FÜNFZEHN
Stimmen näherten sich. Nora blinzelte verwirrt. Wer war das? Wo war sie?
Ihr Blick und ihr Kopf wurden klarer: im Cottage.
»Mama, wir sind wieder da!« Die Mädchen rannten über den Pfad aufs Haus zu.
Nora setzte sich voller Panik auf. Owen. Sie durften ihn nicht sehen. Nora blickte sich im Zimmer um. Keine Spur von ihm. Wo steckte er?
Jetzt war keine Zeit, darüber nachzudenken. Sie schlüpfte hastig in T-Shirt und Shorts, da riss Annie auch schon die Tür auf und stürzte sich auf sie. »Aufwachen, Schlafmütze!«
»Wie spät ist es?«
»Früh am Tag. Wir hatten solche Sehnsucht nach dir, da sind wir gleich hergekommen.«
Ella schaute sich kritisch um.
»Hast du dich ohne uns einsam gefühlt?«, fragte Annie. »Deine Haut glänzt ja.« Sie strich darüber.
»Sand«, erklärte Nora. »Ich hab nicht mehr geduscht.«
»Tante Maire sagt, du wärst heimgegangen, um ein Bad zu nehmen. Ich hab heute Nacht den Wagen gehört und dich vom Fenster aus gesehen«, stellte Ella fest.
»Zum Baden bin ich nicht mehr gekommen.« Nora rieb sich gähnend die Augen. Dabei merkte sie, dass Owens Geruch noch an ihr haftete. Sie konnte nur hoffen, dass das den Mädchen nicht auffiel.
»Bist du lange aufgeblieben?«, erkundigte sich Annie.
»Noch ein bisschen.«
»Ich dachte, du warst müde«, sagte Ella. »Was hast du gemacht?«
Sie konnten sich nicht vorstellen, dass sie ein Leben jenseits des ihren besaß. »Gelesen.« Es war kein schönes Gefühl, sie anzulügen.
»Weit bist du aber nicht gekommen.« Ella warf einen Blick auf die Taschenbuchausgabe von Die Frau in Weiß, die auf dem Nachtkästchen lag. Das Lesezeichen markierte eine Stelle ziemlich weit vorne.
»Ich hab mir Zeit gelassen. Aber ich möchte jetzt nicht darüber reden. Wie ihr wisst, bin ich ein Morgenmuffel.« Sie musste aufpassen, was sie sagte. Für die Mädchen war sie ausschließlich ihre Mutter; sie durfte sie nicht enttäuschen oder verwirren, indem sie ihnen andere Seiten offenbarte.
Ella betrachtete die zerknitterten Laken, die Ausbuchtung im zweiten Kissen. »Du scheinst ganz schön unruhig geschlafen zu haben.«
»Das tue ich doch immer. Ich träume viel.«
»Schlecht?«, fragte Annie.
»Keine Ahnung«, antwortete Nora und wechselte das Thema. »Ihr habt bestimmt Hunger. Ich mache euch Frühstück.« Sie scheuchte sie aus dem Zimmer und ging in die Küche, um Frühstücksflocken in Schalen zu geben und den Toaster anzuwerfen.
Beim Frühstück musterte Ella sie intensiv. »Hast du was von Dad gehört?«
»Nein.«
»Du hast das Handy nicht ausgeschaltet, oder?«
»Das würdest du besser wissen als ich.« Nora hob eine Augenbraue.
Ella schlürfte die Milch.
Das Geräusch ging Nora durch Mark und Bein. »Ich weiß, dass er dir fehlt.«
Annies Blick wanderte zwischen ihnen hin und her.
»Du hast ihm nicht verziehen, stimmt’s?«, fragte Ella. »Aber uns sagst du schon immer, wir sollen vergeben und vergessen.«
Ja, die unwichtigen Dinge, über die die Geschwister sich gern in die Haare gerieten. Doch das mit Malcolm war etwas anderes. »Nur weil wir uns getrennt haben, heißt das noch lange nicht, dass wir euch nicht lieben«, erklärte Nora, ein Satz, den sie in den vergangenen Wochen oft wiederholt hatte. »Wir lieben euch beide sehr.«
»Tatsächlich? Warum hast du uns dann hierhergebracht?«
»Weil ich es für das Beste gehalten habe. Tante Maires Brief ist zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Ihr wisst, wie es zu Hause war.«
»El …«, mischte sich Annie ein.
»Aber dass wir hier sind, bringt nichts.« Ella knallte ihren Löffel mit lautem Scheppern auf den Tisch.
»Ich bin euretwegen hergekommen.«
»Nein. Du wolltest rausfinden, was mit deiner Mutter passiert ist. Du wolltest fliehen – vor der Sache mit Dad.« Sie sprang auf und stürmte hinaus.
»El, warte.« Annie lief ihr nach.
Die Tür, die Ella zugeschlagen hatte, schwang wieder auf, so dass ein schmaler Streifen wolkenverhangenen Himmels und der Regen über dem Meer zu sehen waren. Nora richtete den Stuhl, den Ella umgeworfen hatte und an dem sich jetzt eine Kerbe befand, auf. »Vielleicht hast du recht«, murmelte Nora.
Wenig später hörte sie Schritte auf der Terrasse. Noras Herz schlug schneller. Sie würde Owen wegschicken, ihm sagen, dass vergangene Nacht ein Fehler gewesen war.
»Guten Morgen«, rief Maire.
Nora stieß einen Seufzer der Erleichterung, vielleicht auch der Enttäuschung aus.
»Hast du einen schönen Abend verbracht?«, erkundigte sich ihre Tante fröhlich wie immer. »Du hast doch nicht rumgesessen und gegrübelt, oder?«
»Nicht sehr lange.«
»Er kommt wieder.«
Wer? »Möglich«, sagte Nora.
»Ein Blinder sieht, dass er dich nach wie vor liebt.«
Malcolm. Natürlich meinte sie Malcolm. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass er eher die Vorstellung von mir als die reale Person liebt.«
»Es ist gut, dass du hier bist. Das verschafft dir Zeit und Distanz. Er kommt zur Vernunft. Du wirst schon sehen.« Maire streckte ihr einen Korb mit Babykarotten, grünem Salat und roten Beten hin. »Ich wollte Owen auch was bringen, aber der war nicht da.«
»Weißt du, wo er steckt?«, fragte Nora so beiläufig wie möglich.
»Wahrscheinlich ist er beim Fischen. Eines Tages wird er uns verlassen, zu seinem eigentlichen Leben zurückkehren. Davor graut mir. Ich habe mich daran gewöhnt, dass er hier ist. Inzwischen kennt er diesen Abschnitt der Küste genauso gut wie ich, wenn nicht besser. Ich spiele mit dem Gedanken, ihm Joes altes Boot zu geben. Es ist nicht leicht für ihn, kein Boot zu haben. Der Anfang ist gemacht: Er ist dabei, es herzurichten, und kommt erstaunlich gut voran. Wahrscheinlich arbeitet er Tag und Nacht daran, wenn er sich nicht gerade auf den Klippen oder sonst wo rumtreibt. Manchmal frage ich mich, ob er jemals schläft.«
Plötzlich musste sie sich an einem Stuhl festhalten und sich setzen.
»Ist dir wieder schwindlig?«
»Ein bisschen. Das passiert manchmal, besonders morgens. Blöder Zucker. Überflüssig wie ein Kropf.«
»Bist du beim Arzt gewesen?«
»Ja, ja. Der konnte mir auch nichts Neues sagen. Mach dir keine Sorgen um mich. Du hast selber genug Probleme.« Sie holte tief Luft, stand wieder auf und drehte eine kleine Pirouette. »Siehst du, schon vorbei. Außerdem bin ich nicht hergekommen, um dir die Ohren vollzujammern. Ich wollte dich fragen, ob du zu den Bienen mitgehst.«
Auf dem Weg nach Cliff House erzählte Maire vom Garten und ihrem Traum, Hühner zu halten. Dort angekommen, legte Nora den Imkeranzug an, das Netz und die Handschuhe. Maire hatte auch Anzüge für die Mädchen genäht, weil es die nicht in Kindergröße zu kaufen gab. Die beiden Frauen gingen zu den Bienenstöcken am Rand des Obstgartens, wo das Licht der Sonne die Bienen jeden Morgen weckte und sie aus dem Stock lockte.
»Die Bienen fordern unsere ungeteilte Aufmerksamkeit«, stellte Maire fest. »Sie ermöglichen es uns, Abstand zu gewinnen von unseren Problemen.«
Wenn Nora sich nur auf die Bienen hätte konzentrieren können. Doch ihre Gedanken schweiften immer wieder zu Owen und Malcolm. »Wann ist der Honig fertig?«, fragte sie.
»Das wird noch eine Weile dauern. Die Bienen fangen gerade erst an. Sie brauchen die Wärme, die Sonne, die Blumen, und das alles gibt es jetzt hier. Der Hochsommer auf der Insel ist wunderschön.«
»Ja«, pflichtete Nora ihr bei, die nirgendwo sonst die innere Verbundenheit der Dinge sowie den Trost, den die Natur spenden konnte, so deutlich gespürt hatte wie hier. Jenseits des Obstgartens war der Grund wild belassen; überall wuchsen Gras, Bäume und Sträucher, und die Bienen schlüpften zufrieden vor sich hin summend in die Blütenkelche der Glockenblumen.
»Magst du ihn?«, fragte Maire.
»Wen?« Nora war dankbar, dass das Netz ihr Gesicht verbarg.
»Owen. Ich weiß, dass du dir nicht sicher warst, ob er bleibt.«
»Du hast uns mit offenen Armen empfangen – uns beide«, sagte Nora ausweichend.
»Ich freue mich, dass ihr da seid. Ich habe lange genug allein rumgewurstelt.« Plötzlich wirkte sie sehr klein und zerbrechlich. »Fühlst du dich auf der Insel zu Hause? Das würde ich mir wünschen – weil sie dein Zuhause ist. Hier gibt es keinen Anwalt, oder du könntest dich aufs Kochen oder auf den Meerglasschmuck konzentrieren. Der ist sehr hübsch. Maeve wäre stolz auf dich.«
Nora konnte sich durchaus vorstellen, über den Sommer hinaus zu bleiben, von Tag zu Tag mehr, doch es war noch zu früh, solche Entscheidungen zu treffen. »Warten wir’s ab. Mir gefällt’s hier, aber ich muss mir über manches klar werden.«
»Ich weiß. Das Leben ist kompliziert.«
»Und ich muss die Insel und meine Geschichte besser verstehen lernen. Ich kann die Vergangenheit nicht ruhen lassen.«
Die Bienen summten lauter, ein Klagegesang. Maire hielt den Blick auf die Bienenstöcke gerichtet.
»Was verschweigst du mir?«
Maire zögerte. »Ich habe gewartet, bis du ein Gefühl für die Eigenheiten der Insel bekommen hast, die Andersartigkeit, die nur wenige verstehen. Und ich hatte Angst, dass du gehen würdest, sobald du sie spürst. Ich will nicht noch einmal jemanden verlieren.« Tränen traten ihr in die Augen.
Nora berührte ihren Arm. »Du wirst mich nicht verlieren. Bitte. Du musst mir helfen, alles zu begreifen.«
»Gut, ich erzähle es dir, auch wenn du es mir möglicherweise nicht glaubst. Ich weiß ja nicht mal, ob ich es selber glaube. Erinnerst du dich an die Karten im Speicher und was ich dir darüber erzählt habe, dass unsere Vorfahren angeblich einen Pakt mit dem Meer und den Seehunden geschlossen hatten? Am Anfang befand sich alles im Gleichgewicht, doch mit der Generation meiner Eltern hat sich etwas geändert. Ich werde das Gefühl nicht los, dass das etwas mit dem Verschwinden deiner Mutter und dem Streit zwischen meinen Eltern zu tun hatte, den ich eines Abends mitbekommen habe. Ich war in dem Sommer vierzehn, Maeve sechzehn; sie hatte wieder das Wettschwimmen gewonnen. Meine Mutter war überzeugt davon, dass Maeve nicht ihr Kind war, sondern ein Wechselbalg, ein Geschöpf des Meeres. Dass ihre Fähigkeit, so lange den Atem anzuhalten und so schnell zu schwimmen, das bewies. Dass mein Vater sie am Strand gefunden und sie gegen ihr leibliches Kind ausgetauscht hatte, das gestorben war, bevor meine Mutter nach der schwierigen Geburt wieder das Bewusstsein erlangte. Maeve und meine Mutter haben sich nie vertragen. Und als Maeve ins Teenageralter kam, haben sich die Konflikte zwischen ihnen verschärft. Maeve verfügte über einen ziemlich starken Willen. Jedenfalls hat Dad mich beim Lauschen vor der Schlafzimmertür meiner Eltern erwischt und mir gesagt, ich darf keiner Menschenseele erzählen, was ich gehört habe. Weil man manche Dinge besser auf sich beruhen lässt.«
»Wusste meine Mutter Bescheid?«
»Ja. Als ich eines Tages wütend auf sie war, habe ich es ihr erzählt. Ich habe ihr gesagt, dass sie gar nicht meine Schwester ist. Danach haben wir uns schrecklich gestritten. Wir haben uns gegenseitig Wunden zugefügt, körperliche wie seelische, die Narben hinterließen.« Sie zog den Kragen von ihrem Hals weg, um Nora die helle sichelförmige Narbe daran zu zeigen. »Danach hat sie sich von uns allen distanziert, bis dein Vater auftauchte.«
Das laute Summen der Bienen dröhnte Nora in den Ohren. »Ist die Geschichte wahr?«
»Ich weiß es nicht. Das weiß niemand.«
»Wenn ja«, sagte Nora nachdenklich, »bin ich keine McGann …«
»Doch, zumindest über meinen Vater. Wir sind miteinander verbunden, wenn auch möglicherweise nicht so, wie wir denken.«
»Wurden die Einzelheiten der Geburt nicht von einem Arzt festgehalten?«
Maire schüttelte den Kopf. »Bis nach deiner Geburt gab es keinen Arzt auf der Insel. Davor nur Hebammen aus unserer Familie. Meine Mutter hat uns zu Hause auf die Welt gebracht; nur mein Vater war dabei. So wurde das damals gehandhabt.«
»Aber die Totgeburt, von der deine Mutter gesprochen hat …«
»Die wurde unter den Teppich gekehrt, niemals schriftlich erfasst. Vielleicht hat sie sich überhaupt nicht ereignet. Es war eine schwere Geburt gewesen, meine Mutter hatte Fieber. Gut möglich, dass die Totgeburt und der Kindstausch eine Halluzination waren. Sie hat hinterher Wochen gebraucht, sich wieder zu erholen, und unter schweren Depressionen gelitten.«
»Und mein Großvater?«
»Der hat nie wieder darüber gesprochen.«
Nora nickte. Das erinnerte sie an ihren Vater, der bei schwierigen Themen auch lieber geschwiegen hatte.
»Alles in Ordnung?«, fragte Maire. »Ich weiß, dass das ziemlich viel zu verarbeiten ist.«
»Ja.«
Maire legte einen Finger an die Lippen. »Wir stören die Bienen. Sie sind noch dabei, sich an die neue Königin zu gewöhnen. Wenn wir ihnen keine Zeit lassen, lehnen sie sie vielleicht ab.«
»Und was passiert dann?«
»Sie bringen sie um.«
»Oje.«
»Ja.« Maire beruhigte die Bienen mit dem Smoker, und nach wenigen Sekunden war die Luft so dick, dass Nora kaum noch etwas erkennen konnte. Sie und Maire verschwammen zu Silhouetten, weniger Formen als Andeutungen ohne klare Grenzen in einem Raum, in dem die Orientierungspunkte nicht mehr länger sichtbar waren und in dem man sich vorsichtig bewegen musste.