seiner Jackenärmel waren weißliche Flecken, die Arthur jedoch nicht für Pferdespeichel oder Reste von Brot und Milch hielt

»Erzähl ihnen, was du mir erzählt hast«, sagte Harry.

Wynn sah die Fremden vielsagend an und klopfte an sein Glas. Arthur ließ Wood die notwendige Aufmunterung für den Kehlkopf ihres Informanten holen.

»Ich war mit Speck zusammen auf der Schule«, begann er. »Er hat immer zu den Schlechtesten in der Klasse gehört. Hat ständig irgendwas angestellt. Einmal hat er im Sommer einen Heuschober in Brand gesteckt. Hat gern Tabak gekaut. Eines Abends saß ich mit Brookes zusammen im Zug, und da ist Speck in unser Abteil gekommen, bis ans Ende des Wagens gerannt und hat den Kopf gegen die Fensterscheibe geschlagen, bis sie in Stücke sprang. Er hat nur darüber gelacht, was er da angerichtet hatte. Dann sind wir alle in ein anderes Abteil umgestiegen.

Ein paar Tage später ist dann die Bahnpolizei gekommen und hat gesagt, wir würden angezeigt, weil wir das Fenster kaputt gemacht hätten. Wir haben beide gesagt, das war Speck, darum musste er das bezahlen, und dann haben sie ihn auch noch erwischt, wie er die Fenstergurte abgeschnitten hat, und die musste er auch bezahlen. Dann hat Brookes Papa Briefe bekommen, in denen stand, Brookes und ich hätten auf dem Bahnhof von Walsall eine alte Dame angespuckt. Der hat immer Unfug gemacht, dieser Speck. Er wurde dann von der Schule genommen. Ich weiß nicht mehr, ob das ein regelrechter Verweis war, aber so gut wie.«

»Und was ist aus ihm geworden?«, fragte Arthur.

»Ein, zwei Jahre später hab ich gehört, dass man ihn zur See geschickt hatte.«

»Zur See? Sind Sie sicher? Vollkommen sicher?«

»Nun ja, so hieß es. Auf jeden Fall war er verschwunden.«

»Wann war das denn?«

»Wie gesagt, ein, zwei Jahre später. Den Heuschober hat er wohl so um 1892 herum angezündet, würde ich meinen.«

»Dann wäre er also Ende 95, Anfang 96 zur See gegangen?«

»Das kann ich nicht sagen.«

»Ungefähr?«

»Ich kann’s nicht genauer sagen als eben schon.«

»Wissen Sie noch, von welchem Hafen er ausgelaufen ist?«

Wynn schüttelte den Kopf.

»Oder wann er zurückgekommen ist? Falls er zurückgekommen ist?«

Wieder schüttelte Wynn den Kopf. »Charlesworth hat gesagt, das würde Sie interessieren.« Er klopfte noch einmal an sein Glas. Diesmal ignorierte Arthur die Aufforderung.

»Es interessiert mich auch, Mr Wynn, aber Sie werden mir die Bemerkung verzeihen, dass es da ein Problem mit Ihrer Geschichte gibt.«

»Ach ja?«

»Sie waren auf der Schule von Walsall?«

»Ja.«

»Und Brookes auch?«

»Ja.«

»Und Speck auch?«

»Ja.«

»Wie erklären Sie sich dann, dass Mr Mitchell, der jetzige Rektor, mir versichert, es habe in den letzten zwanzig Jahren keinen Jungen dieses Namens auf der Schule gegeben?«

»Ah, ich verstehe«, sagte Wynn. »Wir haben ihn nur Speck genannt. Er war ein kleiner Wicht, kein bisschen Speck auf den Rippen. Vielleicht kam der Spitzname daher. Nein, sein richtiger Name war Sharp.«

»Sharp?«

»Royden Sharp.«

Arthur nahm Mr Wynns Glas und reichte es seinem Sekretär. »Vielleicht noch was dazu, Mr Wynn? Einen Schluck Whisky oder so?«

»Also, das wäre sehr nobel von Ihnen, Sir Arthur. Sehr nobel. Und vielleicht dürfte ich Sie auch um einen Gefallen bitten.« Er griff in einen kleinen Knappsack, und als Arthur das Rising Sun verließ, hatte er ein halbes Dutzend literarischer Skizzen über das Landleben – »Ich dachte, ich nenne sie ›Vignetten‹« – unter dem Arm und versprochen, sich ein Urteil über ihren künstlerischen Wert zu bilden.

»Royden Sharp. Das ist ja ein ganz neuer Name. Wie können wir den finden? Haben Sie eine Idee, Harry?«

»O ja«, sagte Harry. »Ich wollte in Wynns Gegenwart nicht davon anfangen, sonst hätte er noch das ganze Lokal leer getrunken. Ich kann Ihnen da einen Tipp geben. Er war das Mündel von Mr Greatorex.«

»Greatorex!«

»Es gab zwei Sharp-Brüder, Wallie und Royden. Einer von beiden ist mit George und mir zur Schule gegangen, ich weiß allerdings nach so langer Zeit nicht mehr, welcher. Aber Mr Greatorex kann Ihnen Näheres erzählen.«

Sie fuhren zwei Stationen zurück nach Wyrley & Churchbridge und gingen dann zu Fuß zur Littleworth Farm. Mr und Mrs Greatorex waren ein nettes, umgängliches Ehepaar in den späten mittleren Jahren, gastfreundlich und direkt. Arthur hatte den Eindruck, dass sich hier endlich einmal nicht alles um Bier und Stiefelkratzer drehen würde und man nicht hin und her rechnen musste, ob zwei Shilling und Threepence oder zwei Shilling und Fourpence ein angemessener Preis für die Auskünfte war.

»Wallie und Royden Sharp waren die Söhne meines Pächters Peter Sharp«, begann Mr Greatorex. »Es waren ziemlich wilde Jungen. Nein, das ist vielleicht ungerecht. Royden war ein wilder Junge. Ich weiß noch, dass sein Vater einmal einen Heuschober bezahlen musste, den Royden in Brand gesteckt hatte. Wallie war eher seltsam als wild.

Royden wurde von der Schule verwiesen – von der in Walsall. Sie waren beide auf einer Schule. Royden muss wohl faul und zerstörungswütig gewesen sein, auch wenn ich die Geschichte nie ganz erfahren habe. Peter hat ihn dann auf die Schule in Wisbech geschickt, aber das ließ sich auch nicht besser an. Deshalb hat er ihn bei einem Schlachter in die Lehre gegeben, Meldon hieß der, glaube ich, in Cannock. Ab Ende 93 habe ich mich selbst um ihn gekümmert. Der Vater lag im Sterben und hat mich gebeten, Royden in meine Obhut zu nehmen. Das war das Mindeste, was ich tun konnte, und selbstverständlich habe ich Peter alles versprochen, was in meinen Kräften stand. Ich habe mein Bestes getan, aber Royden war einfach nicht zu bändigen. Nichts als Scherereien. Diebstahl, Sachbeschädigung, fortwährendes Lügen … er hielt es auf keiner Arbeitsstelle aus. Am Ende habe ich gesagt, er kann zwischen zwei Möglichkeiten wählen. Entweder ich streiche ihm seinen monatlichen Wechsel und zeige ihn bei der Polizei an, oder er fährt zur See.«

»Wir wissen, wie er sich entschieden hat.«

»Also habe ich ihm eine Passage als Schiffsjunge auf der General Roberts besorgt, die der Reederei Lewis Davies & Co gehörte.«

»Wann war das?«

»Ende 1895. Am Ende der Jahres. Ich glaube, das Schiff lief am 30. Dezember aus.«

»Und von welchem Hafen, Mr Greatorex?« Obwohl Arthur die Antwort schon kannte, beugte er sich erwartungsvoll vor.

»Liverpool.«

»Und wie lange ist er auf der General Roberts geblieben?«

»Nun, da hat er es ausnahmsweise einmal länger ausgehalten. Vier Jahre später hatte er seine Ausbildung abgeschlossen und sein Patent als dritter Maat gemacht. Dann ist er nach Hause gekommen.«

»Das wäre dann 1903

»Nein, nein. Früher. 1901, ganz bestimmt. Er ist aber nicht lange geblieben und hat dann auf einem Viehtransporter zwischen Liverpool und Amerika angeheuert. Da hat er zehn Monate gedient. Und danach ist er für immer nach Hause gekommen. Das muss wohl 1903 gewesen sein.«

»Ein Viehtransporter, was Sie nicht sagen. Und wo ist er jetzt?«

»In demselben Haus, in dem sein Vater gewohnt hat. Aber er hat sich sehr verändert. Er ist ja jetzt auch verheiratet.«

»Hatten Sie je den Verdacht, er oder sein Bruder könnten die Briefe im Namen Ihres Sohns geschrieben haben?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Ich hatte keinen Grund dazu. Und ich hätte gedacht, dafür ist er zu faul und hat vielleicht nicht genügend Phantasie.«

»Und – lassen Sie mich raten – hatten sie noch einen kleineren Bruder – einen Jungen mit einer recht unflätigen Ausdrucksweise vielleicht?«

»Nein, nein. Sie waren nur zu zweit.«

»Oder einen jungen Kameraden dieser Art, der oft mit ihnen zusammen war?«

»Nein. Überhaupt nicht.«

»Ich verstehe. Und hatte Royden Sharp etwas gegen Sie als Vormund?«

»Oft ja. Er sah nicht ein, warum ich ihm nicht alles Geld aushändigen wollte, das sein Vater ihm hinterlassen hatte. Viel war es ja nicht. Darum wollte ich erst recht verhindern, dass er es verschwendet.«

»Der andere Junge – Wallie – war der Ältere?«

»Ja, er wäre jetzt um die Dreißig.«

»Dann sind Sie wohl mit dem zusammen in die Schule gegangen, Harry?« Charlesworth nickte. »Sie sagten, er sei seltsam gewesen. In welcher Weise?«

»Seltsam. Nicht ganz von dieser Welt. Genauer kann ich es nicht ausdrücken.«

»Gab es Anzeichen von religiösem Wahn?«

»Nicht, dass ich wüsste. Wallie war gescheit. Ein kluges Köpfchen.«

»Hat er in der Schule von Walsall Milton gelesen?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Und nach der Schule?«

»Er war eine Zeit lang bei einem Elektro-Ingenieur in der Lehre.«

»Was ihm erlaubt hätte, in die Nachbarstädte zu fahren?«

Mr Greatorex nahm diese Frage verständnislos auf. »Natürlich. Wie viele andere Männer auch.«

»Und … wohnen die Brüder noch zusammen?«

»Nein, Wallie ist vor ein, zwei Jahren ins Ausland gegangen.«

»Wohin?«

»Nach Südafrika.«

Arthur sah seinen Sekretär an. »Warum gehen auf einmal alle nach Südafrika? Hätten Sie eine Adresse von ihm dort, Mr Greatorex?«

»Vielleicht hatte ich mal eine. Wir haben allerdings gehört, er sei verstorben. Erst vor kurzem. Letzten November.«

»Aha. Wie schade. Und das Haus, in dem sie miteinander wohnten, in dem Royden noch immer wohnt …«

»Ich kann Sie hinführen.«

»Nein, noch nicht. Meine Frage ist … liegt es abgeschieden?«

»Ziemlich. Wie viele andere auch.«

»Man könnte also ein und aus gehen, ohne dass Nachbarn es bemerken?«

»O ja.«

»Und man hat leichten Zugang zum freien Land?«

»Allerdings. Gleich dahinter sind offene Felder. Aber das ist bei vielen Häusern so.«

»Sir Arthur.« Es war das erste Mal, dass Mrs Greatorex etwas sagte. Als Arthur sich ihr zuwandte, sah er, dass ihr die Röte ins Gesicht gestiegen war, und sie schien erregter als bei Arthurs Ankunft. »Sie verdächtigen ihn, nicht wahr? Oder alle beide?«

»Die Beweise häufen sich, um das Mindeste zu sagen, Ma’am.«

Arthur machte sich darauf gefasst, dass Mrs Greatorex getreulich protestieren und sich weigern würde, seine Verdächtigungen und Verleumdungen hinzunehmen.

»Dann sollte ich Ihnen wohl erzählen, was ich weiß. Vor etwa dreieinhalb Jahren – es war im Juli, daran erinnere ich mich noch, in dem Juli, bevor sie George Edalji festgenommen haben – kam ich eines Nachmittags am Haus der Sharps vorbei und ging hinein. Wallie war fort, aber Royden war zu Hause. Wir sprachen über die Verstümmelungen – alle sprachen damals darüber. Nach einer Weile ging Royden an einen Küchenschrank und zeigte mir … ein Gerät. Hielt es vor mich hin. Er sagte: ›Damit bringt man Vieh um.‹ Mir wurde vom bloßen Anblick übel, darum sagte ich, er solle es wegtun. Ich sagte: ›Du willst doch nicht, dass man denkt, du wärst es gewesen, nicht wahr?‹ Und dann hat er es wieder in den Schrank getan.«

»Warum hast du mir nichts davon erzählt?«, fragte ihr Mann.

»Ich dachte, es gibt schon genug Gerede, und wollte nicht noch mehr Gerüchte in die Welt setzen. Und ich wollte den ganzen Vorfall einfach vergessen.«

Arthur nahm sich zusammen und fragte in neutralem Ton: »Sie haben nicht daran gedacht, das der Polizei zu erzählen?«

»Nein. Nachdem ich meinen Schreck überwunden hatte, machte ich einen Spaziergang und dachte über die Sache nach. Und ich kam zu dem Schluss, dass Royden nur angeben wollte. Er tat so, als wisse er etwas. Er hätte mir das Ding wohl kaum gezeigt, wenn er es selbst gewesen wäre, nicht wahr? Und ich kannte ihn doch schon mein Leben lang. Er war etwas wild, wie mein Mann schon sagte, doch nachdem er auf See war, hatte er sich gefangen. Er hatte sich verlobt und wollte heiraten. Nun, inzwischen ist er verheiratet. Aber er war der Polizei bekannt, und ich dachte, wenn ich hingehe und denen das erzähle, dann hängen sie ihm ein Verfahren an, egal, welche Beweise es gibt.«

Ja, dachte Arthur; und weil du geschwiegen hast, haben sie stattdessen George ein Verfahren angehängt.

»Ich begreife trotzdem nicht, warum du mir nichts davon erzählt hast«, sagte Mr Greatorex.

»Weil – weil du immer strenger zu dem Jungen warst als ich. Und ich wusste, du würdest voreilige Schlüsse ziehen.«

»Schlüsse, die wahrscheinlich ganz richtig gewesen wären«, antwortete er mit einiger Schärfe.

Arthur mischte sich wieder ein. Ihren Ehestreit konnten sie später ausfechten. »Mrs Greatorex, was für ein … Gerät war das denn?«

»Die Klinge war etwa so lang.« Sie zeigte es: also ungefähr dreißig Zentimeter. »Und sie ließ sich in ein Gehäuse einklappen, wie ein riesengroßes Taschenmesser. Es war kein landwirtschaftliches Gerät. Aber das Schrecklichste war die Klinge. Sie hatte eine Wölbung.«

»Sie meinen so wie ein Krummsäbel? Oder wie eine Sichel?«

»Nein, nein, die Klinge selbst war gerade, und die Spitze war überhaupt nicht scharf. Aber gegen Ende hin war ein Teil nach außen gewölbt, und das sah äußerst scharf aus.«

»Könnten Sie es uns aufzeichnen?«

»Aber sicher.« Mrs Greatorex zog eine Küchenschublade auf und zeichnete freihändig und ohne zu zögern eine Skizze auf ein Blatt liniertes Papier:

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»Hier ist es stumpf, und da auch, in dem geraden Teil. Und da, an der Wölbung, ist es entsetzlich scharf.«

Arthur sah die anderen an. Mr Greatorex und Harry schüttelten den Kopf. Alfred Wood drehte die Zeichnung zu sich herum und sagte: »Ich wette zwei zu eins, dass das eine Pferdelanzette ist. Eine ziemlich große. Ich vermute, er hat sie auf dem Viehtransporter gestohlen.«

»Siehst du«, sagte Mrs Greatorex. »Dein Freund zieht sofort voreilige Schlüsse. Genau wie die Polizei es getan hätte.«

Dieses Mal konnte Arthur sich nicht zurückhalten. »Stattdessen hat sie voreilige Schlüsse über George Edalji gezogen.« Diese Bemerkung trieb Mrs Greatorex wieder die Röte ins Gesicht. »Und verzeihen Sie die Frage, Ma’am, aber haben Sie nicht daran gedacht, der Polizei später von diesem Gerät zu berichten – als George angeklagt wurde?«

»Ich habe daran gedacht, ja.«

»Aber nichts getan.«

»Sir Arthur«, erwiderte Mrs Greatorex. »Ich kann mich nicht erinnern, dass Sie zur Zeit der Verstümmelungen hier in der Gegend waren. Es herrschte allgemeine Hysterie. Es gab Gerüchte über diesen und jenen. Gerüchte über eine Great-Wyrley-Bande. Gerüchte, nach den Tieren würde sie sich junge Frauen vornehmen. Gerede über heidnische Opfer. Manche sagten, es habe alles mit dem Neumond zu tun. Ja, jetzt fällt es mir wieder ein, Roydens Frau hat mir einmal erzählt, er sei bei Neumond immer so merkwürdig.«

»Das stimmt«, sagte ihr Mann nachdenklich. »Es ist mir auch aufgefallen. Bei Neumond hat er immer so irre gelacht. Zuerst dachte ich, er spielt nur Theater, aber ich habe ihn auch so lachen hören, wenn niemand dabei war.«

»Aber begreifen Sie denn nicht …«, begann Arthur.

Mrs Greatorex fiel ihm ins Wort. »Lachen ist kein Verbrechen. Nicht einmal irres Lachen.«

»Aber haben Sie nicht gedacht …?«

»Sir Arthur, ich halte nicht viel von der Intelligenz und den Fähigkeiten der Staffordshire Constabulary. Ich glaube, in dieser Hinsicht sind wir uns wohl einig. Und wenn es Ihnen zu schaffen macht, dass Ihr junger Freund zu Unrecht im Gefängnis saß, dann hat es mir zu schaffen gemacht, dass Royden Sharp dasselbe passieren könnte. Womöglich wäre Ihrem Freund das Zuchthaus gar nicht erspart geblieben, sondern sie wären beide hinter Gitter gekommen, weil sie angeblich derselben Bande angehörten, ob es die nun gab oder nicht.«

Arthur beschloss, das so hinzunehmen. »Und was ist mit der Waffe? Haben Sie ihm gesagt, er solle sie vernichten?«

»Natürlich nicht. Wir haben bis heute nie wieder davon gesprochen.«

»Darf ich Sie dann bitten, Mrs Greatorex, dieses Schweigen noch ein paar Tage zu bewahren? Und eine letzte Frage. Sagen Ihnen die Namen Walker und Gladwin etwas – im Zusammenhang mit den Sharps?«

Beide schüttelten den Kopf.

»Harry?«

»Ich glaube, ich erinnere mich an Gladwin. Er hat bei einem Rollkutscher gearbeitet. Hab ihn aber schon seit Jahren nicht mehr gesehen.«

Harry sollte weitere Anweisungen abwarten, während Arthur und sein Sekretär nach Birmingham zurückkehrten, um dort zu übernachten. Man hatte ihnen ein näher gelegenes Quartier in Cannock angeboten; doch Arthur hatte gern Gewissheit, dass er nach einem harten Arbeitstag ein anständiges Glas Burgunder bekam. Beim Abendessen im Imperial Family Hotel fiel ihm plötzlich ein Satz aus einem der Briefe ein. Mit lautem Knall warf er sein Besteck hin.

»Der Schlitzer hat geprahlt, niemand könne ihn fangen. Da hat er geschrieben: ›Ich bin ein ganz gerissener Bruder.‹«

»Ein ganz gerissener Bruder«, wiederholte Wood.

»Genau.«

»Aber wer war der Junge mit der unflätigen Ausdrucksweise?«

»Ich weiß es nicht.« Es betrübte Arthur, dass diese Ahnung sich nicht bestätigt hatte. »Vielleicht ein Nachbarsjunge. Oder einer der Sharps hat ihn womöglich erfunden.«

»Und was machen wir jetzt?«

»Wir machen weiter.«

»Aber ich dachte, wir hätten – Sie hätten – den Fall aufgeklärt. Royden Sharp ist der Schlitzer. Royden Sharp und Wallie Sharp haben zusammen die Briefe geschrieben.«

»Das meine ich auch, Woodie. Nun sagen Sie mir, warum es Royden Sharp war.«

Wood zählte die Gründe an den Fingern ab. »Weil er Mrs Greatorex die Pferdelanzette gezeigt hat. Weil die Verletzungen der Tiere, bei denen Haut und Muskeln durchtrennt wurden, der Schnitt aber nicht bis in die Eingeweide drang, nur von so einem ungewöhnlichen Instrument stammen konnten. Weil er als Schlachter und auch auf einem Viehtransporter gearbeitet hat und daher wusste, wie man mit Tieren umgeht und sie aufschneidet. Weil er die Lanzette auf dem Schiff gestohlen haben könnte. Weil die Daten der Briefe und der Schlitzereien mit den Daten seiner Anwesenheit in und Abwesenheit von Wyrley übereinstimmen. Weil es in den Briefen eindeutige Hinweise darauf gibt, wo er jeweils war und was er dort getan hat. Weil er schon früher ständig etwas angestellt hat. Weil er bei Neumond seltsame Verhaltensweisen zeigte.«

»Ausgezeichnet, Woodie, ausgezeichnet. Stichhaltige Gründe, einleuchtend dargelegt, und alles nur Gedankenspielereien und Indizienbeweise.«

»Ach«, sagte der Sekretär enttäuscht. »Habe ich etwas übersehen?«

»Nein, nichts. Royden Sharp ist unser Mann, das steht für mich außer Zweifel. Aber wir brauchen handfestere Beweise. Vor allem brauchen wir die Pferdelanzette. Wir müssen sie sicherstellen. Sharp weiß, dass wir in der Gegend sind, und wenn er noch einen Rest Verstand hat, liegt das Ding schon auf dem Grund des tiefsten Sees, den er nur finden konnte.«

»Und wenn nicht?«

»Wenn nicht, dann wirst du mit Harry Charlesworth darüber stolpern und die Lanzette sicherstellen.«

»Stolpern?«

»Stolpern.«

»Und sicherstellen?«

»Genau.«

»Haben Sie Vorschläge hinsichtlich unseres modus operandi?«

»Ehrlich gesagt glaube ich, es wäre besser, wenn ich nicht allzu viel wüsste. Aber ich kann mir vorstellen, dass es hierzulande noch immer Sitte ist, die Türen unverschlossen zu lassen. Und wenn es auf dem Verhandlungsweg geregelt wird, dann würde ich vorschlagen, dass die entsprechende Summe in einer Rubrik Ihrer Wahl im Rechnungsbuch von Undershaw erscheint.«

Dieser Edelmut verstimmte Wood eher. »Sharp wird mir das Ding wohl kaum geben, wenn wir bei ihm anklopfen und sagen, Entschuldigung, dürften wir bitte die Lanzette kaufen, mit der Sie die Tiere aufgeschlitzt haben, wir wollen sie nämlich der Polizei vorführen.«

»Nein, da haben Sie recht«, sagte Arthur mit leisem Lachen. »So geht das bestimmt nicht. Da müssen Sie sich schon etwas mehr einfallen lassen, Sie zwei. Ein bisschen mehr Raffinesse. Oder auch ein bisschen mehr Direktheit. Einer von Ihnen könnte ihn doch ablenken, in einem Wirtshaus vielleicht, während der andere … Sie sagte doch etwas von einem Schrank in der Küche, oder nicht? Aber das muss ich Ihnen wirklich selbst überlassen.«

»Würden Sie notfalls eine Kaution für mich stellen?«

»Ich werde Ihnen sogar ein Leumundszeugnis ausstellen.«

Wood schüttelte langsam den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht fassen. Gestern um diese Zeit wussten wir so gut wie nichts. Wir hatten nur den einen oder anderen Verdacht. Jetzt wissen wir alles. Und das innerhalb eines Tages. Wynn, Greatorex, Mrs Greatorex – und damit ist die Sache erledigt. Wir können es zwar noch nicht beweisen, aber wir wissen es. Und das innerhalb eines Tages.«

»Das darf eigentlich nicht sein«, sagte Arthur. »Ich sollte das wissen. Ich habe es oft genug beschrieben. Es darf nicht sein, dass einfache Schritte zum Ziel führen. Alles muss bis zum Ende ganz und gar unlösbar erscheinen. Und dann wird der Knoten mit einer glänzenden Deduktion gelöst, vollkommen logisch und dennoch verblüffend, und man hat ein ungeheures Gefühl des Triumphs.«

»Und das haben Sie nicht?«

»Jetzt? Nein, ich bin fast enttäuscht. Ja, ich bin tatsächlich enttäuscht.«

»Nun«, sagte Wood, »einer schlichteren Seele müssen Sie ein Gefühl des Triumphs gestatten.«

»Aber gern.«

Später, als Arthur eine letzte Pfeife geraucht hatte und zu Bett gegangen war, lag er noch wach und dachte darüber nach. Er hatte sich einem Problem gestellt, und heute hatte er es bewältigt; und doch empfand er keinen Jubel. Stolz vielleicht, und diese besondere Wohligkeit der Ruhe nach getaner Arbeit, aber kein Gefühl des Glücks, geschweige denn des Triumphs.

Er erinnerte sich an den Tag seiner Hochzeit mit Touie. Natürlich hatte er sie geliebt, und in jenem frühen Stadium war er völlig vernarrt in sie gewesen und konnte den Vollzug der Ehe nicht erwarten. Doch als sie dann heirateten, in Thornton-in-Lonsdale mit diesem Waller an seiner Seite, da hatte er ein Gefühl von … wie sollte er es ausdrücken, ohne ihr Andenken zu beleidigen? Er war nur insoweit glücklich gewesen, als sie glücklich aussah. Das war die Wahrheit. Später natürlich, schon ein, zwei Tage später, empfand er das Glück, das er sich erhofft hatte. Doch im eigentlichen Moment viel weniger als erwartet.

Vielleicht hatte er deshalb an jedem Wendepunkt seines Lebens eine neue Herausforderung gesucht. Ein neues Anliegen, eine neue Kampagne – weil er nur zu kurzer Freude über den Erfolg der vorherigen fähig war. In solchen Momenten beneidete er Woodie um seinen schlichten Charakter; er beneidete alle, die fähig waren, sich auf ihren Lorbeeren auszuruhen. Doch das war nie seine Art gewesen.

Was also blieb jetzt noch zu tun? Die Lanzette musste sichergestellt werden. Es musste eine Probe von Royden Sharps Handschrift eingeholt werden – vielleicht von Mr und Mrs Greatorex. Er musste erkunden, ob Walker und Gladwin irgendeine weitere Bedeutung hatten. Da war die Geschichte mit dem Überfall auf die Frau und das Kind. Man musste Nachforschungen anstellen, wie sich Royden Sharp in der Schule von Walsall gemacht hatte. Er musste versuchen, einen genaueren Zusammenhang zwischen Wallie Sharps Aktivitäten und den Orten herzustellen, an denen die Briefe aufgegeben worden waren. Er musste die Pferdelanzette, wenn sie erst sichergestellt war, den Veterinären vorführen, die sich um die verletzten Tiere gekümmert hatten, und sie um eine fachmännische Beurteilung bitten. Er musste George fragen, ob er sich an die Sharps erinnerte, und wenn ja, was er von ihnen wusste.

Er musste an die Mama schreiben. Er musste an Jean schreiben.

Nun, da er ein volles Arbeitspensum im Kopf hatte, fiel er in ruhigen Schlummer.

Nach der Rückkehr nach Undershaw fühlte sich Arthur wie am Ende eines Buchs: Das Meiste war geschafft, die größte schöpferische Spannung vorüber, nun blieb nur noch Kleinarbeit, um die Lösung nach allen Seiten hin abzusichern. Im Laufe der nächsten Tage trafen die Ergebnisse seiner Anweisungen, Nachfragen und Sondierungen ein. Das erste Resultat kam in Gestalt eines Pakets, das in braunes Wachspapier eingeschlagen und mit Bindfaden verschnürt war und aussah, als stammte es aus Brookes Eisenwarenhandlung. Doch er wusste schon vor dem Öffnen, was darin war; er konnte es Wood am Gesicht ansehen.

Er wickelte das Paket aus und klappte die Pferdelanzette langsam zu voller Größe auf. Es war ein tückisches Gerät, das noch tückischer wurde durch den Kontrast zwischen dem stumpfen, geraden Teil und der geschliffenen Schneide an der tödlichen Ausbuchtung, die in der Tat höllisch scharf war.

»Bestialisch«, sagte Arthur. »Darf ich fragen …«

Doch sein Sekretär unterbrach ihn mit einem Kopfschütteln. Sir Arthur konnte nicht beides haben, erst nichts wissen und dann doch etwas wissen wollen.

George Edalji schrieb, er habe keine Erinnerung an die Brüder Sharp, weder aus der Schulzeit noch danach; er könne sich auch nicht denken, aus welchem Grund sie ihm oder seinem Vater feindlich gesinnt sein sollten.

Ergiebiger war ein Brief von Mr Mitchell mit Angaben aus Royden Sharps Schülerakte:

Weihnachten 1890 6. Klasse. Platz 23 von 23.
Sehr zurückgeblieben und schwach. Französisch und Latein nicht besucht.
Ostern 1891 6. Klasse. Platz 20 von 20.
Träge, Schularbeiten vernachlässigt, langsame Besserung im Zeichnen.
Sommer 1891 6. Klasse. Platz 18 von 18.
Anzeichen von Fortschritten, gezüchtigt wegen ungebührlichen Verhaltens im Unterricht, Tabakkauens, Unaufrichtigkeit und Hänselei mit Schimpfnamen.
Weihnachten 1891 6. Klasse. Platz 16 von 16.
Ungenügende Leistungen, oft unehrlich. Führt ständig Beschwerde oder gibt Anlass zu Beschwerden. Bei Täuschung ertappt, häufiges unentschuldigtes Fehlen. Verbesserung im Zeichnen.
Ostern 1892 7. Klasse. Platz 8 von 8.
Faul und bösartig, täglich gezüchtigt, an Vater geschrieben, hat Zeugnisse von Schulkameraden verfälscht und vorsätzlich darüber gelogen. Dieses Trimester 20-mal gezüchtigt.
Sommer 1892 Hat geschwänzt, Briefe und Initialen gefälscht, vom Vater abgemeldet.

Da haben wir’s, dachte Arthur: Fälschen, lügen, betrügen, Schimpfnamen, allgemeine Bösartigkeit. Und man beachte dazu noch das Datum des Schulverweises oder der Abmeldung, wie immer man es nennen will: Sommer 1892. Da hatte die Kampagne begonnen, gegen die Edaljis, gegen Brookes und gegen die Schule von Walsall. Arthur wurde immer ärgerlicher – dass er all das durch ganz gewöhnliche, logische Ermittlungen herausfinden konnte, während diese Schafsköpfe … Am liebsten hätte er die gesamte Staffordshire Constabulary an einer Wand antreten lassen, vom Chief Constable über Superintendent Barrett, Inspector Campbell, Sergeant Parsons und Upton bis hin zum kleinsten Polizeirekruten, und ihnen eine simple Frage gestellt. Im Dezember 1892 wurde ein großer Schlüssel, der zur Schule von Walsall gehörte, vom Gelände gestohlen und nach Great Wyrley verbracht. Wer kommt dafür eher in Frage: ein Junge, der die Schule wenige Monate zuvor mit Schimpf und Schande verlassen hatte, nachdem er sich dort durch Dummheit und Bösartigkeit hervorgetan hatte, oder ein fleißiger und vielversprechender Schüler und Pfarrerssohn, der nie auf die Schule von Walsall gegangen war, nie deren Gelände betreten hatte und keinen größeren Groll auf diese Anstalt hegte als der Mann im Mond? Beantworten Sie mir diese Frage, Chief Constable, Superintendent, Inspector, Sergeant und Police Constable Cooper. Beantwortet mir diese Frage, ihr zwölf aufrechten und redlichen Geschworenen der Quarter Sessions.

Harry Charlesworth schickte die Darstellung eines Vorfalls, der sich im Spätherbst oder zu Beginn des Winters 1903 in Great Wyrley ereignet hatte. Mrs Jarius Handley war abends vom Bahnhof von Wyrley zurückgekommen, wo sie einige Zeitungen gekauft hatte. Ihre kleine Tochter begleitete sie. Auf der Straße wurden sie von zwei Männern angehalten. Einer der beiden packte das Mädchen an der Gurgel und hielt etwas in der Hand, das blitzte. Mutter und Tochter schrien, worauf der Mann wegrannte und seinem Kameraden, der weitergegangen war, »Schon gut, Jack, ich komme«, zurief. Das Mädchen gab an, ihre Mutter sei schon früher einmal von demselben Mann belästigt worden. Er wurde als etwa 1 Meter 70 groß beschrieben, rundes Gesicht, kein Schnurrbart, dunkler Anzug, abgewetzte Schirmmütze. Diese Beschreibung passte auf Royden Sharp, der sich zu jener Zeit nach Seemannsart kleidete, was er später jedoch aufgab. Des Weiteren wurde angenommen, dass es sich bei »Jack« um Jack Hart handelte, einen übel beleumundeten Schlachter, der als Sharps Gefährte bekannt war. Man hatte die Polizei benachrichtigt, doch es gab keine Festnahme in dem Fall.

In einem Postskriptum fügte Harry hinzu, Fred Wynn habe sich noch einmal bei ihm gemeldet und sich gegen ein Honorar von einem Glas Stout an etwas erinnert, das ihm zuvor entfallen war. Als er, Brookes und Speck auf die Schule von Walsall gingen, war allgemein bekannt, dass Royden Sharp keinen Eisenbahnwagen betreten konnte, ohne das Sitzpolster umzudrehen und auf der Unterseite mit einem Messer aufzuschlitzen, sodass die Rosshaarfüllung herausquoll. Dann brach er in wildes Gelächter aus und drehte das Polster wieder richtig herum.

Am Freitag, dem 1. März, wurde nach einer sechswöchigen Pause, die vielleicht demonstrieren sollte, dass das Innenministerium sich von keiner Seite unter Druck setzen ließ, die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses bekannt gegeben. Er sollte verschiedenen Fragen im Zusammenhang mit dem Fall Edalji nachgehen, die in der Öffentlichkeit Unruhe ausgelöst hatten. Das Innenministerium legte jedoch Wert auf die Feststellung, dass es sich bei den Beratungen des Ausschusses keineswegs um ein Wiederaufnahmeverfahren handele. Der Ausschuss werde die dem Ministerium vorliegenden Unterlagen prüfen und über gewisse verfahrensrechtliche Fragen befinden. Sir Arthur Wilson KCIE, der Right Hon. John Lloyd Wharton, Vorsitzender der Quarter Sessions für die Grafschaft Durham, sowie Sir Albert de Rutzen, der Chief Magistrate von London, würden Mr Gladstone so rasch wie möglich Bericht erstatten.

Arthur fand, diese Herren sollten nicht gemütlich über »gewisse verfahrensrechtliche Fragen« miteinander plauschen. Er würde seine überarbeiteten Telegraph – Artikel – die bereits Georges Unschuld bewiesen – um eine persönliche Erklärung erweitern, in der er schlüssig darlegte, warum Royden Sharp der Täter war. Er würde seine Ermittlungen schildern, seine Beweise zusammenfassen und die Personen auflisten, von denen man weitere Aussagen einholen konnte: insbesondere den Schlachter Jack Hart aus Bridgetown sowie Harry Green, nunmehr in Südafrika. Außerdem Mrs Royden Sharp, die das Verhalten ihres Mannes bei Neumond bestätigen konnte.

Eine Abschrift dieser Erklärung würde er an George schicken und ihn um eine Stellungnahme bitten. Und er würde Anson auf Trab halten. Wenn er an ihren langen Disput bei Brandy und Zigarren zurückdachte, konnte er sich ein wütendes Knurren kaum verkneifen. Das war eine heftige, aber im Grunde sinnlose Auseinandersetzung gewesen – wie der Kampf zweier skandinavischer Elche, die im Wald ihre Geweihe ineinander verkeilen. Aber die Selbstgefälligkeit und die Vorurteile eines Mannes, der eigentlich klüger sein sollte, hatten ihn dennoch entsetzt. Und am Ende wollte Anson ihn auch noch mit Gespenstergeschichten erschrecken. Der Chief Constable wusste offenbar nicht, mit wem er es zu tun hatte. In seinem Arbeitszimmer holte Arthur die Pferdelanzette hervor, klappte sie auf und übertrug die Umrisse der Klinge auf einen Bogen Pauspapier. Die Zeichnung würde er – mit dem Vermerk »Originalgröße« – an den Chief Constable senden und ihn um seine Meinung bitten.

»Nun, jetzt haben Sie Ihren Untersuchungsausschuss«, sagte Wood, als sie am Abend ihre Queues vom Ständer nahmen.

»Ich würde eher sagen, die haben ihren Untersuchungsausschuss.«

»Womit Sie andeuten, dass Sie nicht ganz zufrieden sind?«

»Ich habe noch Hoffnung, dass selbst diese Herren nicht umhin können, dem ins Auge zu sehen, was klar und deutlich vor ihnen liegt.«

»Aber?«

»Aber – Sie wissen, wer Albert de Rutzen ist?«

»Der Chief Magistrate von London, wie ich meiner Zeitung entnehme.«

»Ganz recht, ganz recht. Und außerdem ist er der Vetter von Captain Anson.«