VIER

Am folgenden Morgen erwachte Annie aus einem Traum von einem Ruderboot auf saphirblauer See, von riesigen Wellenbergen, von der sich immer wilder drehenden Kompassnadel, von Meerglas, das wie Hagel vom Himmel fiel, der Ozean draußen ein unberechenbarer, unbezähmbarer Verwandter des Meeres im Buch. Was verbarg er? Was würde er bringen?

»Glaubst du, das Boot ist noch dort?« Annie schlug die Decke zurück und sprang aus dem Bett.

Ella, die immer länger zum Aufwachen brauchte als ihre Schwester, brummte etwas und vergrub sich tiefer in die Decken.

Annie wartete nicht auf sie. Sie zog ein Sweatshirt und Shorts an und eilte hinaus. Wildblumen färbten die Wiese mit roten, blauen und gelben Farbtupfen. Annie hob das Gesicht gen Himmel, so dass die leichte Brise ihre Wangen kühlte. Sie breitete die Arme aus. Ich bin ein Drachen, dachte sie. Ich bin ein Vogel.

Es war Dienstag. Zu Hause ging sie dienstags schwimmen und mit dem Kunstkurs ins Museum. Sie hatten gerade eine Stunde über Picasso und den Kubismus gehabt und für ihren Lehrer Rodney ein Porträt gemalt. Annie hatte darauf Ellas Gesicht in Flächen zerteilt, weil diese sie dumm genannt hatte. Später, als sie nicht mehr wütend gewesen war, hatte sie deswegen ein schlechtes Gewissen gehabt. Dienstage zu Hause bedeuteten chinesisches Essen, das ihr Vater von Ming’s mitbrachte, jedenfalls noch bis vor Kurzem. Jetzt kam er ja nicht mehr so oft nach Hause. Annie hatte Nora gefragt, ob er in den Süden gezogen sei wie die Gänse. Mit Zugvögeln hatten sie sich in der Schule beschäftigt. Nora hatte den Kopf geschüttelt, aber Annie wusste nicht so genau, ob das die Wahrheit war.

Auf Burke’s Island gab es keine Gänse, jedenfalls momentan nicht, und auch keine Väter, die nicht nach Hause kamen. Hier verliefen die Dienstage anders. Man musste sich an keinen Plan halten. Sie konnte die Dienstage – und alle anderen Tage der Woche – verbringen, wie sie wollte.

Annie kletterte die Klippe hinunter. Der Strand war verlassen – bis auf einen Jungen, der mit nacktem Oberkörper und abgerissenen braunen Shorts im seichten Wasser stand, Sand zwischen den Zehen und an den Beinen. Seine tiefbraune Haut glänzte nass, als wäre er gerade aus dem Meer gekommen. Er mochte acht oder neun Jahre alt sein.

»Hallo«, begrüßte Annie ihn, glücklich darüber, jemandem in ihrem Alter zu begegnen. »Wohnst du hier in der Nähe?«

Er nickte. Seine Augen waren dunkel und wachsam.

»Ich heiße Annie.«

»Ich bin Ronan.«

»Klingt wie der Name von einem Superhelden. Hast du Superkräfte? Ich kann fliegen, siehst du?« Sie sprang von einem Felsen.

Er lachte.

»Darf ich dich Ronie nennen?«

»Wenn du möchtest.«

Sie bemerkte den Krebs mit aufgebrochenem Panzer in seiner Hand. »Was ist das?«

»Frühstück«, antwortete er.

»Wie Krabbencocktail ohne Sauce.«

»Frisch schmeckt er am besten.« Er leckte sich die Lippen. »Nächstes Mal bringe ich dir einen mit.«

»Von wo?«

»Von da draußen.«

»Wir sind vor ein paar Tagen mit der Fähre gekommen, sonst war ich noch nie auf dem offenen Meer. Tümmler haben uns begleitet. Ich wollte anhalten und schauen, aber der Kapitän hält nicht einfach so an. Mama sagt, er hat einen festen Zeitplan. Im Meer gibt’s viele Dinge unter der Oberfläche, stimmt’s?«

Er nickte. »Schau.« Jenseits der Felsen tauchten wie aufs Stichwort zwei Wale auf und platschten ins hoch aufspritzende Wasser zurück.

Annie stockte der Atem.

»Buckelwale auf Wanderschaft.«

Etwas Spektakuläreres als Wale hatte sie nicht zu bieten. »Ich habe ein Boot«, sagte sie und deutete in Richtung der Treibholzhaufen. »Möchtest du’s sehen? Ich hatte Angst, dass die Flut es wegspült.«

»Die Flut steigt normalerweise nicht so hoch.« Die Wellen zeichneten Schaumlinien auf den Strand.

Annie wollte gerade eine Fahrt zur Antarktis vorschlagen, um die Pinguine anzusehen, als Ellas schrille Stimme von der Klippe herunterklang. »Annie, wo steckst du?«

»Wer ist das?«, fragte Ronan.

»Meine Schwester. Sie ist zwölf. Wir könnten uns verstecken, so tun, als wären wir nicht da.« Sie hatte keine Lust, Ronan mit Ella zu teilen.

»Sie würde nach dir suchen. Ich verschwinde lieber«, erklärte Ronan.

»Du brauchst nicht …«

Er legte einen Finger an die Lippen. »Erzähl niemandem von mir. Ich darf eigentlich nicht hier sein.«

»Wer sagt das?« Er war wirklich ein sehr merkwürdiger Junge. Der merkwürdigste, wunderbarste Junge, den sie kannte.

»Meine Mutter. Versprich’s mir.«

»Ich hab dir das Ruderboot noch nicht gezeigt …« Sie wollte nicht, dass er ging, wollte ihm noch so vieles zeigen und sagen.

»Nächstes Mal.«

»Aber ich weiß nicht, wo du wohnst«, widersprach sie.

»Ich finde dich schon. Versprich mir, niemandem von mir zu erzählen.«

»Ich versprech’s.«

Er verschwand zwischen den Felsen.

Wenig später tauchte Ella auf. »Was machst du ganz allein hier?«, fragte sie.

»Ich spiele.« Annie hätte ihr gern von Ronie erzählt, aber versprochen war versprochen, und letztlich hatte sie auch gern einen besonderen Freund für sich, denn Ella neigte dazu, das Kommando zu übernehmen. Beobachtete Ronie sie von den Felsen aus? Sie nahm eine paar Algen in die Hand, drapierte sie um ihren Hals und stolzierte am Strand auf und ab. »Schau, ich trage einen Nixenschal.«

»Igitt. Nimm das Zeug runter. Es stinkt.« Ella rümpfte die Nase.

Ronie hätte so etwas nicht gesagt. Er hätte gelacht.

»Die Algen riechen nach dem Meer«, erklärte Annie. »Daran ist nichts Ekliges.« Sie atmete ihren Geruch tief ein, während sie sie aus den Händen gleiten ließ. »Vielleicht nähe ich mir ein Kleid daraus und gehe auf den Meergeisterball!«

»Lass mich raten: Den veranstalten die Meermenschen.«

»Genau! Wenn du möchtest, nehme ich dich mit.«

»Danke fürs Angebot, aber ich verzichte.«

»Ich wette, du würdest es dir anders überlegen, wenn einer der Jungs aus dem Ort hinginge.«

»Keine Ahnung, was du meinst«, sagte Ella errötend.

Da Ella nur selten so unsicher wirkte wie jetzt, ließ Annie das Thema. Ihr war aufgefallen, dass ihre Schwester ziemlich viel über Jungen redete (mit ihren Freundinnen, nicht mit Annie), aber nur selten mit ihnen selbst sprach. »Hilfst du mir mit dem Boot?«, fragte Annie stattdessen und stöhnte auf. »Wir haben vergessen, im Laden Farbe dafür zu kaufen.«

»Wir können die Reste vom Cottage nehmen, falls wir die Zimmer jemals streichen.« Ihre Mutter hatte die Eimer noch nicht einmal aus der Tüte geholt, sie nur in die Kammer gestellt, als wollte sie die Begegnung mit Maggie Scanlon im Geschäft vergessen.

»Das Boot braucht bloß eine neue Schicht Lack«, sagte eine Stimme hinter ihnen. »Solche Boote streicht man nicht. Man soll sehen, woraus sie bestehen, die Maserung des Holzes, ihre Haut. Sie müssen atmen können.«

Ein älterer Mann stand, auf seinen Gehstock gelehnt, auf dem Weg über ihnen. Er trug eine weite Twillhose wie früher ihr Großvater, ein braunes Sportsakko und eine ausgeblichene Tweedkappe. Er musste von der Klippe gekommen sein. Annie vermutete, dass er Ronan begegnet war, aber sie traute sich nicht zu fragen.

Der Border Collie des Mannes rannte schwanzwedelnd und bellend die Uferböschung herunter. »Keine Angst vor Patch. Der tut nichts. Freut sich nur, euch zu treffen. Hier kommt nicht oft jemand her«, erklärte der Mann mit leiser, ein wenig rauer Stimme. Ihm fehlte wie Annie ein Zahn. Ob die Zahnfee auch ältere Menschen besuchte? »Wo kommt ihr zwei denn her?«

»Aus Boston«, antwortete Annie.

»Aha, aus Boston. Das ist ganz schön weit weg.«

Patch sprang an Annie hoch und leckte über ihr Gesicht. Wahrscheinlich, dachte sie, hieß der Hund wegen des schwarzen Flecks über seinem linken Auge »patch« – »Augenklappe«. »Wir sind nur den Sommer über da«, erklärte Annie.

»Wie die Zugvögel, so, so. Und wo wohnt ihr?«

»Im Cottage von unserer Großtante Maire, da drüben.«

Ella zupfte sie am Ellbogen. Annie schüttelte sie ab. Was? Tante Maire kannte ihn wahrscheinlich sowieso, warum also die Vorsicht?

Er wirkte nachdenklich. »Die verlorene Tochter kehrt zurück …«

»Was meinen Sie damit?«, erkundigte sich Ella.

»Es ist lange her, dass eure Mutter auf der Insel war. Ich erinnere mich gut an sie.«

»Sie waren damals hier?«, meinte Ella.

»Ich lebe immer schon auf Burke’s Island, bin einer der Ältesten auf der Insel. Mein Name ist Reilly Neale. Ihr wollt das Boot herrichten? Das hat eurer Großmutter gehört, als sie jung war – und davor ihrem Vater. Keine Ahnung, wie das Ding die Zeit überdauert hat. Muss guter Lack drauf sein. Würde mich interessieren, welcher.«

»Vielleicht Zauberlack«, sagte Annie.

»Möglich.« Um seine Augen bildeten sich Lachfältchen. »Ich könnte es für euch seetüchtig machen, wenn ihr mir versprecht, in der Bucht zu bleiben. Das Material dafür hab ich zu Hause.«

Annie sah ihre ältere Schwester an. Fachmännischen Rat konnten sie gebrauchen.

»Kennen Sie sich mit Booten aus?«, fragte Ella.

»Ich? Ich war auf dem Wasser, seit ich laufen konnte. Und da wäre ich immer noch, wenn ich nicht so schlecht sehen würde.«

»Na schön«, meinte Ella. »Sie sind angeheuert.«

»Wir haben aber nicht viel Geld«, warnte Annie ihn, damit er sich keine falschen Hoffnungen machte.

Er lachte. »Betrachtet es als milde Gabe. Bin gleich wieder da«, versprach er. »Ich wohne auf der anderen Seite der Landspitze.«

Eine halbe Stunde später kehrte Reilly nicht nur mit Verfugungsmasse und Lack, sondern auch mit Kartoffel-Käse-Küchlein, Keksen, drei Bechern und einer Thermosflasche Limonade zurück, die er in einen Tragegurt auf Patchs Rücken geschnallt hatte. »Hab mir gedacht, ihr möchtet nach der Arbeit vielleicht ein Picknick machen.« Als er sich auf ein Stück Treibholz setzte, verzog er das Gesicht. »Arthritis«, erklärte er. »Im Alter nutzt sich der Körper ab.«

»Wie alt sind Sie?«, erkundigte sich Ella.

»Fünfundachtzig im Juli.«

»Ganz schön alt«, bemerkte Annie.

»Kindermund tut Wahrheit kund.« Er gab ihnen Spachteln und eine Dose mit dickflüssiger brauner Paste. »Streicht das in die Fugen. Nicht zu dick. Das Boot braucht keine Glasur wie ein Kuchen.«

»Gibt’s zu Ihrem Geburtstag eine Party mit Kuchen?«, fragte Annie.

»Eher nicht.«

»Doch, bestimmt. Ihre Familie …«

»Meine Familie hat mich vor Jahren verlassen.«

»Warum?«

Er zögerte mit der Antwort. »Das war kurz vor dem Verschwinden eurer Großmutter. Ich will nichts beschönigen. Ich hab damals zu viel getrunken, und irgendwann hatte meine Frau genug. Das kann ich ihr im Nachhinein nicht verdenken. Sie hat die Insel mit meiner Tochter und meinem Sohn für immer verlassen. Sie leben jetzt auf dem Festland. Sie hat wieder geheiratet, sich ein neues Leben aufgebaut, was unter den gegebenen Umständen nur vernünftig war. Soweit ich weiß, habe ich Enkelinnen in eurem Alter …«

»Und die kennen Sie nicht?«, fragte Ella.

Er schüttelte den Kopf.

»Sie sollten ihnen schreiben«, schlug Annie vor.

»Das habe ich.«

»Bei wichtigen Dingen darf man nicht lockerlassen«, sagte Ella, die vermutlich an ihre Eltern dachte.

Reilly nahm seine Kappe vom Kopf und wischte sich die Stirn mit dem Handrücken ab. Dabei kam ein blasser Streifen Haut über seinem wettergegerbten Gesicht zum Vorschein. Der Wind zerzauste ihm die weißen Haare. »Möglich. Aber manche Menschen müssen wohl durch raue See steuern.«

»Dann sollten Sie sich ein besseres Boot besorgen«, meinte Annie. »Für die hohen Wellen.«

»Ihr zwei wisst auf alles eine Antwort, was?«, brummte Reilly. »Tja, einen Versuch wäre es wert.«

Nora rief nach den Mädchen; ihre Stimme wurde vom Wind fortgetragen. Östlich vom Cottage stand eine Baumgruppe mit Fichten und Tannen, vom Westen rollten hohe Wellen heran. Das Festland war wenig mehr als eine flache Linie. Seehunde wippten mit dunkel glänzendem Fell in der Brandung bei den Felsen, darunter auch der silberfarbene, der sich immer bei den anderen aufhielt, Befehle bellte oder sich mit ihnen sonnte. Keine Spur von Annie oder Ella, die am Morgen überstürzt aufgebrochen waren.

Außer Flotsam und Jetsam, fast identischen grauen Tigerkatzen (Flotsam fehlte ein Teil ihres Schwanzes; Jetsam hatte einen Riss in seinem linken Ohr), die sich auf der Terrasse rekelten, war niemand da.

»Wisst ihr, wo sie stecken?« Nora ging in die Hocke, um Jetsam hinter den Ohren zu kraulen, und wurde mit einem tiefen Schnurren belohnt. Sie waren keine Schoßkatzen, ließen sich jedoch zu ihren eigenen, definitiv kätzischen Bedingungen die eine oder andere Streicheleinheit gefallen. »Ihr zwei sollt für euer Futter arbeiten. Aber ihr fresst nur, was man euch hinstellt, und macht euch ansonsten einen faulen Lenz.«

Jetsam streckte sich zufrieden blinzelnd.

»Sie sind unten am Strand.« Maire näherte sich Nora von hinten.

»Ich hab dich gar nicht gehört …«

»Ich bin aus dem Wald gekommen. Hier musst du dir keine Sorgen um die Mädchen machen. Es ist nicht wie in der Stadt. Auf der Insel kannst du sie an der langen Leine laufen lassen.«

Maire trug einen weißen Overall.

»Ist irgendwo Gift ausgetreten?«, scherzte Nora.

Maire lachte. »Nein, nein. Ich geh zu den Bienen. Hut und Handschuhe sind noch im Haus.«

»Bienen? Verdienst du dir ein Zubrot als Kammerjägerin?«

»Gütiger Himmel, nein. Honigbienen. Die hab ich mir nach dem Tod von Joe und Jamie zugelegt. Anfangs war das noch ein Zeitvertreib, ein Hobby, aber inzwischen ist tatsächlich eine Art Nebenerwerb draus geworden. Ich verkaufe den Honig auf dem Farmermarkt und auf Bestellung. Würdest du mir heute zur Hand gehen? Die Stöcke müssen überprüft werden. Ich würde Polly bitten, doch die redet zu viel. Sie macht die Bienen nervös.«

»Gern, aber die Mädchen …«

»Die finden uns schon. Häng einfach einen Zettel an die Tür, dann können sie zu uns kommen, wenn ihnen danach ist. Wahrscheinlich sind wir vor ihnen wieder da. Du kennst ja die Kinder, beim Spielen vergessen sie die Zeit. Spielen tut ihnen gut. Wenn du mich fragst, spielen Kinder heutzutage nicht mehr genug. Ihr Stundenplan ist zu voll.«

Noras Beschützerinstinkt hatte sich durch die Ereignisse in Boston verstärkt. Aber vielleicht hatte Maire recht. Je mehr die Mädchen von den Komplikationen zu Hause abgelenkt wurden, desto besser.

Nora begleitete Maire zu dem Gartenschuppen neben Cliff House, um den zweiten Imkeranzug ihrer Tante sowie den Hut mit Netz anzulegen. Darin kam sie sich vor wie eine Astronautin, und ihre Schritte wirkten anfangs unbeholfen. Die Bienen umschwirrten sie neugierig, setzten sich auf ihre behandschuhten Hände und Schultern, krabbelten mit zuckenden Fühlern und schlagenden Flügeln ihre Arme hinauf und erkundeten die Berge und Täler des Stoffs darüber.

Maire ging vor Nora, als führte sie eine Prozession an. Sie öffnete und schloss Kästen und blies Rauch hinein, um die Bienen zu beruhigen.

»Heil der Königin«, sagte Maire. »Sie regiert das Volk gut. Schau, wie die anderen jede ihrer Bewegungen beobachten. Das sind italienische Honigbienen. Ich habe mich für sie entschieden, weil sie angeblich sehr friedliebend sind. An dem Tag, an dem ich die Bienen einsetzen wollte, hat es geregnet, also musste ich warten. Ein Imker hat mir geraten, sie an einem kühlen, trockenen Ort unterzubringen, bis das Wetter besser wäre. Ich habe sie mit Zuckerwasser besprüht und sie ins Haus mitgenommen.«

»Ins Haus?«, wiederholte Nora verblüfft.

»Polly hätte fast einen Anfall gekriegt, als sie das sah. Sie hat eine Weile gebraucht, sich an sie zu gewöhnen. Am Ende waren sie gar keine so schlechten Mitbewohner. Nach ihrer Umsiedlung haben sie mir gefehlt. Aber hier sind sie bestimmt glücklicher. Jedes Volk besteht aus zwölftausend Bienen, jeweils ein eigenes Königreich, könnte man sagen. Mach die Augen zu. Sie schlagen bis zu zweihundertfünfzigmal pro Sekunde mit den Flügeln. Das erzeugt diesen summenden Ton. Erstaunlich, was?«

Nora schloss die Augen und gab sich ganz dem melodischen Summen der Bienen hin, das sie wie das Schwimmen im Meer gelassen machte und eine innige Verbindung zur Natur herstellte.

»So.« Maire zeigte ihr, wie man den Rauch in die Kästen hineinblies. Nora hielt den Smoker in der Hand wie die Taschenuhr eines Hypnotiseurs.

»Obwohl wir noch nicht viel Zeit miteinander verbracht haben«, bemerkte Maire, »möchte ich dir sagen, dass du dich auf mich verlassen kannst.«

Anders als auf ihre Mutter. Oder auf Malcolm.

»Die letzten Monate habe ich mich treiben lassen«, gestand Nora. »Das ist untypisch für mich, und das Gefühl gefällt mir nicht.«

»Vielleicht war es gar nicht so sehr ein Sichtreibenlassen, sondern eher ein Sammeln«, meinte Maire. »Wir müssen alle unseren eigenen Weg finden. Einer ist nicht unbedingt besser als der andere. Die Pfade verlaufen krumm und führen bisweilen wieder zurück. Es gibt Sackgassen und atemberaubende Ausblicke, wenn wir uns zum Verweilen und Schauen Zeit nehmen.«

»Ja, da hast du recht.« Maire hätte sie ohne den Brief möglicherweise nie wiedergesehen. Außerdem hatte sie die Mädchen, das Beste, was von ihrer Ehe übrig geblieben war. Und die Tatsache, dass sie sich selbst immer besser kennenlernte, sich dessen bewusst wurde, was sie wollte, was sie inspirierte. Diese Dinge wären ohne ihren bisherigen Weg nicht möglich gewesen. Und dann gab es da noch diese Insel, das Meer, den Garten und die Felder.

»Man darf nicht vergessen, wo man herkommt, weil man sich sonst nicht weiterentwickeln kann«, erklärte Maire. »Einige der schlimmsten Stürme hast du schon überstanden.«

Hatte sie das tatsächlich? »Die hätte ich lieber umschifft.«

»Ich die meinen auch. Aber so ist das Leben nun mal nicht. Wir können nicht immer in ruhigen Gewässern segeln. Wenn doch, wäre uns das wahrscheinlich zu langweilig.«

»Manchmal komme ich mir vor, als würde ich gegen den Strom schwimmen – schon mein ganzes Leben lang. Das ist schwierig zu erklären.«

»Du hattest eine ungewöhnliche Kindheit, fern von deinem Zuhause und den Menschen, die du liebtest. Deshalb denkst du über deinen Platz in der Welt nach. Die letzten Wochen haben diese Tendenz verstärkt.«

Der Chor der Bienen summte. »Danke, dass du nicht lockergelassen und mir den Brief geschickt hast«, sagte Nora. »Es muss hart gewesen sein, so lange nichts von mir zu hören.«

»Ich sollte dir danken. Für die Antwort.« Maire öffnete einen Kasten, so dass Reihe um Reihe netzwerkartiger Waben zum Vorschein kam. »Wenn ich Probleme habe, gehe ich zu den Bienen. Hier, nimm.« Sie reichte Nora den Deckel des Kastens. »Schau, das ist der Honig.« Sie deutete auf die bernsteinfarben glänzenden Perlen. »Zwischen den Stichen des Lebens verbirgt sich bisweilen Süßes. Auch für dich. Hab Geduld.«