SIEBZEHN

Nora schleuderte den Brief durchs Zimmer. Es war Nacht, der Himmel schwarz, mit Spinnweben aus Wolken überzogen wie ein großer, unbewohnter Raum. Sie hatte es den ganzen Tag über vermieden, das Schreiben zu lesen, das die offizielle Trennung vorschlug. Malcolm wollte sie zu seinen Bedingungen in seinem Leben haben, unabhängig davon, wie Noras Bedürfnisse aussahen. In dem Umschlag befand sich auch eine persönliche Notiz in seiner krakeligen Schrift. »Dieser Kompromiss dürfte uns allen entgegenkommen.« Keine Abschlussformel, nur »Malcolm«. Was hätte er auch schreiben sollen? Mit freundlichen Grüßen, Mit besten Wünschen, Dein? Bestimmt nicht Alles Liebe, nicht mehr.

Die Seiten schienen ein Eigenleben zu besitzen. Nora setzte sich auf die Bettkante und vergrub die Finger in der Spitzentagesdecke, in die fein miteinander verwobenen Fäden, die sich an manchen Stellen auflösten. Warum hatte sie nicht selbst die Trennung vorgeschlagen? Dann hätte sie die Zügel in der Hand gehabt. Dass das so war, hatte sie geglaubt, als sie auf die Insel gekommen war, um sich eine Auszeit zu nehmen. Nora fragte sich, was die andere, wie sie auch immer heißen mochte, von dem Arrangement hielt. Hatte er ihr die Wahrheit gesagt, oder ließ er sie in dem Glauben, dass er die Scheidung eingereicht hatte? Diese Zwischenlösung, dieser eheliche Schwebezustand war unerträglich.

Die Tür zum Zimmer öffnete sich quietschend. Ella. »Will er die Scheidung?«, erkundigte sie sich und betrachtete die auf dem Boden liegenden Blätter.

»Nein.«

In Ellas Augen glänzten Tränen. Bei ihrem Anblick brach es Nora fast das Herz.

»Warum bist du dann so aus der Fassung?«, fragte Ella.

»Ach, es ist nichts.« Nora konnte ihr nicht sagen, dass die Bitte um Scheidung in ihrer Endgültigkeit für sie fast eine Erleichterung gewesen wäre. »Der Wind hat den Brief von der Frisierkommode geweht.«

Wie aufs Stichwort blähte eine leichte Brise vom Meer die Vorhänge.

Nora würde nicht unterschreiben, noch nicht. Sie wollte sich zuerst darüber klar werden, was sie sich vorstellte, was das Beste für die Mädchen war, und dann agieren. Sie würde sich nicht auf Malcolms Regeln einlassen.

Annie legte das Märchenbuch auf Noras Schoß, als diese sich auf ihr Bett setzte, um den Mädchen Gute Nacht zu sagen. »Zeit zum Vorlesen.«

»Ja?« Nora hatte das Gefühl, dass sich ihr Leben immer stärker mit den Geschichten aus dem Buch verwob.

»Es ist dunkel draußen, hast du das nicht gemerkt?«

Sie schüttelte den Kopf. Wie lange hatte Nora in ihrem Zimmer gesessen? Minuten? Stunden? Vermutlich eher Minuten, und trotzdem war ihr die Zeit endlos erschienen – die Zeit, sie selbst, in der Schwebe.

»Können wir lesen, El?« Annie wandte sich ihrer Schwester zu.

»Ich bin beschäftigt.« Ella nahm selbst ein Buch in die Hand.

»Antigone«, las Annie den Titel laut vor.

»Ja.«

»Warum liest du das?«, erkundigte sich Annie.

»Die Sommerlektüre kann das nicht sein«, stellte Nora fest. Der Text war viel zu schwierig für Ellas Jahrgangsstufe.

»Ich hab mir selber eine Liste zusammengestellt«, teilte Ella ihnen mit. »Weil ich was für meine Bildung tun möchte. Vorbereitung aufs neue Schuljahr.«

»Ganz schön schwere Kost«, bemerkte Nora.

»Der Text ist passender, als du glaubst.« Ella sah Nora mit einem eindringlichen Blick an.

»Komm, El«, sagte Nora. »Die Tragödie kann warten.«

»Na schön.« Ella ergab sich widerwillig in ihr Schicksal.

So krochen beide Mädchen in Annies Bett wie früher in Boston, wenn sie nicht allein sein wollten, und kuschelten sich an Nora, die ihre Nähe genoss. Solche Momente konnte es also noch geben …

Annie blätterte in dem Buch.

»Welche Geschichte?«, fragte Nora.

»Die soll El aussuchen«, antwortete Annie.

»Gut. Die da.« Ella wählte eine der Odyssee ähnliche über einen Mann, der sich verirrt hatte und den Weg zu seiner Familie wiederfinden wollte. »›Eines Morgens erwachte Nial mitten auf dem Meer, weit, weit weg vom Land und allem, was er kannte. Er hatte nur einen einzigen Gedanken: nach Hause …‹«

Am folgenden Morgen hörte Nora die Stimmen der Mädchen auf der Wiese. Sie sah auf die Uhr: halb zehn. So lange hatte sie nicht schlafen wollen. Sie zog Jeans und T-Shirt an und machte sich einen Kaffee. In der Welt vor dem Cottage verschmolzen Himmel und Erde, Grün und Grau, gesprenkeltes Blau und gelbe Tupfen; die Gänseblümchen blühten. Auf dem Tisch stand ein Sträußchen, das Annie und Ella am Vortag gepflückt hatten.

Nora schlüpfte in Flip-Flops und füllte die Gießkanne mit Wasser, um die Blumen in den Kästen vor den Fenstern zu gießen, die nach dem schönen Wetter der vergangenen Tage schlapp wirkten. Sie schaute hinaus auf das Gestrüpp und das Gras vor dem Cottage. Um die Blumenbeete hatte sich lange niemand mehr gekümmert; hier war Maire noch nicht tätig geworden. Wenn sie blieben, würde Nora eine Mischung aus winterharten Gräsern und pflegeleichtem Lavendel pflanzen, die sich im Wind wiegten.

Ihr Blick wanderte zur Auffahrt, zum Geländewagen. Der Familienwagen der Cunninghams. Jemand hatte in der Nacht etwas auf die Windschutzscheibe geschrieben. Sie ging näher heran, den Blick auf die Bäume und die Straße gerichtet. Manchmal glaubte sie, Maggie Scanlon zu sehen, die das Haus beobachtete, doch sie wusste, dass sie sich das nur einbildete. Maggie war krank, das Cottage lag zu weit außerhalb des Ortes, als dass sie es in ihrem Zustand hätte erreichen können. – Obwohl sie es schon einmal bis zum Beerenfeld geschafft hatte. Nora beschattete die Augen, um das Wort zu entziffern: Hexe.

Das war wie ein Schlag in die Magengrube. Nora nahm mit klopfendem Herzen das Fensterleder aus dem Handschuhfach und wischte die Buchstaben weg. Das durften die Mädchen nicht sehen.

Als sie eine Bewegung zwischen den Bäumen wahrnahm, erstarrte sie. Wieder einmal wurde ihr bewusst, wie abgelegen dieser Teil der Insel war. Ein Stockschirm auf dem Rücksitz war die einzige Waffe weit und breit.

Eine Gestalt trat zwischen den Bäumen hervor. Gott sei Dank: Owen. In den vergangenen Wochen waren seine Haare länger geworden. Sie reichten nun über den Kragen des dunkelgrünen Karohemds von Noras Cousin und hingen ihm in die Augen. In der Hand hielt er einen Weidenkorb mit Deckel.

»Wäschst du den Wagen?«, fragte er.

»Könnte man so sagen.« Ihre Hände zitterten.

»Was ist los?« Er berührte ihre Wange, dann wanderte sein Blick zu den Fenstern des Cottage, und er zog die Hand zurück.

»Inselvandalismus.« Sie deutete auf die Windschutzscheibe.

Die Umrisse des Wortes waren noch zu erkennen. »Wann ist das passiert?«, erkundigte er sich.

»Vergangene Nacht oder heute Morgen.«

»Du hast nichts mitgekriegt?« Owen nahm ihr das Tuch aus der Hand und wischte die letzten Reste weg.

»Nicht das Geringste.«

Er überlegte kurz. »Maire hat mir heute Morgen erzählt, Maggie Scanlon habe den Truck ihres Sohnes vergangene Nacht ungefähr anderthalb Kilometer von hier in den Graben gefahren. Gut möglich, dass sie von dir kam.«

Wieder diese Frau. »Ist ihr was passiert?«

»Ein paar Beulen und blaue Flecken.«

»Ich wusste nicht, dass sie noch mit dem Auto fährt.«

»Ihr Sohn hat den Wagen als gestohlen gemeldet. Ihm ist erst klar geworden, dass sie ihn genommen hat, als sie sie gefunden haben. Willst du die Polizei rufen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Gerade haben wir den Beweis vernichtet, und außerdem bin ich mir nicht sicher, ob das richtig wäre. Keine Ahnung, was sie veranlasst, solche Dinge zu tun. Sie ist auf etwas fixiert. Wenn ich rauskriege, worauf, hat es vielleicht ein Ende.«

»Wenn du meinst«, sagte er, nicht sonderlich überzeugt. »Die sind für dich.« Er klappte den Deckel des Korbs auf, in dem sich Fische befanden. »Vom Nordteil der Insel.«

»Genau richtig fürs Abendessen. Du warst ganz schön lange unterwegs. Ich dachte schon, du hättest die Insel verlassen.«

»Ich bin nicht wie er«, versicherte er ihr. »Ich würde nicht gehen, ohne mich zu verabschieden.«

Da hörte Nora die Stimmen der Mädchen, die versuchten, den Drachen aus dem Baum zu holen. Ella wollte keinen neuen, obwohl Nora ihr angeboten hatte, einen bei Scanlon’s zu kaufen. Dies war der Drachen ihres Vaters, ein Symbol all dessen, was kaputt war und repariert werden musste.

»Worüber unterhaltet ihr euch?«, fragte Annie, die zu ihnen gesprungen kam.

»Ein schöner Galopp«, sagte Owen, ohne ihre Frage zu beantworten.

»Ich bin ein Araberhengst. Ich dachte, wenn ich mich auf die Hinterbeine stelle, erreiche ich den Drachen, aber es funktioniert nicht.«

»Natürlich nicht«, rief Ella. »Der Drachen hängt zu hoch, und du bist kein Pferd. Wenn du eins wärst, würde ich dich vor eine Kutsche spannen und dafür sorgen, dass du mich in den Ort bringst.«

»Und ich würde ausschlagen und weglaufen«, erwiderte Annie und wandte sich Owen zu. »Können Sie ihn runterholen?«

»Du musst nicht«, mischte sich Nora ein.

»Lasst mal sehen.« Er stellte den Korb neben Nora ab, aus dem die Fische sie stumm anstarrten, legte kurz die Hand auf ihren Rücken und machte sich auf den Weg zu dem Baum.

»Wir brauchen Ihre Hilfe nicht«, erklärte Ella.

»Willst du ihn runterhaben oder nicht?«, fragte Owen.

Ihr Blick wanderte zwischen ihm und dem Drachen hin und her. »Vielleicht doch«, presste sie hervor.

Die gesplitterten Äste des Baums ragten in Richtung Meer. Der Drachen steckte oben in der Krone. Seine Flügel knatterten im Wind; Fetzen roten Papiers lagen auf dem Boden, zerschreddert von Krähen und Stürmen.

Owen ging um den Baum herum.

»Wir haben keine Leiter«, sagte Nora in der Hoffnung, das Projekt zu beenden.

»Die würde sowieso nicht so weit raufreichen«, erklärte er.

Dann begann er zu ihrer Überraschung hinaufzuklettern. Schon bald war er zwischen den oberen Ästen nicht mehr zu sehen. Nur ihre zitternden Enden zeugten von seiner Anwesenheit.

»Gleich fällt er runter«, sagte Ella, fast ein wenig hoffnungsvoll.

»Nein«, widersprach Nora vehementer als beabsichtigt. »Er macht das für dich.«

»Tatsächlich?« Wieder dieser intensive Blick.

Der Drachen stürzte in eine Ginsterhecke, so dass die gelben Blütenblätter durch die Luft wirbelten.

»Nein!«, rief Annie aus.

Einer der Flügel war gebrochen – ob gerade erst, ließ sich schwer beurteilen. Für Ella stand der Schuldige fest. »Sie haben ihn kaputt gemacht«, warf sie Owen vor, als er, die Hände klebrig vom Harz, herunterkletterte.

Eine Wolke schob sich vor die Sonne und warf ihren Schatten auf die Wiese und die vier, die dort standen.

»Er war schon so«, versicherte Annie.

»Nein, das stimmt nicht«, widersprach Ella.

»Wir könnten einen neuen besorgen«, schlug Owen vor.

»Ich will aber den alten«, beharrte Ella. »Ich will alles wieder wie früher haben.«

»Immerhin hat Owen ihn runtergeholt. Das wolltest du doch«, erinnerte Nora sie. »Sei nicht so unhöflich und bedank dich.«

»Das ist dein Ressort«, sagte Ella.

»Was?«

»Dankbarkeit.«

Nora spürte, wie sie rot wurde. »Falls du damit Höflichkeit meinst, hast du recht. Und das Gleiche erwarte ich von dir.«

»Klar, Höflichkeit. Schau doch, wie weit uns die gebracht hat. Alle anderen dürfen behaupten, was sie wollen. Sogar irgendwelche dämlichen Leute im Internet, die uns gar nicht kennen.« Sie packte den Drachen und stapfte zu einem Felsen.

»Tut mir leid«, sagte Nora zu Owen.

»Nehmen Sie’s nicht persönlich. Sie ist zu allen so gemein«, erklärte Annie ihm. »Wir warten noch drauf, dass das anders wird.«

»Kein Problem. Ich wäre auch wütend, wenn der Drachen mir gehören würde.«

»Wo waren Sie?«, fragte Annie. »Wir haben Sie lange nicht gesehen.«

»Ich hatte auf dem Meer zu tun.«

Annie machte den Mund auf, um ihn etwas zu fragen, überlegte es sich dann aber anders.

Ella hielt den Drachen in den Armen wie ein Kind und betrachtete den Korb mit finsterem Blick. »Gibt’s heute schon wieder Fisch? Der stinkt. Den esse ich nicht.«

»Dann bleibt mehr für uns«, erwiderte Nora.

»Immer nur Fisch, Fisch, Fisch.«

»Ella Grace Cunningham«, sagte Nora streng.

»Hilfst du mir Muscheln sammeln?«, fragte Owen Annie. »In eurer Bucht finden wir die besten, vorausgesetzt, eurer Mutter macht’s nichts aus zu teilen.«

»Natürlich nicht«, versicherte ihm Nora.

Annie lief Owen voran. Nora hätte sie gern begleitet, musste sich aber mit Ella auseinandersetzen.

Ella schüttelte den Kopf über Annie. »Sollte es aber.«

»Was sollte?«

»Es sollte dir was ausmachen zu teilen.«

»Was ich tue, geht dich nichts an, meine Liebe.«

»Weil du älter und klüger bist? Bist du das wirklich? Manchmal finde ich dich nämlich überhaupt nicht klug.«

Nora traten Tränen in die Augen. »Wir tun unser Bestes. Ich. Dein Dad.« Ella gegenüber musste sie das behaupten, auch wenn sie es selbst nicht immer glaubte.

»Ich dachte, du hasst ihn. Du hasst ihn doch, oder? Gib’s zu!« Ella warf den Drachen auf den Boden und trampelte darauf herum.

Nora zog sie zu sich heran. Ellas schmaler Körper flatterte in ihren Armen wie ein kleiner Vogel, wie zuvor der Drachen im Baum.

»Lass mich los!«, schrie Ella. Ihr Ellbogen traf Nora an der Wange.

»Lass es raus«, sagte Nora leise.

Sie fielen ins Gras, wo sie eine Weile reglos und mit wild pochenden Herzen liegen blieben. Als ihre Blicke sich trafen, glaubte Nora kurz, dass Ella sich von ihr in die Arme nehmen lassen würde, dass sie endlich miteinander weinen könnten.

Doch das ging nicht, nicht an jenem Tag. Ella stand auf und rannte weg.

»El!«

Nora sah ihrer Tochter nach, wie sie in dem Wäldchen verschwand. Obwohl sie es gern getan hätte, folgte sie ihr nicht. Ella sollte nach Hause kommen, wenn sie dazu bereit war.