DREI
Das ist der Hauptort Portakinney. Auf dem Herweg müsstet ihr eigentlich hier durchgekommen sein«, erklärte Maire, als sie in ihrem braunen Truck, an dessen Rückspiegel ein Rosenkranz baumelte, in die kleine Stadt mit den Steinhäusern und schindelgedeckten Gebäuden fuhr, die den Elementen trotzten. Netze hingen, mit bunten Schwimmern versehen, zum Trocknen über Zäunen, Reusen und Gummistiefel standen auf den Stufen vor den Türen.
»Putzig hier«, bemerkte Ella, die Knobelbecher – neben ihren hohen schwarzen Converse-Sneakers ihre Lieblingsfußbekleidung – trug und in Streitlaune war. Nora mischte sich in Kleiderfragen nicht ein, sondern freute sich sogar insgeheim darüber, dass Ella sich gegen die Vorschriften von St. Ignatius (St. Iggie’s, wie sie die Schule nannten) wehrte, wo die Mädchen die erste beziehungsweise sechste Klasse abgeschlossen hatten.
Für Ella waren es schwierige Wochen gewesen. Sie hatte sich von ihren Freundinnen zurückgezogen, sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und mit ihrem iPod von der Außenwelt abgeschottet. (Auch hier auf der Insel war das Ding stets griffbereit.) Auf Annie hatte sich der Skandal nicht ganz so schlimm ausgewirkt. In jüngeren Jahren war die Aufmerksamkeitsspanne kürzer, und außerdem besaß Annie sowieso ein sonniges Gemüt. Leider hatten sich einige von Ellas Freundinnen distanziert, sei es nun aus Zickigkeit oder weil die Eltern es ihnen vormachten. Und Ellas analytisches, zurückhaltendes Wesen machte die Situation nicht gerade einfacher.
»Das sagen manche der Kids hier auch«, erklärte Maire. »Teenager wollen die Welt sehen. Kleine Orte und Inseln werden ihnen zu eng.«
Vier Vertreter der Teenagerbevölkerung, kein einziger mit Helm oder Knieschützern, kamen in halsbrecherischer Geschwindigkeit auf Skateboards herangebraust und verfehlten nur knapp die vordere Stoßstange des Trucks. Maire bremste gelassen, fast, als hätte sie die jungen Leute erwartet. Nora ertappte Ella dabei, wie sie zwei der etwa fünfzehnjährigen Jungen genauer musterte, deren Strickmützen und Flanellhemden auch in Boston ins Bild gepasst hätten.
»Schau nicht so auffällig«, sagte Annie.
»Klappe«, herrschte Ella sie an. In den letzten Wochen in Boston hatte sie es sich angewöhnt, sich lange im Bad aufzuhalten, sich zu stylen und vor dem Spiegel das Mienenspiel zu üben, das nötig war, um verächtlich eine Augenbraue zu heben.
Polly Clennon hupte ihnen von ihrem Postauto, einem leuchtend roten Kastenwagen, aus zu, als sie aus dem Ort hinausbrauste. »Sie fährt immer mit Bleifuß«, bemerkte Maire nachsichtig. »Hat aber noch nie einen Unfall gebaut. Die geborene Rennfahrerin.« Maire beschrieb auch die anderen Leute im Ort, denen sie begegneten – ein Fischer, der die Straße in hüfthohen Anglerstiefeln entlangstapfte, einen Matchsack in der Hand (»Das ist Duff Creehan auf dem Weg zur Arbeit. Er will zu einem der Trawler«, sagte sie und drückte zur Begrüßung auf die Hupe.); eine ältere Frau mit gebeugtem Rücken (»Meera Dooley – mit ihren fast achtundneunzig geht sie noch jeden Tag zu Fuß nach Portakinney.«), die ihnen zuwinkte – und wie angewurzelt stehen blieb, als sie Nora und die Mädchen in dem Wagen bemerkte. Auf die Insel verirrten sich nicht viele Touristen, weil sie zu abgelegen war und keine nennenswerten Attraktionen zu bieten hatte. Den neugeborenen Bevan eingeschlossen, zählte die Bevölkerung zweihunderteine Seelen auf einem Stück Land, das an der breitesten Stelle nicht einmal fünf Kilometer maß.
Maire lenkte den Truck rumpelnd die steile Hauptstraße entlang. »Besonders bequem ist er nicht«, entschuldigte sie sich, »aber er bringt uns sicher ans Ziel. Die Straßen hier sind unübersichtlich, es ist gut, wenn man hoch sitzt.« Sie stellte den Wagen vor Scanlon’s Mercantile ab. »Da wären wir.«
Im Ort war es ruhig, abgesehen vom Hämmern und Rufen am Pier, wo die Fischer ihren Fang entluden. Große und kleine Fischkutter und Trawler drängten sich in dem kleinen Hafen. Ihre Kapitäne und die mit Flanellhemden und fischblutgetränkten T-Shirts bekleideten Crewmitglieder riefen einander Anweisungen zu, während Sturmvögel, Sturmtaucher, Möwen und Seeschwalben, die die Abfälle interessiert beäugten, über ihnen kreisten. Keine Reporter. Keine Kameras. Keine unerwünschten Fragen.
Am schwarzen Brett vor Scanlon’s hingen mit Reißzwecken befestigte Ankündigungen und Anzeigen:
Ersatzreifen zu verkaufen – fürs Auto, nicht für den Bauch.
Nicht vergessen: Samstagsmarkt. The Docks, Portakinney.
Bodhrán-Unterricht zu günstigen Preisen.
Workshop für irischen Tanz, in der Woche ab dem 12. Juni. Weitere Informationen von Rena McGlone.
Als Maire die Tür öffnete, erklang die Ladenglocke. Im Hintergrund spielte Musik aus den Achtzigern, die Nora in ihre Jugend zurückversetzte, als sie noch lange Haare und hehre Ideale gehabt hatte, ihr Gesicht faltenlos und ihre Röcke kurz gewesen waren; kurz bevor sie Malcolm im Jurastudium kennengelernt hatte. »Lies, lies, lies, yeah – Lügen, Lügen, Lügen, yeah«, sangen die Thompson Twins.
»Kennst du den Song, Mama?«, fragte Annie.
Nora nickte.
Hinter dem Eingang lag ein Golden Retriever. »Das ist Mortimer«, stellte Maire ihn vor, als er mit dem Schwanz wedelte. »Ein richtiger Faulpelz, aber lieb, besonders wenn er Leckerli kriegt oder hinterm Ohr gekrault wird.«
»Das mögen nicht nur Tiere«, stellte Nora lächelnd fest.
»Menschen sind Tiere«, meldete sich Ella zu Wort.
Fast hätte Nora die Augen verdreht. Die altkluge Ella.
Mortimer leckte Ellas Hand. Sie ging neben ihm in die Hocke, und wenige Sekunden später lag sein Kopf in ihrem Schoß. »Kriegen wir einen Hund, Mom?«
Die Frage hatte Nora befürchtet. »Wir bleiben nur den Sommer über hier, Liebes.«
»Ich weiß. Ich meine, wenn wir wieder in Boston sind.«
Bisher hatte Nora alle Gedanken an die Rückkehr beiseitegeschoben. »Warten wir’s ab.«
»Das sagst du immer«, stellte Annie fest.
Nora, die keine Lust hatte, weiter über das Thema zu reden, wählte rote Geranien aus dem Pflanzenregal neben dem Eingang.
»Deine Mutter hatte die immer in den Blumenkästen vor dem Fenster des Cottage«, erzählte Maire. »Weil sie es freundlicher machten.«
Nora spürte ein Prickeln im Nacken. Erinnerte sie sich daran?
»Die musst du nicht reinschleppen. Sag einfach Alison oder Liam an der Kasse Bescheid, dann setzen sie sie auf die Rechnung.«
Annie erbettelte eine Süßigkeit aus dem Automaten, in dem Schätze, umhüllt von Plastikkapseln, ihrer harrten, die sie für den Preis einer Münze heben konnte. Bitte. Bitte.
»Hier lang«, sagte Maire, deren Gummistiefel, die gängige Fußbekleidung der Insulaner, über den unebenen Linoleumboden quatschten. Nora und die Mädchen holten sich herabgesetzte marineblaue und waldgrüne Stiefel aus Gang eins.
In dem Laden gab es alles vom Seil bis zum Fischernetz, vom Wachstuch bis zum Stickgarn. Maire führte sie zur östlichen Seite, wo Wandfarbenmuster ausgestellt waren. Annie entschied sich wie angekündigt für Himmelblau, Ella für Taubengrau (immerhin ein angenehmer Farbton; Nora hatte Schlimmeres befürchtet) und Nora für helle Eierschalenfarbe mit freundlichem Weiß für die Zierleisten. An Reusen und Anglerstiefeln vorbei gingen sie zum hinteren Ende des Ladens, um sich die Farben von einer blassen jungen Frau mischen zu lassen – Nora schätzte sie auf Anfang zwanzig –, die schwarze Röhrenjeans und ein T-Shirt mit Löchern sowie eine Schlangentätowierung um ihr linkes Handgelenk trug. Sie blinzelte sie unter ihrem zotteligen schwarzen Pony hervor an.
»Sie sieht aus wie ein Vampir«, flüsterte Annie.
»Pass auf, was du sagst. Wir Vampire haben ein sehr feines Gehör.« Die grauen Augen des Mädchens funkelten belustigt. »Wie Fledermäuse.«
»Ist nicht ihr Ernst, oder?«, fragte Annie Ella, während sie die Piercings in den Ohren des Mädchens zählte (sechs).
»Darauf würde ich mich nicht verlassen«, meinte Ella.
»Alison, wie geht’s?«, erkundigte sich Maire.
Das Mädchen zuckte mit den Achseln. »Wie üblich. Mir ist sterbenslangweilig.« Sie sah Annie an. »Ach, das hatte ich vergessen: Ich bin eine Untote.«
Annie deutete auf das Pflaster an Alisons Finger. »Vampire bluten nicht.«
»Gut beobachtet«, lobte Alison sie schmunzelnd. »Du hast dir meine Lieblingsfarbe ausgesucht, Himmelblau.«
Während die Mischmaschine mit ohrenbetäubendem Lärm die Farbeimer durchrüttelte, schlurfte eine Frau in weiter grüner Militärregenjacke und Fischerpullover zur hinteren Tür herein. Ihr kurzer Hals reckte sich aus dem Panzer ihrer Jacke, als wäre sie eine große, mürrische Schildkröte. Ihre Augen, die anfangs noch trübe gewesen waren, begannen zu blitzen, als sie Nora erblickte. »Was machst du hier?«, fragte sie.
»Entschuldigung, kennen wir uns?«, stammelte Nora.
»Maggie, das ist meine Nichte«, stellte Maire Nora vor.
Maggie schenkte ihr keine Beachtung. »Du traust dich was, einfach hier aufzutauchen«, herrschte sie Nora an.
»Mom, was ist los?«, fragte Ella.
»Alles in Ordnung, Liebes …«
»Oma …« Alison versuchte, Maggie zu beruhigen. »Ich kümmere mich schon um die Kunden. Geh doch rüber zu …«
»Kunden? Das ist keine Kundin.« Maggie Scanlon deutete mit dem Finger, den ein ziemlich schmutziger Nagel zierte, auf Nora. »Sie ist …«
»Sie müssen mich mit jemandem verwechseln«, sagte Nora. »Ich bin …«
»Ich weiß, wer du bist«, fiel Maggie ihr ins Wort. »Mich täuschst du nicht, du Meerhexe, du Hure.« Sie bebte vor Zorn, Speichelfetzen hingen in ihren Mundwinkeln.
»Oma!« Alison packte Maggies Arm, als diese sich auf Nora stürzen wollte. »Es reicht!«
»Maggie, bitte.« Maire trat zwischen sie.
»Zu solchen Ausfälligkeiten besteht kein Anlass«, sagte Nora und stellte sich schützend vor die Mädchen.
Maggie wurde noch lauter. »Raus! Raus aus meinem Laden!«
»Gut«, meinte Nora. »Dann kaufen wir eben woanders ein.« Sie schob die Mädchen zur Tür hinaus, die zum offenen Auto rannten.
»Was hatte die Frau denn?«, fragte Annie, als sie sicher in Maires Truck saßen. »Kommt sie raus und brüllt uns hier draußen weiter an?« Sie lugte vorsichtig über den unteren Rand des Fensters hinaus.
»Nein, Liebes. Sie war verwirrt, das ist alles«, erklärte Nora, obwohl auch sie verstohlene Blicke in Richtung Laden warf.
»Tut mir leid«, sagte Maire. »Ich hätte nicht vorgeschlagen herzukommen, wenn ich das geahnt hätte.«
»Es ist nicht deine Schuld«, versicherte Nora ihr.
»Das Gefühl habe ich aber. Ich wusste von ihren Problemen, doch so schlimm habe ich sie noch nie erlebt.« Sie kramte in ihrer Handtasche nach dem Zündschlüssel.
»Ich scheine diese Wirkung auf Menschen zu haben.« Nora versuchte, einen lockeren Tonfall anzuschlagen, während sie mit zitternden Händen den Sicherheitsgurt anlegte.
»Ich hab gleich gesagt, wir sollen nach Hause fahren«, erklärte Ella.
»Wir sind bald da«, versprach Maire. »Ich muss nur noch die Schlüssel finden. Die Tasche ist einfach zu groß, in der findet man einfach nichts. Manchmal komme ich mir vor wie ein Zauberer mit seinem Zylinder. Polly meint, eines Tages werde ich ein Kaninchen rausziehen.«
»Ich meine unser richtiges Zuhause in Boston«, erklärte Ella.
»Wir sind doch grade erst hergekommen«, beklagte sich Annie. »Die Frau hat mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt.«
»Lasst euch nicht von Maggie einschüchtern«, sagte Maire, die immer noch in ihrer Handtasche wühlte.
Hoffentlich hat Maire die Schlüssel nicht im Laden gelassen, dachte Nora. Der Gedanke, noch einmal hineinzumüssen, behagte ihr nicht.
»Ich hab vor nichts Angst«, erklärte Ella. »Aber ich mag sie nicht.«
»In letzter Zeit hat sie sich verändert. Bitte macht euch deswegen kein falsches Bild von ihr und der Insel. Bis morgen hat sie’s wahrscheinlich vergessen. Ihr Kurzzeitgedächtnis ist nicht das beste. Ich vergesse auch viel. Hängt vermutlich mit dem Alter zusammen.« Da fiel ihr ein, dass sie die Schlüssel vor Betreten des Ladens in die Jackentasche geschoben hatte. Sie holte sie heraus und steckte einen ins Zündschloss.
»Kennst du sie gut?«, fragte Nora.
»Hier auf der Insel kennen sich alle irgendwie«, antwortete Maire und ließ den Motor an. »Ich würde aber nicht sagen, dass die Familien einander nahestehen, nicht seit …«
Sie zuckten zusammen, als es an der Scheibe klopfte. Es war Alison, die Nora signalisierte, dass sie das Fenster herunterkurbeln solle. »Sie haben Ihre Sachen vergessen.« Alison reichte Nora die Tüten und holte die Blumenkästen. »Tut mir leid, was da drin passiert ist. Dad will Oma nicht im Laden haben, aber sie führt sich immer noch auf, als würde er ihr gehören. Achten Sie gar nicht auf sie. Sie leidet unter Demenz, hat gute Tage und schlechte. Außerdem wollte ich Ihnen sagen, dass die Donnerstage am günstigsten sind, wenn Sie wiederkommen wollen. Da ist sie immer bei meiner Tante im Norden der Insel und läuft Ihnen nicht über den Weg.«
Nora bedankte sich für die Information.
»Beehren Sie uns doch bald mal wieder«, sagte Alison trocken. »Sonst geht’s hier nicht so dramatisch zu.«
»Tschüs.« Maire lenkte den Wagen vom Parkplatz auf die Hauptstraße hinaus.
Alison winkte ihnen vom Gehsteig aus nach. Bald wichen die eng aneinandergereihten Cottages und anderen Gebäude offenen Feldern, auf denen Schafherden, Ziegen, Kühe und hin und wieder ein Pferd grasten.
»Für wen hat Maggie Scanlon mich denn gehalten?«, fragte Nora, als sie an einem kaputten Zaun aus verwittertem grauem Holz vorbeikamen.
Maire antwortete nicht sofort. »Für deine Mutter.«
Später, nach einem Abendessen aus dicker Fischsuppe und selbst gebackenem Brot bei Maire, spielten die Mädchen auf der Terrasse, während die Frauen bei einem Glas Wein vor dem Kamin plauderten. Maire war der Meinung, dass sie sich nach der Aufregung des Nachmittags ein Gläschen oder zwei verdient hatten.
Sie saßen auf dem meergrünen, mit Chenillestoff bezogenen Sofa, das Maire selbst neu aufgepolstert hatte, die Kissen darauf weich und einladend. Ein Stapel Gartenbücher von Rosemary Verey und Gertrude Jekyll lag auf dem Beistelltischchen unter einer Lampe mit Seidenschirm, die Lieblingspassagen mit Post-its markiert, dazu ein Gartenkalender, beim aktuellen Datum aufgeschlagen, mit Notizen darüber, was in diesem Monat zu erledigen war und was Maire gepflanzt hatte. Sonnenlicht drang durch die Vorhänge und sprenkelte die schieferblauen Wände mit Licht- und Schattenpunkten. Die Türen waren geöffnet, um das, was vom Tag noch übrig war, hereinzulassen.
»Kann ich noch irgendwas für euch tun?«, fragte Maire. »Habt ihr genug Platz im Cottage? Ihr könnt auch jederzeit hier in Cliff House wohnen …«
»Wir haben genug Platz, wir sind ja nur zu dritt«, antwortete Nora, die jetzt, da die Mädchen draußen waren, freier sprechen konnte. »Mein Mann Malcolm ist in Boston.«
»Dann sind die Fronten geklärt?«
»Nein, noch nicht. Wir brauchen beide Abstand, um uns über die Situation klar zu werden. Oder zumindest ich. Es ist das Beste so. Die Medien verfolgen ihn auf Schritt und Tritt.« Sie zog an einem losen Faden ihres grünen Pullovers, der die Farbe ihrer Augen besonders gut zur Geltung brachte. »Ich wünschte, du hättest uns gekannt, bevor das alles passiert ist. Wir waren wirklich mal ein sehr schönes Paar.«
»Das glaube ich gern. Und es könnte wieder so werden.«
»Möglich«, sagte Nora, nicht allzu optimistisch. »Was ist mit deiner Familie?« Sie deutete auf die Fotos auf dem Kaminsims.
»Joe und Jamie sind vor drei Jahren beim Fischen verunglückt.«
»Das tut mir leid. Ich wusste nicht …«
»Wir haben so lange getrennt voneinander gelebt, nicht wahr?« Sie wusste so wenig über Nora.
»Ja. Und nach dem Vorfall heute im Laden habe ich das Gefühl, dass ich kaum etwas über meine Mutter weiß.«
Maire schwenkte den Wein in ihrem Glas und betrachtete ihn versonnen.
Sie hatte es sich zur Regel gemacht, nicht oft über Maeve zu sprechen, obwohl diese in ihren Gedanken stets präsent war. Alles Mögliche erinnerte sie an sie – die Farbe Lila (wie der Himmel am Abend oder die Wellen); der Klang des Glockenspiels, das sie so gern berührt hatte, wenn sie zur hinteren Tür hereinkam; Jakobsmuscheln in der halben Schale …
»Wie war sie?«, fragte Nora. »Du bist ihre Schwester. Du musst sie kennen.«
Schwester. Ein Wort mit vielen Bedeutungen. »Maeve hatte etwas ganz Besonderes. Ein inneres Licht.«
»War sie schön?«
»Ja. Aber es war mehr, etwas, das aus ihrem Innern kam. Du kennst sicher Fotos von ihr. Dein Vater hat so viele gemacht. Er war ein guter Fotograf.«
Nora schüttelte den Kopf. »Ich habe keine gefunden und erst beim Ausräumen des Speichers nach seinem Tod letztes Jahr gemerkt, dass er eine Kamera besaß. Es war, als hätte er Maeve vollständig aus seinem Gedächtnis gelöscht.«
»Oh«, sagte Maire verblüfft. »Dann haben wir einiges nachzuholen.« Sie nahm ein Fotoalbum aus dem Regal und setzte sich neben Nora auf die Couch. Das Album hatte einen scharlachroten Einband mit abgewetzten Kanten, die Bilder darin waren schwarz-weiß. »Das da sind deine Großeltern mit deiner Mutter und mir am Strand, als wir Kinder waren.« Die Familienähnlichkeit war frappierend. Noras Mutter blickte, eine Hand in die Hüfte gestemmt, direkt in die Kamera. »Stahlhart, wie deine Großmutter gern gesagt hat. Als Mädchen wollte Maeve Piratin werden, bis sie gemerkt hat, dass das doch nicht so romantisch ist, wie sie dachte.«
Maire blätterte die knisternden Seiten um. »Auf dem ist sie achtzehn.« Maeve stand bis zu den Oberschenkeln im Wasser, das Kleid klebte an ihrer Haut. »An dem Tag war sie in ihrem Baumwolloberteil schwimmen gegangen. Man konnte sie nicht immer dazu überreden, einen Badeanzug anzuziehen. Sie sprang ins Wasser, wann es ihr einfiel, egal, bei welcher Temperatur, mit Kleidern und allem. Die Kälte machte ihr, anders als uns, nichts aus.« Auf dem Foto waren Maeves Augen dunkel wie ihre Augenbrauen, und ihre Haut schimmerte. Maire lugte vom Rand des Fotos in die Kamera, als hoffte sie, bemerkt zu werden.
»War es für dich schwierig, ihre kleine Schwester zu sein?«, erkundigte sich Nora. »Ihr wart doch fast gleich alt.«
Maire überlegte. »Ich habe sie über alles geliebt. Aber manchmal war es tatsächlich schwer, in ihrem Schatten zu stehen. Sie hat sich nicht bewusst nach vorn gedrängt. Vermutlich habe ich mich zu oft im Hintergrund gehalten. Das war meine eigene Schuld, nicht ihre. Ich war damals ziemlich schüchtern und hatte nicht ihr Temperament. Sie war zupackend, ich eher passiv.« Trotzdem hatte es Ähnlichkeiten gegeben wie bei allen Geschwistern – die gleichen Gesten (sie neigten beide dazu, mit den Händen zu reden), das gleiche glockenhelle Lachen (das von Maeve war herzlicher), die gleichen braunen Augen, beide vom Vater geerbt.
Maire blätterte um. »Hier ist ein Bild von deiner Mutter und deinem Vater, kurz nachdem er auf die Insel gekommen war.«
»Wie haben sie sich kennengelernt? Er wollte es mir nicht erzählen.«
»Der Zufall hat deinen Vater hierhergeführt«, antwortete Maire. »Sein Boot wurde im Sturm beschädigt, und er ist zur Reparatur in den Hafen gesegelt. Damals haben sich nicht viele Schoner hierherverirrt. Er konnte von Glück sagen, dass er gesund und munter war, denn in jener Nacht haben etliche Männer ihr Leben verloren. Wahrscheinlich hielt er Maeve für einen Engel. Er hat sie immerzu angesehen, obwohl es andere Frauen gab, die sich für ihn interessierten.«
»Zum Beispiel Maggie Scanlon?«
»Vielleicht.«
»Und meine Mutter hat sich in ihn verliebt?«
»Ich glaube schon. Es war ein Skandal, dass sie sich in einen Mann verguckt hat, der nicht von der Insel kam. Seinerzeit haben die Leute nur selten Fremde geheiratet. Na ja, letztlich ist das heute noch so.«
»Waren sie glücklich miteinander?«
Es gab keine einfachen Antworten, jedenfalls nicht bei Maeve. »Maeve war immer ein unruhiger Geist gewesen, aber mit deinem Vater ist sie ruhiger geworden und hat das Cottage, in dem ihr jetzt seid, in ein Zuhause verwandelt, das Cottage, das von Rechts wegen dir gehört.«
»Mir?«
»Du bist nach mir die letzte McGann.« Maire sah Nora an. »Ich habe Maeve nie so zufrieden erlebt wie damals. Sie war ganz aus dem Häuschen, als sie gemerkt hat, dass sie schwanger ist.«
»Ich bin hier geboren?«
»Am Strand. Als der Geburtstermin näher rückte, ist Maeve immer seltsamer geworden. Sie wollte dich unbedingt im Meer zur Welt bringen. Fast wäre ihr das gelungen, aber zum Glück haben wir sie rechtzeitig gefunden.« Sie war, Selbstgespräche führend, die ganze Zeit im seichten Wasser auf und ab gegangen. Eine Woche vor dem errechneten Geburtstermin hatte Maire Maeve dann aufschreien gehört.
»Wollte sie …?«
»Dich ertränken? Nein. Ich glaube, das war ihre Vorstellung von einer Wassergeburt. Im Winter wäre sie wahrscheinlich nicht auf eine solche Idee gekommen. Du warst ein reizendes kleines Ding und hast nie geweint.« Ein richtiger Wonneproppen mit fast acht Pfund, einem schwarzen Haarschopf und wachen dunklen Augen. Maire erinnerte sich, wie interessiert die kleine Nora geschaut hatte – auf die Gesichter der Frauen und besonders die Wellen, die ihr ganz eigenes Wiegenlied sangen.
»Vielleicht fühle ich mich deshalb seit jeher zum Meer hingezogen.«
»Schwimmst du gern? Deine Mutter hat es geliebt und jedes Jahr das Wettschwimmen ihrer Altersgruppe im offenen Meer gewonnen. Es soll diesen Sommer wieder stattfinden. Möchtest du dich anmelden? Die Mädchen könnten auch mitmachen, auf den kürzeren Strecken.«
»Möglicherweise tun wir das«, sagte Nora.
»Das Meer ruft uns, stimmt’s?«, stellte Maire fest. »Was habe ich neulich gelesen? Dass wir das Meer in uns tragen, weil wir aus Salz und Wasser bestehen?«
»Ja, das habe ich auch schon gehört.«
Die Frauen wandten sich dem offenen Fenster zu. Das Geräusch der Wellen wurde über die Klippen herübergetragen, die kühle Brise bauschte die Vorhänge und vermischte sich mit den Stimmen der Mädchen.
»Aber irgendwann ist etwas passiert, oder? Ich meine, mit meinen Eltern?«, fragte Nora. »Haben sie sich nach meiner Geburt auseinandergelebt?«
»Sie haben sich hier ein glückliches Leben aufgebaut. Dein Vater ist der neue Hafenmeister geworden. Er hatte zuvor für eine Reederei in Boston gearbeitet; wir konnten uns glücklich schätzen, einen so erfahrenen Mann in unserer Mitte zu haben. Und deine Mutter hat wieder ihre Wanderungen aufgenommen, wie früher, vor deinem Vater und dir. Keine Ahnung, was in sie gefahren ist. Sie hatte diesen abwesenden Blick.« Bisweilen hatte Maire sie dabei ertappt, wie sie hinter den Felsen, bei der Landspitze, mit jemandem stritt, aber wenn sie dann zu ihr ging, war Maeve allein gewesen.
»Hatte sie nach der Geburt Depressionen?«
»Schwer zu sagen«, antwortete Maire. »Sie wollte mir nicht verraten, was sie beschäftigte.« Maire klappte das Album zu. Sie hatte nicht geahnt, wie anstrengend ein Blick in die Vergangenheit sein konnte.
Die Sonne wanderte zum Horizont, so dass die Mädchen und das ferne Ufer von Little Burke sich dunkel vor dem gold-lilafarbenen Himmel abzeichneten.
Maire gähnte. »Leider vertrage ich nicht mehr so viel Wein wie früher. Ich fürchte, ich muss ins Bett.«
»Nach der langen Nacht ist das kein Wunder.« Nora hätte das Gespräch gern fortgeführt, war jedoch zu höflich, darauf zu bestehen.
»Es gibt kaum etwas Schöneres, als ein neues Leben in die Welt zu bringen. Babys sind ein großes Geschenk.« Maire drückte sanft Noras Hand. Wie du damals.
Als Nora und die Mädchen über den Strand nach Hause gingen, färbte das Dämmerlicht die Wellen dunkel. Über den Strand, auf dem Nora das Licht der Welt erblickt hatte, im Spiel der Gezeiten, an jenem Abend vor so langer Zeit. Hatte ihre Mutter sie dort drüben, bei den kleinen Tümpeln, die die Flut hinterließ, geboren? Dort auf dem weichen Stück Sand, wo die Felsen sich zu einem perfekten Halbmond formten?
Klaviermusik wehte über die Felder von Maires offenem Fenster herüber, verstummte abrupt und begann dann wieder. Maire hatte gesagt, dass sie gern am Abend spiele, hauptsächlich Debussy; darin drückte sie Leidenschaft und tiefe Gefühle aus, die sie nicht in Worte fassen konnte. Noras Tante besaß Talent, das hörte man. Hatte sie in jungen Jahren gar eine Musikerkarriere angestrebt?, fragte sich Nora.
Ella schlug im Takt nach einer Mücke. Nora wunderte es, dass nicht mehr von den Quälgeistern herumflogen. Maire behauptete, im Frühjahr seien sie zahlreicher und außerdem dezimierten der Wind und die Schwalben sie; zu dieser Jahreszeit mache sie sich kaum jemals die Mühe, Mückenschutzmittel zu verwenden. Nur schade, dass es kein Mittel gegen fremdgehende Ehemänner und ihre Geliebten gab, dachte Nora.
»Worüber denkst du nach?«, wollte Ella wissen.
»Über Insekten.« Zu deren niedrigsten Formen ihr Mann gehörte. »Hat die Mücke dich gestochen?«
Ella schüttelte den Kopf. »Ich hab sie grade noch rechtzeitig erwischt.«
Annie marschierte trötend voran, als führe sie eine Blaskapelle an.
»Klingt wie ein Furz«, stellte Ella fest.
»Nicht so derb, El«, ermahnte Nora sie.
»Ist aber doch wahr. Willst du bei dem Wettschwimmen mitmachen?«, fragte Ella. »Wir haben euch drüber reden hören. Wir könnten dir beim Trainieren helfen.«
»Ihr kleinen Lauscher. Vielleicht. Sie sagt, es gibt auch kürzere Distanzen, für die ihr Mädels euch anmelden könntet – wahrscheinlich habt ihr das auch gehört.«
Ella war sehr ehrgeizig, egal, ob beim Kartenspiel, in der Schule oder im Sport. (Beim Tennis war es schon vorgekommen, dass sie nach einer Niederlage wütend den Schläger weggeschleudert hatte und vom Platz gestapft war.) »Ich werde jeden Tag schwimmen«, erklärte sie. Beide Mädchen hielten sich gern im Wasser auf. Annie war eine vielversprechende Taucherin, Ella schwamm ziemlich schnell. »Meinst du, ich könnte gewinnen?«
»Ich glaube, du schaffst alles, was du dir vornimmst.«
Nora bückte sich, um Meerglasstücke aufzuheben. Es war gerade noch hell genug, um etwas zu erkennen. Grüne, blaue, einige lavendelfarbene und weiße, manche Stücke milchig, andere klar. »Nixentränen« nannte Maire sie. Maeve hatte sie ebenfalls gesammelt. Vor Noras geistigem Auge blitzte eine Erinnerung an Gläser auf dem Fensterbrett des Cottage auf, die ihr Vater in einem Streit mit ihrer Mutter auf den Boden geschleudert hatte, so dass die Scherben über den Boden klapperten. »Nicht drauftreten!«, hatte ihre Mutter, ein schmales Blutband um den Zeh, gerufen. Nora hatte sich an der Tür zu ihrem Zimmer geduckt, als ihr Vater in den gewittrig schwülen Nachmittag hinausmarschiert war. Dann nur noch das Wischen des Besens, als Maeve die Splitter wegfegte und wegwarf, bis auf einen einzigen, den Nora aus einem Winkel rettete und unter ihrem Kissen verbarg.
»Warum sammelst du Meerglas? Willst du’s in Gläsern aufheben wie Tante Maire?«, fragte Annie.
»Ich hab mir gedacht, wir könnten Schmuck draus machen.« Vielleicht im viktorianischen Stil, verspielt, nicht wie die Sachen, die sie in den Strandläden des Festlands gesehen hatte. In ihrem Kopf formten sich bereits Entwürfe. Es erstaunte sie, wie viele Ideen sie hatte. Jetzt bot sich die Gelegenheit, die Fähigkeiten einzusetzen, die sie sich in Kunstkursen angeeignet hatte, nachdem sie aus der Anwaltskanzlei ausgeschieden war, um Zeit für die Kindererziehung zu haben.
»Wir helfen dir!« Sie hoben ganze Hände voll vom Boden auf, manche Stücke verwertbar, andere nicht. Nora würde sie später sortieren.
»Schau«, sagte Annie. »Die Seehunde surfen.«
Das Meerglas wog schwer in Noras Taschen, zog sie herunter, doch sie konnte nicht aufhören mit dem Suchen, weil sich immer ein noch größerer Schatz, ein noch perfekteres Stück fand. Die Aufgabe erforderte fast meditative Konzentration, die sie beruhigte und von ihren Gedanken an Malcolm, Boston und die Zukunft ablenkte. Sie stellte sich vor, den Strand täglich abzusuchen, zu schwimmen, zu lesen, mit Maire im Garten zu arbeiten. Schon erahnte sie das ruhige Muster, das ihre Tage auf der Insel bestimmen würde.
»Hier ist es schön«, stellte Annie fest.
»Kommt Dad auch?«, fragte Ella. »Er hat’s versprochen.«
Hatte er das? Nora wusste nichts davon, aber in letzter Zeit war er nicht gerade mitteilsam gewesen.
»Warten wir’s ab.«
Wieder dieser unverbindliche Satz, doch etwas anderes konnte Nora nicht sagen, weil im Zusammenhang mit Malcolm nichts sicher war.
Malcolms Spontaneität hatte sie von Anfang an geliebt. Aber Unzuverlässigkeit war etwas Neues, etwas völlig anderes. Unzuverlässig war er früher nie gewesen, jedenfalls nicht, soweit sie wusste. Sie hatten sich Anfang der Neunziger in Harvard kennengelernt. Nora erinnerte sich gut, wie er sie das erste Mal außerhalb der Kurse angesprochen hatte. Sie hatte in der Bibliothek der juristischen Fakultät für eine Prüfung gebüffelt, und die Augen waren ihr immer wieder zugefallen an ihrem Arbeitsplatz, an dem nur gelegentlich ein Hüsteln oder das Umblättern von Büchern zu hören war. Ihre Zimmergenossinnen, die sich über das Lernen nicht so viele Gedanken zu machen schienen wie sie – manchmal wünschte sie sich ihre Gelassenheit –, feierten wieder einmal eine Party in dem Haus, das sie sich außerhalb des Campus teilten.
Plötzlich hielt ihr jemand die Augen zu. Sie roch Leder, Pfefferminze und Wolle. »Rate, wer.«
J. Malcolm Cunningham, der im Kurs hinter ihr saß. Ein Typ, in dessen Gegenwart sie nervös zu kichern begann und Bleistifte fallen ließ, sie, die sonst für ihre Beherrschtheit bekannt war. Er schien sich seiner Wirkung auf sie bewusst zu sein.
»Malcolm, ich muss lernen«, protestierte sie. Eigentlich hieß er John, aber ihm war sein zweiter Vorname lieber.
Er klappte ihr Buch zu. »Komm, meine Liebe, die Nacht ist noch jung.« Dann schob er ihre Bücher zusammen und nahm ihre Hand. »Du bist zu hübsch, um dich den ganzen Abend hier zu verkriechen.« Er trug einen gut geschnittenen klassischen Kaschmirmantel, Jeans und Budapester, dazu einen Schal um den Hals und kreierte damit seinen eigenen Stil, halb Bohemien, halb Sohn wohlhabender Eltern. Vermutlich hätte er, groß gewachsen und selbstsicher, wie er war, alles tragen können. Beide besaßen ein Stipendium; Nora verdiente sich ein Zubrot mit Babysitten, Malcolm hatte mit seinem Charme einen Bürojob ergattert.
Er führte sie mit lässiger Eleganz die Treppe hinunter und zum Haupteingang hinaus. Draußen war es dunkel; die funkelnden Lichter ließen Cambridge magischer erscheinen als tagsüber.
»Mach die Augen zu«, sagte er.
»Warum?«
»Vertraue mir.«
Sie spürte seinen weichen Mantel an ihrer Wange, als er sie führte. Anfangs kam es ihr vor, als würde sie ins Nichts treten. Sie stolperte. Das Gefühl, nicht zu wissen, wohin es ging, gefiel ihr nicht. Sein Arm schloss sich fester um sie. »Ganz ruhig«, sagte er. »Anfangs ist es schwer, das Gleichgewicht zu finden. Aber ich bin da. Halt dich an mir fest.«
Bei ihm fühlte sie sich sicher. Er war über eins neunzig groß, sie fast dreißig Zentimeter kleiner, sie reichte ihm kaum bis zur Schulter. Mit geschlossenen Augen nahm sie alles bewusster wahr – Geräusche: Schritte, Türen, Autos, das Brummen von Neonröhren, der Wind in den Lorbeerbüschen; Gerüche: chinesisches Essen, Aftershave, Zimt, Kaffee, Auspuffgase; Berührungen: seine Hände, seine Lippen in ihren Haaren, wenn er ihr zuflüsterte: »Stufe aufwärts«, »Stufe abwärts«, »nach links« und schließlich: »Mach die Augen auf.«
»Wo sind wir?«, fragte sie, als sie stehen blieben, und öffnete die Augen. Es begann zu schneien, die Flocken landeten auf ihren Haaren und Schultern. Bald schon würde die Welt sich in ein gedämpftes Winterreich verwandeln, in dessen Mittelpunkt sie standen. Sie spürte die Kälte nicht, nur die Wärme seiner Hände, die die ihren hielten.
Er küsste sie unter den Bäumen der Oak Street mit ihren heruntergekommenen Gebäuden im georgianischen und im Tudorstil. »Schau, das Haus, in dem wir eines Tages wohnen werden. Du und ich, miteinander.«
Als die Mädchen noch kleiner waren, hatte Malcolm die Gutenachtgeschichten vorgelesen, jetzt war das Noras Aufgabe, auch auf Burke’s Island. Als sie die Mädchen an jenem Abend ins Bett brachte, drückte Annie, Siggy im Arm, ihr das Buch mit den irischen Märchen in die Hand. »Du hast es versprochen.«
Nora legte sich neben ihre Tochter. Ein Lesezeichen markierte die Stelle, an der sie und Maeve einmal aufgehört hatten. Nora zögerte.
»Wir können erst lesen, wenn du’s aufmachst«, sagte Annie.
Noras Bewusstsein schien sich in zwei Teile aufzuspalten. Lag es am Wein? An der Macht der Suggestion? Maeves melodische Altstimme hallte in ihrem Kopf wider. Es war einmal …
»Mama?« Annie führte sie in die Gegenwart zurück.
»Entschuldige. Los geht’s.« Nora schlug das Buch mit dem mürben Ledereinband auf. Ein Silberfischchen huschte heraus, und eine kleine Staubwolke erhob sich in die Luft. »Feenstaub«, staunte Annie. »Dreck«, sagte Ella von ihrer Seite des Raums aus. (Sie hatte mit Kreide eine Linie gezogen, eine Vorsichtsmaßnahme gegen schwesterliche Übergriffe.) Der Buchrücken knackte, Wasserflecken verunzierten den Büttenrand des Papiers, und trotzdem wirkten die Illustrationen genauso faszinierend wie früher. Die Bilder und Radierungen waren fein ausgeführt, die Farben bunt, wenn auch ein wenig verblasst. Jede Geschichte begann mit einem verschnörkelten gotischen Buchstaben. »Solche Bücher werden heutzutage nicht mehr hergestellt.« Nora ließ die Finger über die glänzenden Abbildungen von Schlangen, Blumen, Wellen und Seehunden gleiten.
»Warum nicht?«
»Zu teuer und zeitaufwendig.« Warum klopfte ihr Herz so wild?
Nur wenige glauben an die Welt der Fantasie, aber wir tun es, nicht wahr, Liebes? Wieder Maeves Stimme aus der Vergangenheit.
»Dann können wir ja von Glück sagen, dass wir’s haben«, stellte Annie fest.
»Ja«, pflichtete Nora ihr bei. »Es ist ein altes Familienbuch. Ich habe es von meiner Mutter.«
»Wie hieß sie noch mal?«
Nora hatte kaum je von ihr gesprochen. Im Leben der Mädchen hatte sie keine große Rolle gespielt, auch nicht in dem von Nora, jedenfalls nicht im physischen Sinn. »Maeve.«
Annie wiederholte den Namen. »Was bedeutet das?«
»So hieß eine große irische Elfenkönigin.«
»Hast du das gehört, El?«
»Bin doch nicht taub«, antwortete Ella und wandte sich Nora zu. »Was ist eigentlich mit deiner Mutter passiert? Du redest nie über sie.«
»Ich erinnere mich kaum an sie. Sie ist eines Sommers verschwunden, als ich fünf war.«
»Und nie gefunden worden?«
Nora schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Spurlos verschwunden?«
»Spurlos.«
»Aber du wirst nicht verschwinden, oder?«, fragte Annie.
»Ich bleibe bei euch.« Nora zog sie zu sich heran. »Welche Geschichte möchtest du heute Abend lesen?«
Annie ging das Inhaltsverzeichnis durch. »Die hier«, sagte sie schließlich, »über das Boot. Wir …«
Ella hüstelte und warf ihr einen warnenden Blick zu.
»Was wolltest du sagen, Liebes?« Nora schob eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.
»Dass wir Boote lieben«, antwortete Annie hastig. »Hier gibt’s so viele.«
»Ich mag Boote auch«, pflichtete Nora ihr bei. Ihr Vater war ein guter Segler gewesen, hatte sie aber nur wenige Male in seinem Boot mitgenommen, bevor er es verkaufte. Damals musste sie etwa so alt wie Annie jetzt gewesen sein. Er hatte behauptet, es sei zu viel Aufwand, es instand zu halten. Nora fragte sich, ob der Verkauf eher etwas mit seinen Erinnerungen an ihre Mutter und ihre gemeinsame Zeit auf Burke’s Island zu tun gehabt hatte.
»›Es waren einmal zwei junge Brüder in Killaran‹«, begann Nora. »›Die fanden am Meer ein Ruderboot.‹«
»Moment«, unterbrach Ella sie. »Warum sind die Helden eigentlich immer Jungs?«
Wie ihr Mann, der sich gerade um den Titel Ehebrecher des Jahres bewarb, dachte Nora und räusperte sich. »Da hast du recht. Also dann: ›Es waren einmal zwei Schwestern in Killaran …‹«