FÜNF
Jeden Nachmittag schwammen Nora und die Mädchen in der kleinen Bucht und kletterten über die von der Sonne aufgeheizten Felsen. Ihre Handtücher, die über Treibholzstücken ausgebreitet lagen, knatterten im Wind wie bunte Fahnen. Manchmal nahmen sie Schnorchel mit, um das Leben unter Wasser zu beobachten – Seesterne, Elritzen, Seeanemonen. Und sie machten die Bekanntschaft eines Aals, der zwischen den Felsen lebte. Er beäugte sie von seiner Steinfestung aus, seine wulstigen Lippen bewegten sich lautlos. Er hatte das Gesicht eines alten Mannes, das Nora an einen konfuzianischen Weisen oder englischen Friedensrichter erinnerte.
»Beißt der?«, fragte Annie, die neben Nora und Ella Wasser trat.
»Wahrscheinlich nur, wenn er sich bedroht fühlt«, antwortete Nora. »Trotzdem sollten wir Abstand halten.«
Was hatte er in seinem langen Leben schon alles gesehen? Hatte er oder einer seiner Vorfahren beobachtet, wie Nora und ihre Mutter an jenem Tag das letzte Mal mit dem Ruderboot hinausgefahren waren? Hatte der Aal ihre Gespräche damals belauscht, an die Nora sich nicht mehr erinnerte?
»Vorsicht, Mom«, warnte Ella Nora, als diese den Felsen zu nahe kam.
»Danke, El. Möchtet ihr eine Runde trainieren, zwischen den Felsen durchschwimmen?« Es handelte sich um eine sichere Distanz im brusthohen Wasser.
»Und du?«
»Ich bin da drüben.« Sie deutete auf den äußeren Bereich der kleinen Bucht.
Sie schwamm scheinbar mühelos. Es war, als würde sie mit dem Meer atmen, als wäre sie Teil davon. Ein Seehund tauchte auf, dann ein zweiter. Sie begleiteten sie, lotsten sie ins tiefere Wasser. Sie hatte das Gefühl, stundenlang so weiterschwimmen zu können.
Maeve hatte ihr, eine Hand auf ihrem Rücken, in dieser kleinen Bucht das Schwimmen beigebracht. »Kinn hoch, Augen auf den Himmel richten. Keine Angst. Ich halte dich. Siehst du, es ist ganz einfach. Du bist ein Naturtalent wie ich.« Sie hatten das Brustschwimmen geübt, das Nora gefiel, weil sie sich dabei vorkam wie eine Kaulquappe oder ein über die Oberfläche huschender Käfer. Und schließlich das Freistilschwimmen. »Ellbogen hoch, ins Wasser greifen. Von den Hüften nach hinten treten. Von da kommt die Kraft. Kopf runter, Kinn auf die Brust. Ja, genau.«
Die Seehunde hatten sie und Maeve begleitet.
»Was wollen sie?«, hatte Nora sich erkundigt.
»Sie fragen sich, was für Wesen wir sind.«
»Und was sind wir?«
»Was wärst du denn gern?«
»Ein Geschöpf des Meeres.«
»Dann bist du das.«
»Mom!«, rief Ella.
Nora wandte sich um. Sie befand sich außerhalb der kleinen Bucht. Ella winkte ihr von einer Felsnase aus zu. »Hast du mich nicht gehört? Du bist zu weit draußen!«
Die Seehunde bildeten einen Halbkreis um Nora. Sie fand ihre Neugierde merkwürdig, hatte aber keine Angst, sondern fand sie faszinierend. »Was denkt ihr?«, fragte sie. »Was wollt ihr von mir?«
Sie verschwanden. Nora wartete einige Minuten, in der Hoffnung, dass sie wieder auftauchen würden, doch das passierte nicht. Und für sie wurde es Zeit zurückzukehren. Nora schwamm mit brennenden Gliedern ans Ufer. Sie hatte unterschätzt, wie weit sie hinausgeschwommen war, wie viel Kraft der Rückweg kostete.
»Du musst näher am Ufer bleiben. Ich konnte dich kaum noch erkennen«, sagte Ella, als Nora aus dem Wasser stieg.
»Ich bin den Seehunden gefolgt«, erklärte Nora. Ihr Körper fühlte sich schwer an, ihre Muskeln schienen an Land, wo das Wasser sie nicht mehr trug, aus Gummi zu bestehen.
»Für die Seehunde ist das okay. Die leben da draußen. Aber wir nicht.« Ella reckte stolz das Kinn vor. »Ich bin so schnell wie noch nie geschwommen. Du hättest mich sehen sollen.«
»Ich auch«, meldete sich Annie zu Wort.
»Das muss am Wasser liegen.« Nora schüttelte ihre Haare aus.
Sie breiteten die Handtücher aus und sanken auf den Strand. Wassertropfen liefen ihre Körper hinunter, wurden vom Sand aufgesaugt, von der Sonne getrocknet und hinterließen einen Salzfilm auf der Haut. Nora erinnerte sich, wie sie vor dem bescheidenen Strandhaus ihrer Freundin Maria Cordova in der Sonne gelegen hatte. Von elf bis dreizehn Jahren, als Maria und Nora beste Freundinnen gewesen waren, hatte Nora jeden Juli eine Woche am Cape verbracht und den Geruch von Paella und die Ausgelassenheit von Marias Großfamilie genossen, die in krassem Gegensatz zu der Ruhe bei ihr zu Hause stand. Sie war die einzige Schülerin von St. Agnes ohne Mutter gewesen.
»Bleibt’s in den nächsten Tagen so warm?«, fragte Ella. »Ich würde gern noch ein bisschen brauner werden.«
»Schwer zu sagen. Später könnte ein Sturm aufkommen«, antwortete Nora. »Aber um diese Jahreszeit ziehen die Gewitter schnell vorbei.«
»Woher weißt du das?«, erkundigte sich Annie.
»Das verrät uns das Meer.« Die Wellen brachen sich flach und mit großer Wucht am Ufer. Ihr Vater hatte ihr als Kind erklärt, worauf sie während ihrer samstagmorgendlichen Segelausflüge im Bostoner Hafen achten musste.
»Was verrät es uns sonst noch?«
»Das wird sich zeigen.« Nora kitzelte sie. »Lasst uns zum Cottage hochgehen. Bald ist es Zeit fürs Abendessen.«
Während Nora abspülte (sie und die Mädchen wechselten sich jeden Abend ab – sie nannten das Tellerdemokratie), spielten die Mädchen Jenga und diskutierten über die Glaubwürdigkeit von Märchen. Annie hielt sie für wahr, Ella hatte ihre Zweifel.
»Sie sollen doch gar nicht real sein«, meinte Ella. »Das sind Geschichten, die die Menschen sich ausdenken, um Dinge zu erklären, die sie nicht verstehen.«
»Das glaube ich dir nicht.«
»Du hast keine stichhaltigen Argumente.«
»Und du klingst mal wieder wie eine Anwältin.«
Wie Malcolm. Nora, die einen Teller in der Hand drehte, fragte sich, wer sie jetzt war, abgesehen von ihrer Rolle als Politikergattin, einer Rolle, von der sie sich zu lange hatte definieren lassen. Sie hatte ein abgeschlossenes Jurastudium, sie spielte Gastgeberin für Vertreter der Stadt, saß im Vorstand des Kunstvereins, aber wer war sie wirklich? Was wollte sie? Das wusste sie immer noch nicht. Die Putzmittelflaschen auf der Arbeitsfläche erinnerten sie an ihre Pflicht. Hätte sie ihre Zweifel doch so leicht entfernen können wie Ketchupflecken!
Sie stellte den Teller ins Abtropfgestell und scheuerte heftiger als unbedingt nötig an einem Topf mit eingebrannter Spaghettisauce. In letzter Zeit war es ihr schwergefallen, sich zu konzentrieren. In dem Cottage fühlte sie sich gleichzeitig zu Hause und unsicher. Es hatte sich nicht ganz als der erhoffte Rückzugsort erwiesen, weil es Fragen aufwarf und das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war, sie überallhin begleitete.
»Ich hab recht«, sagte Ella. »Das willst du bloß nicht zugeben.«
»Du bist wie eine dunkle Wolke, aus der es regnet.«
»Regen ist was Gutes. Er reinigt und lässt alles wachsen«, erwiderte Ella.
»Aber nicht die Sorte mit Schlamm und Fluten, die Sachen mitreißen und in denen Menschen ertrinken.«
»Worum geht’s?« Nora hatte das Gefühl, sich einschalten zu müssen, bevor die Auseinandersetzung eskalierte.
»Um Regen«, antwortete Ella.
»Wie kann man nur über so was Harmloses streiten? Wir sollten das Cottage ›das Zankhaus‹ nennen.«
Die Mädchen verstummten. Vielleicht dachten sie an ihren Vater, der gern spielerisch Gerichtsverhandlungen inszenierte, wenn sie sich stritten. Dabei setzte er eine Perücke auf oder drückte auf eine Hupe, die von einer Silvesterparty übrig geblieben war, und schlüpfte in die Rolle eines komischen Richters namens Hermunculus A. Budge (»Judge Budge«), bis sich ihre Auseinandersetzungen in Gelächter auflösten.
»Du bist dran«, sagte Ella zu Annie und deutete auf den Jenga-Turm, den sie gebaut hatten.
»Da geht nichts.«
»Du bist trotzdem dran. Du musst – es sei denn, du gibst auf.«
»Cunninghams geben niemals auf.«
Wieder die Worte ihres Vaters. Er war überall, in allem. Nora scheuerte und scheuerte, bis ihre Schulter schmerzte und ihre Fingerspitzen wund waren. Malcolm krallte sich in ihren Gedanken fest, in ihren Träumen; ihre Gefühle für ihn existierten in Fragmenten weiter, mit ihrer Wut, ihrer Verletzung, fast gegen ihren Willen.
Nach langem Grübeln zog Annie ein Holzklötzchen aus dem Turm. Er geriet ins Wanken. Sie fuchtelte voller Panik herum. »Nein!«
»Lass die anderen Klötzchen. Die darfst du nicht berühren, nur das eine, das du rausnimmst.«
»Das weiß ich!«
Der Turm stürzte klappernd auf den Tisch. »Ich hasse dieses Spiel.« Annie kickte ein Klötzchen durchs Zimmer.
»Weil du immer verlierst«, erklärte Ella. »Du musst dir eine Strategie zurechtlegen, bevor du irgendwas machst.«
»Deine Strategie ist, dass du gewinnen willst. Du gewinnst immer.«
»Das Privileg der Erstgeborenen.«
»Das ist unfair.«
Ella beugte sich mit vorgerecktem Kinn vor. »Das Leben ist eben nicht gerecht.«
»El, es reicht. Und Annie: Lass die Klötzchen liegen«, ermahnte Nora sie.
Die Lichter flackerten.
»Stromausfall?«, fragte Annie.
»Möglich«, antwortete Nora.
»Na toll«, brummte Ella. »Dann wird’s jetzt arschkalt und finster, und ich stoß mir in der Dunkelheit die Zehen an.«
»So kalt ist es auch wieder nicht. Du kannst ja noch nicht mal den Atem vor dem Mund sehen.«
»Für heute Abend haben wir genug Brennholz«, sagte Nora. Morgen würde sie Treibholz zum Trocknen vom Strand holen müssen. »Und Kerzen, falls der Strom tatsächlich ausfällt. Tante Maire hat einen Generator. Wenn alle Stricke reißen, gehen wir zu ihr.«
»In dem Sturm schickt man keinen Hund vor die Tür«, meinte Ella. »Da ist man in null Komma nichts bis auf die Knochen nass.« Der Regen strömte tatsächlich an den Fensterscheiben herunter. »Warum sind wir nicht irgendwohin gefahren, wo’s warm ist, zum Beispiel in die Karibik?«
Dort hatten sie den Winterurlaub verbringen wollen, bevor der Skandal ihre Pläne durchkreuzte.
»Der Sturm müsste bald vorbei sein«, sagte Nora. »Man sieht den Mond schon.« Er tauchte in der Tat hin und wieder über der donnernden Brandung auf wie das Licht eines himmlischen Leuchtturms.
»Ja?« Annie rückte einen Stuhl heran und schaute, Ellbogen auf dem Fensterbrett, hinaus. »Tante Maire sagt, früher wären Schiffe hier zerschellt.«
»Gleich kommen die Geister rauf zu dir«, drohte Ella ihr. »Das machen sie gern bei Leuten, die sie durchs Fenster beobachten. Wenn sich eure Blicke treffen, stellen sie eine Verbindung her, du lässt sie sozusagen herein.«
»Auf dich würden sie sich zuerst stürzen, weil du so gemein bist.«
»Hört, hört!«
Nora seufzte. Ihre Arme steckten bis zu den Ellbogen im Spülwasser, und sie wollte nicht wieder Schiedsrichterin spielen. Sie fragte sich oft, wie es gewesen wäre, wenn sie ein weiteres Kind gehabt hätte. Vor der Affäre hatten sie und Malcolm mit dem Gedanken gespielt. (Sie öfter als er, das musste sie zugeben.) Es hätte noch ein Kind gegeben, zwischen den Mädchen, wenn sie in jenem Winter vor neun Jahren keine Fehlgeburt erlitten hätte. Am Anfang hatte sie mit niemandem über ihre Schwangerschaft geredet, und am Ende hatte sie behauptet, sie hätte sich eine Grippe zugezogen, weil sie das Mitleid anderer Leute nicht ertrug. Obwohl Malcolm ihr nach Kräften beigestanden hatte, hatte sie sich in jenen Wochen allein gefühlt. Wenn er zur Arbeit ging, war sie allein zurückgeblieben, Ella in der Vorschule, ein Schwarz-Weiß-Film nach dem anderen im Fernsehen, Leoparden küsst man nicht, Casablanca, Der dritte Mann, geliebte Klassiker, die den Nebel aus ungläubiger Trauer nicht durchdringen konnten, bis sie es schließlich nicht mehr länger im Bett ausgehalten hatte. Sie hatte Angst gehabt, es noch einmal zu versuchen, Angst in den ersten Wochen der Schwangerschaft mit Annie, doch die war, anders als bei Ella, wie die Geburt ohne Komplikationen verlaufen.
Nun beobachtete sie ihre heranwachsenden Töchter durch die offene Küchentür des Cottage und sann darüber nach, wie schnell die Jahre vergangen waren, vom Baby und Kleinkind zum Kind und Teenager. Annie mit dem Gesicht an der Fensterscheibe, Ella mit der Nase in einem Buch.
Annie begann zu winken. »Ich winke den Wellen zu. Und sie winken immer zurück.«
»Was für eine Weisheit«, schnaubte Ella, ohne den Blick zu heben.
»Ich sehe was«, sagte Annie.
»Du siehst ständig irgendwas«, erwiderte Ella.
»Nein, wirklich. Da ist jemand unten an den Felsen. Er rührt sich nicht.«
»Wahrscheinlich ein Seehund«, meinte Ella.
»Ich kenne den Unterschied zwischen einem Menschen und einem Seehund«, wehrte sich Annie und fügte mit leiserer Stimme hinzu: »Was, wenn er tot ist?«
»Das wär doch mal was Interessantes«, brummte Ella.
»Mama!« Annie wandte sich an Nora.
»Lass mich schauen.« Nora trat zu Annie ans Fenster.
Ja, tatsächlich: Da lag etwas, jemand auf einem Felsvorsprung. »Bleibt hier.« Sie schlüpfte in eine Regenjacke. »Ich bin gleich wieder da.«
Nora stemmte sich gegen den Wind, der ihre Jacke bauschte und ihr die Kapuze herunterriss. Sekunden später war sie bis auf die Knochen nass. Wasser rann ihr den Rücken hinunter, die Haare klebten ihr am Kopf. Der Regen prasselte so heftig hernieder, dass sie kaum noch etwas sah. Wolken, die am Mond vorbeijagten, warfen Schatten auf den Strand, flüchtig, geisterhaft. Es war leicht, sich Dinge einzubilden, die nicht da waren. Das Meer donnerte gegen die Felsen, dass die Gischt hochspritzte. Kiesel und Muscheln klackerten über den Strand. Während Nora, die in ihrer Eile keine Gummistiefel angezogen hatte, auf dem rutschigen Weg dahinstolperte, schaute sie zu Maires dunklem Haus hinüber. Dies war keine Zeit, zu der man sie wecken konnte.
Sie glitt die Uferböschung hinunter und wäre bei einem Sprung über die Felsen fast ausgerutscht. Jetzt sah sie mehr. Es war tatsächlich ein Mann, der wie schlafend auf der Seite lag. Sie rief ihm etwas zu, doch er rührte sich nicht. Nora bemühte sich, ruhig zu bleiben, sich an den Erste-Hilfe-Kurs zu erinnern, den sie vor Jahren, nach Ellas Geburt, absolviert hatte. Sie fühlte seinen Puls, überprüfte, ob er atmete. Ja. Er lebte. »Hallo«, sagte sie ihm leise ins Ohr. »Können Sie mich hören?« Flackerten seine Augenlider? Sicher konnte sie sich bei dem heftigen Regen nicht sein. Seine Haut war gebräunt und wettergegerbt, als hätte er viel Zeit im Freien verbracht. Bestimmt ein Fischer. Eine Narbe an seiner Stirn, weitere an seinen Armen und seiner Brust, das Gesicht grobknochig, die Kleidung – oder besser gesagt: was davon noch übrig war, von den Wellen zerfetzt, die Füße nackt. An seinem Kopf eine klaffende Wunde, an anderen Stellen Abschürfungen und Kratzer; die üble Kopfverletzung musste wahrscheinlich genäht werden. Nora riss einen Ärmel von ihrer Arbeitsbluse, faltete den Stoff, drückte ihn gegen seine Schläfe, spürte das warme Blut unter ihrer Hand. Am meisten Angst hatte sie vor Unterkühlung. Sie musste ihn wärmen. Nora legte ihm ihre Jacke, so gut es ging, um die Schultern.
Wie war er hier gelandet? Es war, als hätte das Meer ihn ausgespien. Er lag halb tot auf den Felsen, zu schwer zum Tragen. Sie konnte ihn nicht einfach liegen lassen. Das Wasser stieg, kam näher. Bald würde er wieder in die Fluten gerissen werden.
»Es ist ein Mann!«, rief Annie aus. »Schau …«
»Ich hab euch doch gesagt, ihr sollt drinnen bleiben.« Nora drehte sich zu ihren Töchtern um, die in ihren neuen Regenjacken und Gummistiefeln und mit großen Augen dastanden. »Ich will nicht, dass euch was passiert.«
»Wir wollen helfen«, beharrten sie, ausnahmsweise einmal einer Meinung.
»Ist er tot?«, fragte Ella.
»Nein, nur verletzt.«
»Schlimm?«
»Keine Ahnung. Lauft zu Tante Maire und weckt sie auf. Sie weiß bestimmt, was zu tun ist«, sagte Nora. »Beeilt euch!«
Sie rannten los.
Der Mann schlug die Augen auf. »Wo bin ich?«, fragte er mit tiefer Stimme.
»Am Glass Beach, auf Burke’s Island. Wir müssen Hilfe holen …«
»Mir fehlt nichts.« Er wirkte erstaunlich ruhig. Vielleicht stand er unter Schock.
»Doch«, widersprach sie. »Sie haben eine große Wunde am Kopf und laufen Gefahr, sich zu unterkühlen …«
»Mir ist nicht kalt.« Er sah sie mit großen, fast schwarzen Augen an und berührte ihre Hand. »Fühlen Sie.«
Sie wich zurück. Es war etwas Merkwürdiges an dieser Berührung, die Wärme und etwas anderes, das sie nicht benennen konnte. »Was ist passiert? Hatten Sie einen Unfall?«
»Wahrscheinlich.«
»Warum waren Sie bei diesem Wetter draußen?«
»Keine Ahnung.«
»Ihr Boot …« Sie ließ den Blick über die Wellen und Felsen schweifen. Nichts. Es musste schnell gesunken sein, in einiger Entfernung vom Ufer.
»Immerhin lebe ich noch«, stellte er fest. »Apropos Unterkühlung: Sie scheinen ohne Jacke unterwegs zu sein.«
»Die habe ich Ihnen gegeben«, erklärte sie. »Bitte bewegen Sie sich nicht. Meine Tante muss jeden Moment da sein. Sie kennt sich aus in medizinischen Dingen.«
»Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich keine Hilfe brauche.« Er setzte sich ächzend auf, schüttelte die Jacke ab und reichte sie ihr. »Ich glaube, die passt Ihnen besser als mir. Ziehen Sie sie an. Sie zittern.«
Tatsächlich? Sie spürte ihre Hände vor Kälte fast nicht mehr und machte sich nicht die Mühe, die Jacke zu schließen. »Wer sind Sie?«, fragte sie. »Wie heißen Sie?«
Er runzelte die Stirn. »Ich weiß es nicht.«
Die Kopfverletzung schien schlimmer zu sein, als sie aussah. Nora wollte ihm gerade weitere Fragen stellen, als Maire und die Mädchen auftauchten.
»Wir sind da!«, rief Maire, den Erste-Hilfe-Kasten in der Hand. Der Regen prasselte unaufhörlich auf ihre Kapuzen, während sie sich im Halbkreis um den Mann aufstellten.
Im Mittelpunkt zu stehen, verwirrte ihn sichtlich. »Vielleicht sollte ich öfter Schiffbruch erleiden.«
»Es gibt einfachere Methoden, die Aufmerksamkeit einer Frau auf sich zu ziehen«, meinte Maire. »Lassen Sie sich mal anschauen.« Sie leuchtete ihm in die Augen, stellte Fragen und versorgte die Wunde.
Maire hatte also auch eine andere Seite, dachte Nora: Sie war ruhig wie immer und dazu stahlhart.
»Was sehen Sie?«, fragte er Maire.
»Einen Mann, der von Glück sagen kann, dass er noch am Leben ist.«
»Wohl wahr.«
»Er weiß seinen Namen nicht mehr«, bemerkte Nora. »Es könnte was Ernstes sein …«
»Eine Gehirnerschütterung, nichts weiter«, beharrte er. »Bitte machen Sie sich keine Umstände …«
Maire wandte sich Nora zu. »Ich kümmere mich um ihn. Geh du mit den Mädchen nach Hause. In einer Nacht wie dieser haben sie draußen nichts verloren – und du auch nicht.«