Arthur
Sie nahmen Connie mit auf eine Reise durch Europa. Connie hatte eine stabile Konstitution und lag als einzige Frau auf der Überfahrt nach Norwegen nicht seekrank danieder. Diese Unverwüstlichkeit war anderen weiblichen Leidenden ein Dorn im Auge. Vielleicht war ihnen auch Connies robuste Schönheit ein Dorn im Auge; Jerome hatte gemeint, Connie würde eine gute Brünnhilde abgeben. Auf dieser Reise stellte Arthur fest, dass seine Schwester eine leichtfüßige Tänzerin war, die mit ihrem kastanienbraunen, wie das Ankertau eines Schlachtschiffs geflochtenen Haar die unpassendsten Männer anzog: Schwerenöter, Falschspieler, geschiedene Süßholzraspler. Gegen einige musste Arthur beinahe den Stock erheben.
Nach der Heimkehr schien sie endlich ein Auge auf einen präsentablen Burschen geworfen zu haben: Ernest William Hornung, sechsundzwanzig Jahre alt, groß, elegant, asthmatisch, ein anständiger Wicketkeeper und gelegentlicher Spinbowler; er hatte gute Manieren, redete aber das Blaue vom Himmel herunter, sobald man ihm die geringste Chance bot. Arthur war sich bewusst, dass kaum ein Mann für Lottie oder Connie Gnade vor seinen Augen finden würde; dennoch fühlte er sich als Oberhaupt der Familie verpflichtet, seine Schwester ins Kreuzverhör zu nehmen.
»Hornung. Was ist das für ein Mann, dieser Hornung? Halb Mongole, halb Slawe, wie es sich anhört. Konntest du keinen richtigen Briten finden?«
»Er ist in Middlesbrough geboren, Arthur. Sein Vater ist Solicitor. Er wurde im Internat von Uppingham erzogen.«
»Irgendetwas ist merkwürdig an ihm. Das rieche ich doch.«
»Er hat drei Jahre in Australien gelebt. Seines Asthmas wegen. Vielleicht riechst du die Eukalyptusbäume.«
Arthur unterdrückte ein Lachen. Connie war die Schwester, die ihm am ehesten Paroli bot; Lottie hatte er lieber, aber Connie wies ihn gern in seine Schranken und war immer für eine Überraschung gut. Gott sei Dank hatte sie nicht Waller geheiratet. Und das galt, a fortiori, auch für Lottie.
»Und was macht er, dieser Bursche aus Middlesbrough?«
»Er ist Schriftsteller. Genau wie du, Arthur.«
»Nie von ihm gehört.«
»Er hat ein Dutzend Romane geschrieben.«
»Ein Dutzend! Aber er ist doch noch ein junger Spund.« Ein fleißiger junger Spund, immerhin.
»Ich kann dir ein Buch von ihm borgen, wenn du ihn danach beurteilen willst. Ich habe Under Two Skies und The Boss of Taroomba. Seine Romane spielen oft in Australien, und ich finde sie sehr gelungen.«
»So, findest du, Connie?«
»Aber er weiß auch, dass man mit Romanen nur schwer seinen Lebensunterhalt verdienen kann, darum arbeitet er außerdem noch als Journalist.«
»Einen einprägsamen Namen hat er jedenfalls«, grummelte Arthur. Er erlaubte Connie, den Burschen bei der Familie einzuführen. Einstweilen wollte er ihn nicht vorschnell verurteilen und las daher keines seiner Bücher.
Der Frühling kam in jenem Jahr rasch, und schon Ende April wurde der Tennisplatz hergerichtet. Von seinem Arbeitszimmer aus hörte Arthur das ferne »Plop«, wenn ein Schläger den Ball traf, und den vertrauten, unerquicklichen Aufschrei eines weiblichen Wesens, das einen leichten Ball verfehlt hatte. Später schlenderte er dann hinaus und fand Connie im wehenden Rock und Willie Hornung in weißen Flanellhosen und mit einem Strohhut auf dem Kopf. Ihm fiel auf, dass Hornung seiner Schwester keine Punkte schenkte, aber auch nicht alle Kraft in seine Schläge legte. Das fand seinen Beifall: So sollte ein Mann gegen ein Mädchen spielen.
Touie saß abseits in einem Liegestuhl und wärmte sich weniger an der schwachen Frühsommersonne als an der Hitze junger Liebe. Das fröhliche Geplapper der jungen Leute über das Netz hinweg und ihre Schüchternheit nach dem Spiel bereitete Touie offenbar Vergnügen, darum beschloss Arthur, dem jungen Paar seinen Segen zu geben. In Wirklichkeit gefiel er sich recht gut in der Rolle des grollenden Familienvaters. Und Hornung erwies sich bisweilen als geistreicher Bursche. Ein wenig zu geistreich vielleicht, aber das konnte man seiner Jugend zugute halten. Was war sein erster schlagfertiger Spruch gewesen? Ach ja, Arthur hatte die Sportnachrichten gelesen und eine Bemerkung zu einem Artikel gemacht, in dem es hieß, ein Läufer habe die hundert Meter in nur zehn Sekunden zurückgelegt.
»Was sagen Sie dazu, Mr Hornung?«
Und Hornung hatte wie aus der Pistole geschossen geantwortet: »Der muss gerannt sein, als wäre der Druckfehlerteufel hinter ihm her.«
Im August jenes Jahres wurde Arthur zu Vorträgen in die Schweiz eingeladen; Touie begleitete ihn selbstverständlich, obwohl sie von Kingsleys Geburt noch etwas geschwächt war. Sie besichtigten die Reichenbachfälle, die ebenso prachtvoll wie furchterregend waren und ein würdiges Grab für Sherlock Holmes abgeben würden. Dieser entwickelte sich immer schneller zu einem Buckelgeist, der Arthur im Nacken saß. Nun wollte er die Last mit Hilfe eines Erzschurken abschütteln.
Ende September führte Arthur Connie zum Altar, wobei sie ihn am Arm zupfte, weil er einen gar zu militärischen Schritt vorlegte. Als er sie symbolisch an ihren Ehemann übergab, hätte er eigentlich stolz und glücklich für sie sein sollen. Doch all die Orangenblüten, das freundliche Schulterklopfen und die Scherze über Glück in der Liebe und Glück auf dem Cricketplatz konnten ihm nicht das Gefühl nehmen, dass sein Traum, eine stetig wachsende Familie um sich zu scharen, einen Tiefschlag erlitten hatte.
Zehn Tage darauf erfuhr er, dass sein Vater in einem Irrenhaus in Dumfries gestorben war. Als Todesursache wurde Epilepsie angegeben. Arthur hatte ihn seit Jahren nicht mehr besucht und fuhr nicht zur Beerdigung; niemand aus der Familie nahm daran teil. Charles Doyle hatte die Mama im Stich gelassen und seine Kinder zu einem Leben in gutbürgerlicher Armut verdammt. Er war schwach und unmännlich gewesen, unfähig, seinen Kampf gegen den Dämon Alkohol zu gewinnen. Kampf? Er war ja gar nicht erst in den Ring gestiegen. Hin und wieder wurden Entschuldigungen für ihn vorgebracht, doch der Verweis auf die künstlerische Veranlagung seines Vaters konnte Arthur nicht überzeugen. Der Vater hatte sich gehen lassen und vor seiner Verantwortung gedrückt. Man konnte sehr wohl ein Künstler und zugleich robust und pflichtbewusst sein.
Im Herbst bekam Touie einen hartnäckigen Husten und klagte über Schmerzen in der Seite. Arthur hielt die Symptome für unbedeutend, ließ aber schließlich doch den Hausarzt Dalton kommen. Es war seltsam, sich vom Arzt in den bloßen Ehemann der Patientin verwandelt zu finden; seltsam, unten zu warten, während irgendwo über seinem Kopf sein Schicksal entschieden wurde. Die Schlafzimmertür blieb lange geschlossen, und dann kam Dalton mit einem Gesicht heraus, das ebenso unheilvoll wie vertraut war: So ein Gesicht hatte Arthur nur allzu oft selbst gemacht.
»Die Lungen sind schwer angegriffen. Alles deutet auf eine galoppierende Schwindsucht hin. Bei ihrem Allgemeinzustand und der Familiengeschichte …« Mehr brauchte Dr. Dalton nicht zu sagen; er setzte lediglich hinzu: »Sie wollen sicher noch eine zweite Meinung einholen.«
Nicht nur eine zweite, sondern die beste. Am folgenden Samstag kam Douglas Powell, beratender Arzt am Brompton Hospital for Consumption and Diseases of the Chest, nach South Norwood. Powell, ein bleicher, asketischer Mann, sauber rasiert und korrekt, bestätigte die Diagnose mit Bedauern.
»Sie sind, glaube ich, selbst Mediziner, Mr Doyle?«
»Ich mache mir schwere Vorwürfe wegen meiner Unaufmerksamkeit.«
»Die Lunge war nicht Ihr Spezialgebiet?«
»Nein, das Auge.«
»Dann sollten Sie sich keine Vorwürfe machen.«
»Im Gegenteil, umso mehr. Ich hatte Augen und war doch blind. Ich habe die verwünschte Mikrobe nicht entdeckt. Ich habe meiner Frau nicht genügend Aufmerksamkeit geschenkt. Ich war zu beschäftigt mit meinem eigenen … Erfolg.«
»Aber Sie waren doch Augenarzt.«
»Vor drei Jahren war ich in Berlin und habe über Kochs Erkenntnisse – angebliche Erkenntnisse – über ebendiese Krankheit berichtet. Ich habe für W.T. Stead darüber geschrieben, in der Review of Reviews.«
»Ich verstehe.«
»Und dennoch habe ich die galoppierende Schwindsucht bei meiner eigenen Frau nicht erkannt. Ja, ich habe sogar zugelassen, dass sie mich bei Unternehmungen begleitete, die die Krankheit sicher verschlimmert haben. Wir sind bei jedem Wetter Fahrrad gefahren, wir sind in kalte Gegenden gereist, sie hat mit mir im Freien Sport getrieben …«
»Andererseits«, sagte Powell, und das machte Arthur zunächst Hoffnung, »gibt es meiner Ansicht nach vielversprechende Anzeichen für die Bildung von Bindegewebe um den Krankheitsherd. Und die andere Lunge ist zum Ausgleich etwas vergrößert. Aber das ist schon alles, was ich sagen kann.«
»Das akzeptiere ich nicht!« Arthur flüsterte, da er nicht lauthals brüllen durfte.
Powell war nicht gekränkt. Er war es gewöhnt, das Todesurteil so sanft und höflich wie möglich zu verkünden, und wusste, wie die Betroffenen es aufnahmen. »Selbstverständlich. Wenn ich Ihnen den Namen …«
»Nein. Ich akzeptiere, was Sie mir gesagt haben. Aber ich akzeptiere nicht, was Sie mir nicht gesagt haben. Sie geben ihr nur noch wenige Monate.«
»Sie wissen so gut wie ich, Mr Doyle, wie unmöglich eine Prognose …«
»Ich weiß so gut wie Sie, Dr. Powell, welche Worte wir gebrauchen, um unseren Patienten und ihren Angehörigen Hoffnung zu geben. Ich weiß aber auch, welche Worte wir in unserem Innern hören, während wir ihnen Mut zu machen versuchen. Etwa drei Monate.«
»Ja, meiner Ansicht nach.«
»Dann sage ich noch einmal, ich akzeptiere das nicht. Ich nehme den Kampf gegen den Teufel auf. Ich bin zu jeder Reise bereit, ich trage alle Kosten, aber dieser Teufel soll sie nicht bekommen.«
»Ich wünsche Ihnen viel Glück«, antwortete Powell. »Und ich stehe Ihnen weiterhin zu Diensten. Zweierlei muss ich Ihnen allerdings mitteilen. Es mag unnötig sein, aber ich bin dazu verpflichtet. Ich vertraue darauf, dass Sie es mir nicht übelnehmen.«
Arthur richtete sich auf und nahm Haltung an, wie ein Soldat beim Befehlsempfang.
»Sie haben, glaube ich, Kinder?«
»Zwei, einen Jungen und ein Mädchen. Ein und vier Jahre alt.«
»Es ist, Sie müssen verstehen, völlig ausgeschlossen …«
»Ich verstehe.«
»Ich spreche nicht von ihrer Empfängnisfähigkeit …«
»Mr Powell, ich bin doch kein Narr. Und auch kein Scheusal.«
»Diese Dinge müssen unmissverständlich klar sein, das werden Sie verstehen. Der zweite Punkt ist vielleicht weniger offensichtlich. Er betrifft die Auswirkungen – die wahrscheinlichen Auswirkungen – auf die Patientin. Auf Mrs Doyle.«
»Ja?«
»Unserer Erfahrung nach verläuft die Schwindsucht anders als andere Auszehrungskrankheiten. Die Patienten haben im Allgemeinen kaum Schmerzen. Oft macht die Krankheit weniger Beschwerden als ein weher Zahn oder ein verdorbener Magen. Doch ihre Besonderheit liegt im mentalen Bereich. Die Patienten sind oft sehr optimistisch.«
»Sie meinen, wie berauscht? Wie im Fieber?«
»Nein, ich meine optimistisch. Heiter und gelassen, würde ich sagen.«
»Aufgrund der Medikamente, die Sie verschreiben?«
»Ganz und gar nicht. Es liegt im Wesen dieser Krankheit. Und das unabhängig davon, wie sehr sich die Patienten der Schwere ihres Falls bewusst sind.«
»Nun, das ist mir eine große Erleichterung.«
»Ja, am Anfang mag das so sein, Mr Doyle.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, wenn die Patientin nicht leidet und nicht klagt und trotz ihrer schweren Krankheit fröhlich bleibt, dann muss jemand anders das Leiden und Klagen übernehmen.«
»Sie kennen mich nicht, Sir.«
»Das ist wahr. Aber ich wünsche Ihnen dennoch die nötige Tapferkeit.«
In guten wie in schlechten Tagen; in Reichtum und Armut. Eins hatte er vergessen: in Gesundheit und Krankheit.
Das Irrenhaus schickte Arthur die Skizzenbücher seines Vaters. Charles Doyles letzte Jahre waren elend gewesen, er hatte auf seiner unausweichlich letzten Station gelegen und keinerlei Besuch bekommen; aber er war nicht im Wahnsinn gestorben. So viel war klar: Er hatte weiterhin aquarelliert und gezeichnet und auch ein Tagebuch geführt. Plötzlich wurde Arthur bewusst, dass sein Vater ein bedeutender Künstler gewesen war, den alle seine Kollegen unterschätzt hatten; ja, er hätte durchaus eine postume Ausstellung in Edinburgh – vielleicht gar in London – verdient. Unwillkürlich sann Arthur darüber nach, wie gegensätzlich ihr Schicksal verlaufen war: Während der Sohn Ruhm und die Gunst der Gesellschaft genoss, machte sein verlassener Vater immer wieder mit der Zwangsjacke Bekanntschaft. Arthur empfand keine Schuld – in ihm keimte nur Mitleid mit seinem Vater auf. Ein Satz in dessen Tagebuch hätte jedem Sohn das Herz gerührt. »Ich glaube«, hatte er geschrieben, »ich bin nur deswegen als verrückt gebrandmarkt, weil die Schotten eine falsche Auffassung von einem Scherz haben.«
Im Dezember jenes Jahres fand Holmes in Moriartys Armen den Tod; beide wurden von der ungeduldigen Hand ihres geistigen Vaters in die Tiefe gestürzt. Die Londoner Zeitungen hatten keinen Nachruf auf Charles Doyle gebracht, doch jetzt waren sie empört und entsetzt über den Tod eines beratenden Detektivs, den es gar nicht gab, dessen Beliebtheit seinem Schöpfer aber nun lästig und sogar zuwider wurde. Für Arthur sah das so aus, als sei die Welt verrückt geworden: Sein Vater lag seit kurzem unter der Erde, seine Frau war zu Tode erkrankt, und im Geschäftsviertel von London trugen junge Männer anscheinend schwarze Bänder am Hut zum Zeichen ihrer Trauer um Mr Sherlock Holmes.
Als dieses betrübliche Jahr zu Ende ging, geschah noch etwas. Einen Monat nach dem Tod seines Vaters beantragte Arthur die Aufnahme in die Society for Psychical Research.