SECHZEHN

Ella blieb nicht lange am Strand. Sie wartete, bis Nora das Cottage verließ, und verschanzte sich dann mit ihrem Buch Little Women in ihrem Zimmer. Annie hingegen baute eine Festung aus Treibholz, Sandburgen und Steinpyramiden, eine Architektin des Meeres. Die Sonne lugte zwischen den Wolken hervor, auch das Meer schien sich beruhigt zu haben. Annie beobachtete, wie ein Einsiedlerkrebs mit abgehackten Bewegungen über den Strand marschierte. Er konnte sich sein Zuhause überall suchen. Sie würde es ihm gleichtun, sich für das Glück entscheiden.

Ein Schatten: Ronan, ein Armband aus Seetang ums Handgelenk. Er trug dieselben Shorts wie immer. Annie fragte sich, ob er noch andere Hosen hatte oder ob sie alle identisch waren. »Da bist du ja. Ich hab mich schon gefragt, wo du steckst.«

»Verwandte besuchen«, erklärte er.

»Ein Familientreffen?«

»So was Ähnliches.«

»Bei uns ist nicht mehr viel Familie übrig für solche Treffen.« Auf der Seite ihres Vaters gab es eine Menge Verwandte, die sie jedoch nur bei Hochzeiten und Beerdigungen trafen, da seine Schwestern, abgesehen von Tante Ro, alle weit weggezogen waren. »Aber hier haben wir eine Verwandte gefunden, die wir noch nicht kannten. Maire.«

»Die Frau in dem großen Haus? Die hab ich im Garten arbeiten sehen.«

»Ich könnte euch bekannt machen.«

»Du bist die Einzige, mit der ich reden kann.«

»Hast du deiner Mutter von mir erzählt?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich würde sie gern mal kennenlernen.«

»Vielleicht, eines Tages. Wie lange werdet ihr hier sein?«

»Wahrscheinlich den Sommer über.«

»Ich auch. Wir ziehen von Ort zu Ort.«

»Meereszigeuner.«

»Und du? Wo ist dein Vater? Er war doch mit dir am Strand.«

»Ich hab mich schon gefragt, ob du uns gesehen hast, und nach dir Ausschau gehalten.«

»Ich hab mich versteckt.«

»Das kannst du gut«, sagte sie. »Wir sind mit ihm im Ruderboot rausgefahren. Die meiste Zeit hat’s Spaß gemacht.«

»Die meiste Zeit?«

»Solange sich meine Eltern nicht gestritten haben. Sie können nicht zusammen sein, aber auch nicht getrennt.«

»So ist das manchmal.«

»Und dein Vater?«

»Der ist weg.«

»Weg? Haben deine Eltern sich scheiden lassen?«

»Sie waren nie verheiratet.«

»Oh. Wie war er?«

»Das weißt du.«

»Wie meinst du das?«

»Du kennst ihn. Den Mann, den du Owen nennst.«

»Annie?« Beim Klang von Ellas Stimme tauchte Ronan fast lautlos in die Brandung.

»Mit wem hast du geredet?« Ella kletterte die Böschung hinunter. »Ich habe Stimmen gehört.«

»Wolltest du nicht allein sein?« Annie war noch dabei, Ronans verblüffende Information zu verarbeiten, von der sie niemandem, nicht einmal Owen, erzählen durfte. Das Geheimnis wurde immer größer. Doch sie musste es bewahren, das hatte sie versprochen. Einmal hatte sie sich schon verplappert, bei Tante Maire. Das durfte nicht noch einmal passieren.

»Mir war langweilig.« Ella setzte sich neben sie. »Und? Was läuft?«

»Nichts. Ich hab mit einem Fantasiefreund gespielt. Solche Freunde habe ich viele, das weißt du doch.« Ihr Herz schlug wie wild. Es war schwer, Ella etwas vorzumachen. Manchmal erschien es Annie, als könnte sie ihre Gedanken lesen.

»Klang ziemlich real. Ich hätte schwören mögen, dass da jemand geredet hat. Und ich hatte das Gefühl, dass jemand ins Wasser verschwunden ist.«

»Du siehst Gespenster.« Annie lachte. »Hier ist niemand außer mir.«

Ella brummte etwas.

»Bist du noch sauer?«

»Ich wünschte, wir könnten heimfahren und alles wäre wie früher«, seufzte Ella.

»Ist es aber nicht. Die Dinge haben sich verändert. Sie ändern sich ständig.«

Ella nahm Annies Hand und verschränkte ihre Finger mit den ihren wie früher, als sie klein gewesen waren. »Versprich mir, dass du dich nicht ändern wirst, jedenfalls nicht in den wichtigen Dingen.«

Ein weiteres Versprechen, das sie zu halten versuchen würde. »Ich verspreche es.«

An jenem Tag war Polly, deren Haare nicht mehr so intensiv lilafarben leuchteten, spät dran mit der Post. »Wenigstens schaut mein Kopf nicht mehr aus wie in Traubensaft getaucht.«

»Wie nennt dein Mann dich jetzt?«, fragte Nora, die mit einer Tasse Kaffee auf der Veranda saß und über das nachdachte, was Maire ihr im Obstgarten erzählt hatte.

»Lavender. Gott sei Dank werde ich bald wieder die gute alte Poll sein.«

»Die Haarfarbe wird mir fehlen.«

»Vielleicht lasse ich sie mir an Halloween wieder so färben.«

»Du bist später dran als sonst. Ist was passiert?«

»Der Motor hat sich überhitzt«, erklärte Polly. »Ich musste warten, bis Dozer McGettigan mir geholfen hat. Kennst du den? Dozer, Schläfer, ist sein Spitzname, weil er in der Mathestunde immer eingeschlafen ist. Zahlen waren nichts für ihn, aber für mechanische Dinge hat er ein Händchen.« Sie wandte sich dem Van zu. »Wenn du so weitermachst, verkaufe ich dich. Obwohl ich bezweifle, dass irgendjemand dich will.«

Der Wagen hüstelte traurig vor sich hin.

»Mimst du jetzt den reuigen Sünder?« Sie sah Nora an. »Ich hab ein wichtiges Schreiben für dich. Sieht offiziell aus – du musst den Empfang bestätigen. Das passiert auf der Insel nur alle Jubeljahre.«

Die Scheidungspapiere? Nora unterschrieb mit Bedauern darüber, dass sie nicht selbst die Initiative ergriffen hatte. Welche Bedingungen würde Malcolm stellen? Sie wollte nicht in Anwesenheit von Anwälten mit ihm diskutieren. Was für Geschichten würde er sich ausdenken, um die eigentliche Frage zu verschleiern, einen Vorteil zu erringen?

Pollys Blick huschte neugierig von dem Brief zu Noras Gesicht.

Nora machte ihn noch nicht auf. Sie wusste nicht, wann sie diese Büchse der Pandora öffnen würde.

»Tut mir leid, dass ich dich neulich Abend versetzt habe«, entschuldigte sich Polly.

»Neulich Abend?«

»Bei Cis McClure’s. Alison sagt, du warst da. Dad auch. Hast ihn mächtig beeindruckt. Seitdem hat er kaum von was anderem geredet.«

»Er ist mit mir durch die Kneipe getanzt.«

»O nein! Herrgott, dieser Mann.«

»Ich fand’s rührend.«

»Danke für deine Geduld mit ihm. Hast du was erfahren?«

»Nicht so viel, wie ich wollte. Ich bin früh gegangen.«

»Ich hab gehört, dass die Connellys aufdringlich geworden sind. Du hast dich doch von denen nicht ins Bockshorn jagen lassen, oder?«

»Dunkle Gassen sind nicht der geeignetste Ort für Mutproben. Owen ist dazwischengegangen. Aber ich hatte die Situation im Griff.«

»Trotzdem ist es schön, wenn einem ein Ritter in glänzender Rüstung beisteht. Von denen gibt’s heute nicht mehr allzu viele. Beschäftigt dich sonst noch was? Du wirkst geistesabwesend.«

Nora erzählte ihr, was Maire ihr über Maeve gesagt hatte. »Wusstest du das?«, fragte sie.

»Auf der Insel gibt’s immer irgendwelche Gerüchte. Maeve hatte tatsächlich etwas Entrücktes, das sich niemand erklären konnte.«

»Ich versuche rauszufinden, was das für mich bedeutet.«

»Du stehst hier vor deinem Cottage, auf festem Boden – das bedeutet es, und das solltest du nie vergessen. Wir werden alle von unseren Genen und Mythen geprägt, aber sie sind nicht der Kern unserer Identität, es sei denn, wir lassen das zu. Du bist dein eigener Herr.«

»Danke, Polly.«

»Keine Ursache. Auf mich kannst du zählen, Nora. Auf uns alle – auf Alison, Maire und mich. Egal, was passiert.« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. »Himmel, ich bin spät dran. Ich muss los. Vergiss nicht, was ich dir gesagt habe, ja?« Sie sprang auf den Fahrersitz und brauste mit rauchendem Auspuff davon. Nora blieb mit dem Brief in der Hand zurück.

»Was ist das?«, fragte Ella, die ihr anscheinend nachspioniert hatte. Ihre Füße waren schlammverkrustet.

»El, ich hab dir doch gesagt, dass du dir die Füße mit dem Wasserschlauch abspritzen sollst, bevor du ins Haus kommst«, ermahnte Nora sie. Sie hatte sich noch nicht dazu durchgerungen, den Brief zu öffnen, der vor ihr auf dem Küchentisch lag.

Ella schnappte ihn sich, bevor Nora sie daran hindern konnte. »Solomon & Gates« stand darauf. Eine Bostoner Adresse, der perfekte Name für eine auf Scheidungsfälle spezialisierte Anwaltskanzlei. Einer von Malcolms Kommilitonen aus dem Jurastudium war Partner dort.

Nora zog ihn ihr weg. Dabei riss eine Ecke des Umschlags, und der Fetzen flatterte auf den Boden. »Der Brief ist an mich adressiert. Ich setze mich damit auseinander, wenn ich dazu bereit bin.«

»Er betrifft mich genauso.«

»Ja, aber ich habe das Sagen.«

»Auch darüber, dass Dad nicht hier ist?«

»Nein, das war seine Entscheidung.«

»Du hast auch Entscheidungen getroffen.«

Weil es keine brauchbaren Alternativen gab. Nora wollte nicht die Nebenfrau sein, ihn nicht teilen. Die andere wollte das offenbar genauso wenig, und so hielt Malcolm beide hin. Das Schlimmste daran war die Demütigung. Nora wusste nicht, ob sie ihm verzeihen konnte, was er ihr angetan hatte, nach wie vor antat. Vielleicht glaubte er, es sei den Preis wert; schließlich brachte ihm das Ganze eine neue Liebe, ein zweites Leben oder zumindest die Aussicht darauf. Und was bekam sie?

Ella ballte die Hände zu Fäusten. »Alles passiert einfach, ohne dass ich es beeinflussen kann.«

»Ich weiß, dass das hart für dich ist.«

»Nein, das weißt du nicht.« Ellas Stimme kippte. »Du bist nicht ich. Du hast keine Ahnung, wie sich das anfühlt.«

»Wie fühlt es sich an?«

»Als würde alles auseinanderbrechen.«

Nora streckte die Hand nach ihr aus, doch Ella drehte sich weg und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Vielleicht war es besser so, bevor sie Dinge sagten, die sie später bereuten. Noras Kopf schmerzte von der Anstrengung, ihren Zorn im Zaum zu halten.

Annie, die auf der Terrasse mit den Katzen gespielt und die Auseinandersetzung mitbekommen hatte, schlich auf Zehenspitzen herein. »Wann wird sie aufhören, so wütend zu sein?«

»Sie hat ein Recht auf ihre Gefühle.« Nora zog Annie zu sich heran, die Tochter, die sich noch von ihr umarmen ließ. Die andere, die den Trost genauso sehr, wenn nicht dringender gebraucht hätte, distanzierte sich.

Annie, die sich nicht lange so umarmen lassen, keine Position beziehen wollte, entschlüpfte ihr und nahm mit einem Stück Meerglas in der Hand Nora gegenüber Platz. »Basteln wir was?« Sie hielt das Glas ins Licht. »Das ist nicht wie anderes Glas. Man kann nicht durchsehen. Es ist trübe.« Sie drehte es zwischen den Fingern.

Doch im richtigen Winkel schimmerte es.