SECHS

Am nächsten Tag war der Himmel so blau, dass Nora sich fragte, ob sie sich die Ereignisse der Nacht nur eingebildet hatte. Doch an ihrer blutbefleckten Bluse fehlte ein Ärmel, ihre Jacke und ihre Schuhe waren schlammverkrustet, und in ihren Haaren und an ihren Lippen klebte Salz, der Geschmack ihrer Kindheit. Als sie heimgekommen waren, hatte sie sich einfach ausgezogen und war ins Bett gefallen – sie musste duschen. Da hörte sie, wie die Mädchen das Cottage verließen.

»Wo wollt ihr hin?«, rief sie ihnen durchs offene Fenster nach, während sie ihre Haare zu einem Pferdeschwanz band. Sie hatte keine Ahnung, was die Mädchen den ganzen Tag trieben.

»Wir schauen nach dem Schiffbrüchigen.«

»Wahrscheinlich ist er in der Klinik oder auf dem Weg nach Hause«, sagte Nora. Wo auch immer das sein mochte. »Und wenn nicht, sollten wir ihn in Ruhe lassen. Er ist kein Tier im Zoo.« Außer Maires Haus gab es keinen Ort, an dem er hätte bleiben können, und sie glaubte nicht, dass ihre Tante ein solches Arrangement vorgeschlagen hatte.

»Das wissen wir«, versicherte Annie. »Er ist ein Mensch. Aber er hat bestimmt Besuchszeiten.«

»Die gibt’s nur in Krankenhäusern«, erklärte Nora. »Aber ich bezweifle, dass er in einem ist.«

»Wir würden gern erfahren, was passiert ist, nachdem wir gegangen sind«, sagte Ella. »Du nicht?«

Natürlich interessierte sie das auch, aber sie fand, dass sie wenigstens bis nach dem Frühstück hätten warten können.

Die Mädchen machten sich auf den Weg zu Maire, bevor es Nora gelang, sie von ihrem Plan abzubringen.

Nora schlüpfte in Jeans, Pullover und Turnschuhe und lief den Mädchen nach. Dabei fühlte sie sich wieder wie das Kind, das früher diese Wege entlanggerannt war, lachend, spielend, suchend, weinend.

In Cliff House war es ruhig. Eine Reihe schwarz gefiederter Krähen gab vom Dach aus Kommentare zum Geschehen unten ab. Sie erinnerten Nora an die Frauen bei der letzten offiziellen Veranstaltung mit Malcolm, die hinter ihrem Rücken über sie getuschelt hatten, bevor der Skandal publik geworden war. Was ihn zu dem Seitensprung verführt hatte. Ob Nora zu dick oder einfach nur älter geworden war. Ob die andere Frau jünger, klüger oder schöner war. Die Vögel auf dem Dach musterten Nora, die Augen hart und glänzend wie Gagat.

Der Klang der Mädchenstimmen brachte sie in die Gegenwart zurück. Als sie ihre Töchter einholte, redeten sie schon mit Maire, die Tomatenbüsche setzte, als wäre in der Nacht nichts Ungewöhnliches vorgefallen. Ihre Kelle schlug mit einem metallenen Geräusch gegen einen Stein in der Erde.

»Wo ist er?«, fragte Annie.

»Wer?« Maire beschattete die Augen mit einer behandschuhten Hand, ein Schmutzfleck an der Wange.

»Der Mann vom Strand«, antwortete Annie. »Der Mann, den Ella für einen Seehund gehalten hat.«

»Ich hab gesagt, es könnte ein Seehund sein«, wehrte sich Ella.

»Er hatte Prellungen und musste verbunden werden – die Wunde war nicht so tief, wie sie auf den ersten Blick aussah –, aber sobald die Beule am Kopf zurückgeht und er sich erinnern kann, ist er wieder so gut wie neu. Er scheint aus hartem Holz geschnitzt zu sein, dieser Mann.« Maire klopfte mit befriedigtem Nicken die Erde fest.

»Sobald er sich wieder erinnern kann?«, hakte Nora nach. Also war sein Gedächtnis noch nicht wiederhergestellt. »Hoffentlich hat er sich von einem Arzt untersuchen lassen.«

»Er wollte nicht«, erklärte Maire und wandte sich Ella zu. »Komisch, dass du ihn für einen Seehund gehalten hast.«

»Es war dunkel.«

»Ist er da?« Annie stellte sich auf die Zehenspitzen.

»Ja, ist er da?«, wiederholte Ella.

»Er wollte sich nicht aufdrängen. Ich habe ihm die Fischerhütte auf der Landspitze angeboten. Sie als rustikal zu bezeichnen, wäre noch eine Untertreibung, aber er scheint damit zufrieden zu sein.«

»Wie lange?«, fragte Ella. Die Dinge begannen, interessant zu werden.

Für Nora hingegen wurden sie kompliziert. Sie scheuchte die Mädchen weg auf die Wiese, Blumen pflücken. »Ich dachte, du holst Hilfe und bringst ihn irgendwo im Ort unter«, begann sie, als ihre Töchter außer Hörweite waren.

»Das Telefon hat nicht funktioniert, und ich besitze kein Handy – wenn du mich fragst, machen die verdammten Dinger mehr Ärger, als sie nutzen, aber ich interessiere mich nicht sonderlich für moderne Technik. Ich dachte mir, es hat keinen Sinn, in den Ort zu fahren, solange ich nichts über seinen Zustand weiß. Außerdem wollte er niemandem zur Last fallen. Er ist sehr rücksichtsvoll. So was findet man heute selten.« Sie legte die Kelle weg und sah Nora an. »Mein Instinkt sagt mir, dass er in Ordnung ist.«

»Fehlt nicht mehr viel, dann prophezeist du mir die Zukunft aus dem Teesatz.«

»Manchmal tue ich das. Allerdings nicht sehr ernsthaft. Die Menschen neigen dazu hineinzulesen, was sie sehen wollen. Das verzerrt das Ergebnis«, erklärte sie, halb im Scherz. »Polly ist der Meinung, dass sogar die Teesorte die Deutung beeinflussen kann. Earl Grey sei besser für vorsichtige Leute, Jasmin für abenteuerlustige, weißer Tee für die ehrlichen. Behalte das im Hinterkopf für den Fall, dass sie dir Tee anbieten sollte. Vermutlich bist du in jungen Jahren nicht mit solchen Dingen in Berührung gekommen.«

»Nein«, bestätigte Nora. »Mein Vater hat nicht an Übersinnliches geglaubt. Und meine Mutter?«

»Sie hat nach Zeichen Ausschau gehalten. Sie hatte einen Hang zum Dramatischen und Mysteriösen.«

»Ich wünschte, ich könnte mich erinnern.«

»Möglicherweise weißt du mehr, als du ahnst. Das Unterbewusstsein ist der Schlüssel«, erklärte Maire. »Und das ist in Träumen am aktivsten. Ich habe geträumt, dass er zu uns kommt. Der Mann von heute Nacht. Ich habe ziemlich lebhafte Träume, du nicht?«

»In letzter Zeit hauptsächlich Albträume.« Aus der Kindheit, ein wiederkehrender Traum, dass sie im Meer schwamm, sich bemühte, den Kopf über Wasser zu halten, während die schäumenden Wellen ihre Mutter wegrissen; Träume, in denen sie das Gefühl hatte zu ertrinken, in denen ihr der Atem aus den Lungen gepresst wurde, bevor es ihr im letzten Moment gelang, sich zu retten. Sie schaffte es immer, sich zu retten, während das Schicksal ihrer Mutter ungewiss blieb. »Hat dir dein Traum verraten, wer er ist?«, fragte Nora.

»Nein.« Maire zuckte mit den Achseln. »Er hat es mir selber gesagt. Sein Name ist Owen Kavanagh. Daran hat er sich erinnert, nachdem ich ihn zur Fischerhütte gebracht hatte. Es ist eine lange Inseltradition, Schiffbrüchigen zu helfen. Sie reicht bis in die Zeit der Gründerväter zurück. Hast du den Sog der Vergangenheit gespürt, als wir heute Nacht draußen auf den Felsen waren?«

Stärker, als sie zugeben wollte. Stärker, als sie begriff.

»Und mit dieser Tradition werde ich jetzt nicht brechen.« Maire klopfte die Erde fest. »Außerdem: Wenn er uns nicht passt …«, sie ließ lächelnd einen Unkrautstängel in einen Eimer fallen, »… können wir ihn immer noch zurück ins Meer werfen.«

Die Mädchen schlichen zu den Felsen in der Nähe der Fischerhütte. Die grauen Schindeln des einräumigen Schuppens waren ausgeblichen, das mit Kieseln gedeckte Dach nicht mehr ganz dicht, und die Tür hing ein wenig schief in den Angeln. Die Hütte sah nicht aus, als könnte sie den heftigen Stürmen trotzen, die viele Monate des Jahres über die Insel hinwegfegten, doch genau das hatte sie getan.

»Gott sei Dank wohnen wir nicht hier«, bemerkte Ella. »Im Vergleich dazu sieht das Cottage aus wie das Plaza.« An ihrem zehnten Geburtstag waren sie nach New York gefahren und hatten in dem Hotel übernachtet.

»So schlimm ist es auch wieder nicht …«, versuchte Annie abzuwiegeln, obwohl es selbst ihr schwerfiel, etwas Positives an diesem Schuppen zu finden. »Sind das Knochen?« Sie deutete mit zitterndem Finger auf einen Haufen hinter der Hütte.

»Das sind Fischgräten, du Dummkopf. Wir stehen vor einer Fischerhütte, hast du das schon vergessen?«

»Sind die alt?«

»Das wage ich zu bezweifeln. Richtig alte wären zu Staub zerfallen.«

»Ich will nicht zu Staub zerfallen.«

»Irgendwann tun wir das alle.«

»Was ist mit unserer Großmutter? Glaubst du, sie ist schon Staub? Komisch, dass keiner was über sie weiß.«

»Vielleicht ist sie einfach weggegangen. Das passiert manchmal.«

Wie ihr Vater. Sein Name hing unausgesprochen zwischen ihnen. Annie deckte zu Hause den Tisch für ihn mit, weil sie hoffte, dass er auftauchen würde. Ella lauschte auf das Zuschlagen seiner Autotür und war enttäuscht, wenn sie feststellte, dass nur ihr Nachbar, Mr. Livingston, von der Arbeit nach Hause kam. Bei der letzten Schulaufführung – sie war die Alice in Alice im Wunderland gewesen – hatte sie von der Bühne aus nach ihrem Vater Ausschau gehalten, doch sein Platz, Reihe D, Nummer 3, war leer geblieben. Ihre Mutter hingegen hatte in jeder Vorstellung auf Nummer 2 gesessen, ganz angespannt vom permanenten ermutigenden Lächeln.

»Lass uns reinschauen«, schlug Annie vor.

»Wir wissen nicht, wo er ist. Wir müssen vorsichtig sein.«

Auf der Seite der Hütte befanden sich keine Fenster, nur vorne. Die Rückseite schloss an die Felsen an, als würde der Schuppen aus ihnen herauswachsen. Die Mädchen schlichen sich, die Knie grün vom Gras, näher heran und duckten sich hinter ein Gewirr aus Netzen und Schwimmern, das Plastik abgenutzt und voller Risse. Die Stufen vor der Hütte waren vom Sand befreit. Offenbar hatte der Mann vor, eine Weile zu bleiben.

Vom Strand bellten Seehunde herauf. Ella legte einen Finger an die Lippen. »Schau. Da ist er.«

Der Mann schwamm in Begleitung der Seehunde in der kleinen Bucht. Er war ein ausgezeichneter Schwimmer, ganz in seinem Element, ohne die geringste Angst vor den Tieren.

»Hat er was an?«, fragte Annie.

»Das kann ich nicht erkennen«, antwortete Ella. »Und ich weiß auch nicht, ob mich das interessiert.«

Annie stellte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können.

»Runter!«, ermahnte Ella sie.

Er wandte sich ihnen zu, sein Blick schien den ihren zu suchen.

»Er kommt raus«, flüsterte Annie. »Meinst du, er ist wütend auf uns, weil wir ihm nachspioniert haben?«

»Lauf!«, sagte Ella, die das gar nicht herausfinden wollte.

Sie kletterten zum Glass Beach zurück. Ihr Strand. Sie würden behaupten, sie seien die ganze Zeit über dort gewesen.

»Folgt er uns?«, keuchte Annie.

Als Ella über die Schulter zurückschaute, wäre sie fast über einen Stein gestolpert. »Ich kann ihn nicht sehen. Ich glaube, wir haben’s geschafft.«

»Das heißt nicht, dass er nicht da ist. Vielleicht versteckt er sich wie wir.«

»Er ist erwachsen. Er braucht sich nicht zu verstecken.« Ella musste an ihren Vater denken, der sich in letzter Zeit ziemlich oft zu verstecken schien – vor den Reportern, sogar vor ihnen. Da waren so viele Fragen, die er nicht beantwortete. Warum bist du nie da? Wohin willst du? Stimmt das, was sie sagen? Warum kannst du es mir nicht erklären? Warum kannst du nicht bleiben? Liebst du sie mehr als uns? Seine tränennassen Augen, bevor er sich abrupt abwandte und mit dem Wagen in die Nacht verschwand.

»Wir kriegen doch jetzt keinen Ärger, oder?«

»Nein«, antwortete Ella, obwohl sie das auch nicht sicher wusste. »Wir haben ja nichts angestellt. Es steht nirgends ein ›Betreten verboten‹-Schild. Die Hütte gehört Tante Maire. Sie hat uns nicht verboten hinzugehen.«

»Bloß weil jemand das nicht ausdrücklich sagt, heißt das noch lange nicht, dass …«

»Hör auf, dir Gedanken zu machen. Lass uns lieber nach dem Boot sehen, ja?«, meinte Ella.

Annies Miene hellte sich auf. Sie liebte das Ruderboot. Annie kletterte hinein, bereit, in See zu stechen. »Heute fahren wir ums Kap der Guten Hoffnung.«

»Such dir lieber einen anderen Kurs aus. Wir wollen doch keinen Piraten begegnen.«

»Ich bin eine Piratin.«

»Gestern noch nicht.«

»Jetzt aber schon. Schau, da drüben. Kanonen!«

»Es ist nicht das Gleiche wie auf dem Wasser«, nörgelte Ella. »Wenn wir Ruder hätten und hinauskönnten, wär’s besser.«

»Wir könnten Mama bitten, uns bei Scanlon’s Ruder zu kaufen. Oder vielleicht hat Tante Maire welche.«

»Wenn wir’s ihnen sagen, ist’s kein Geheimnis mehr, oder? Sie würden uns nicht aufs Wasser lassen. Nicht Mama. Sie würde mitkommen wollen.«

Sie hörten Schritte. »Versteck dich!«, flüsterte Ella.

Sie legten sich flach auf den Boden und hielten den Atem an.

Zu spät.

»Bitte um Erlaubnis, an Bord zu kommen«, sagte der Schiffbrüchige, der eine weite Hose und ein T-Shirt, wahrscheinlich aus der Hütte, trug. Der Stoff klebte an seinem feuchten Rücken, ein Algenstrang haftete an seinem Hals.

»Gewährt.« Annie rutschte.

»Verweigert.« Ella runzelte die Stirn. »Es ist nicht genug Platz.« Er war ein Fremder, noch dazu ein merkwürdiger. »Ich bin der Kapitän.«

»Du führst ein strenges Regiment.«

»Das muss ich.« Einer musste achtsam sein.

»Du eignest dich gut für diesen Job.«

Machte er sich über sie lustig?

»Ich heiße Owen Kavanagh«, sagte er. »Wir sind einander noch nicht offiziell vorgestellt worden.«

»Sie erinnern sich wieder an Ihren Namen?«

»Ja, aber sonst an nicht viel.«

»Ich bin Annie, und das ist meine Schwester Ella.«

»Danke für die Hilfe heute Nacht.«

»Geht’s Ihnen wieder besser?«, erkundigte sich Annie.

»Der Kopf tut mir noch ein bisschen weh.«

»Trotzdem sind Sie auf den Beinen.« Ella musterte ihn genauer. Irgendetwas stimmte nicht.

»Ja. An einem so schönen Ort bleibt man nicht liegen. Ich möchte angeln gehen; dies ist eine sehr gute Stelle.« Er deutete auf die Felsen.

»Woher wissen Sie das?«, fragte Annie.

»Das habe ich im Gefühl«, erklärte er. »Wollt ihr hinausfahren?«

»Wir haben keine Ruder«, antwortete Annie.

»In der Fischerhütte sind zwei. Wenn ihr möchtet, hole ich sie euch«, bot er ihnen an.

Ella zögerte. Sie wollte nicht in seiner Schuld stehen. »Okay«, sagte sie schließlich widerwillig.

»Habt ihr Erfahrung?«

»Natürlich«, antwortete Ella, als stünde das außer Frage. »Wir sind doch McGanns, oder?« Im vergangenen Sommer war sie in Camp Miniwaka beim Kanurennen mitgefahren, und ihre Mannschaft hatte den ersten Platz errungen, davon zeugte ein Abzeichen zu Hause. Sie hätte auch diesen Sommer dort verbracht, wenn sie noch mit Sophie befreundet gewesen wäre und ihre Mutter nicht beschlossen hätte, nach Burke’s Island zu fahren.

»Ja, das seid ihr«, sagte er und ging zur Hütte.

Sie machten sich daran, Karten von Meeren und Kontinenten in den Sand zu zeichnen, die Routen, die sie befahren wollten, über den Atlantik, den Pazifik, das Korallenmeer. Wenig später kehrte Owen mit Rudern und zwei ausgeblichenen orangefarbenen Schwimmwesten zurück, die früher möglicherweise Maire und ihrer Großmutter gehört hatten. »Seid ihr sicher, dass eure Mutter nichts dagegen hat?«

»Wir machen das die ganze Zeit.« Ella kniff Annie in den Arm, damit diese ihr nicht widersprach. »Sie wollte uns sowieso Ruder besorgen. Das erspart ihr die Mühe.«

»Bleibt mal lieber in der Bucht«, ermahnte er sie, zog das Boot ans Wasser und hielt es fest, während sie hineinkletterten. »Die Strömung kann sehr stark sein«, warnte er sie, bevor er sie abstieß.

»Hurra! Wir sind Teil des Meeres!«, rief Annie aus.

Ella ließ ihr Ruder ins Wasser gleiten, das die Wellen durchschnitt wie ein Messer.

Annie sah sich um.

»Wonach hältst du Ausschau?«

»Nach nichts«, antwortete sie. »Wir sind tatsächlich auf dem Meer!«

»Ja, und wir werden gleich wieder am Ufer sein, wenn du nicht endlich ruderst. Ich sollte dich feuern.«

»Du kannst mich nicht feuern. Ich bin deine Schwester.«

»Wetten?«, fragte Ella. »Streng dich ein bisschen an, ja? Ich gebe den Takt vor.«

»Warum du?«

»Mach einfach, was ich sage«, raunzte Ella. »Es geht um Teamwork und den gleichen Rhythmus.«

»Heißt das, ich werde befördert?«

»Zu was?«

»Zweiter Kapitän.«

»Beweis mir, dass du das Zeug dazu hast. Rudere.«

Sie paddelten in der Bucht hin und her, zuerst noch im Zickzackkurs, dann in gerader Linie. Ella nahm eine handtellergroße Qualle aus dem Wasser und warf damit nach Annie. »Erwischt!« Sie schien enttäuscht zu sein, als Annie nicht aufschrie.

Annie mochte Quallen und die meisten Tiere des Meeres. Sie nahm selbst eine Qualle aus dem Wasser. Ella duckte sich, doch Annie wartete ab. Ellas Hinterkopf war ein gutes Ziel. Annie wusste, dass Ella es hasste, wenn sich etwas in ihren Haaren verfing, besonders schleimige Dinge. Annie störten die Quallen nicht. Es waren ja keine Feuerquallen.

Ella blickte über die Schulter. »Ich weiß, was du vorhast.«

Nein, das weißt du nicht. Annie ließ ein Steinchen, das sie in der Tasche mit sich herumgetragen hatte, ins Wasser fallen, damit Ella dachte, das sei die Qualle. Als sie sah, dass ihre Schwester sich entspannte, warf Annie ihr die Qualle an den Kopf. Sie blieb kurz daran haften, bevor sie ins Wasser klatschte.

»Igitt!« Ella wischte sich hektisch über die Haare. »Was war das?«

Annie verkniff sich ein Lachen. Es freute sie, Ella aus der Fassung gebracht zu haben.

»Das zahl ich dir heim.«

»Schau«, versuchte Annie sie abzulenken. Ein Tümmler sprang am äußeren Ende der Bucht in einem perfekten Bogen aus dem Wasser. Ein weiterer folgte, dann noch einer. Annie zählte insgesamt vier, genauso viele, wie es Menschen in ihrer Familie gab oder in der Familie, wie sie früher gewesen war.

Ella lotste sie zu einem Riff, auf dem es von Seeanemonen, Seesternen, Krebsen und Fischen nur so wimmelte. »Ein Unterseegarten.«

Hier lebte ein weiterer Aal. Herr Aal, nannte Annie ihn. Sie gab vielen der Wesen hier Namen. Anabelle, die größte Seeanemone, winkte mit ihren hübschen fahlgrünen Tentakeln in der Strömung. Carleton der Krebs klapperte mit den Scheren wie mit Kastagnetten; er war so groß wie ein Salatteller und hatte einen leuchtend roten Panzer mit einem auffälligen Fleck an der Oberseite. Stella der Seestern war rau und lila wie Traubensaft.

Die Mädchen ruderten fast eine Stunde lang, bis ihre Arme schmerzten und sich an ihren Händen Blasen bildeten. Owen, der von einem Felsen aus die Angel auswarf, behielt sie im Auge. Er bewegte sich im Takt mit den Wellen, als würde er jede Bewegung der See und der Fische darin erspüren. Ella tat, als wäre er nicht da. Annie winkte ihm einmal zu, konzentrierte sich aber ansonsten auf das Meer; sie beschäftigten sich alle auf ihre Weise damit.

»Ich kann nicht mehr«, sagte Annie schließlich. »Meine Arme fühlen sich an wie Nudeln.«

»Das Meerungeheuer macht Spaghetti aus dir.«

Annie schlug mit dem Ruder aufs Wasser, so dass Ella nass wurde. »Ich schmecke nicht sehr gut.«

Ella spritzte zurück. »Lass uns zum Ufer zurückrudern, so schnell wir können.«

»Warum?«

»Wegen der Seeschlange. Hast du die nicht gesehen?«

Annie blickte sich voller Angst um, bevor sie merkte, dass Ella sie auf den Arm nahm. Doch es machte Spaß, so schnell zu rudern, die Wellen unter sich zu spüren, die sie ans Ufer trugen. Viel zu bald erreichte das Boot den Strand. Sie zogen es aus dem Wasser und sanken erschöpft auf den Boden, zum ersten Mal seit Wochen voll und ganz zufrieden. Sie machten Sandengel, versuchten, in den Wolken Formen zu erkennen, schauten hinauf in den tiefblauen Himmel.