ZWANZIG

Als die Mädchen im Bett lagen, setzte Nora sich an den Kamin und schnitt das Band durch, das das Tagebuch zusammenhielt. Sie zögerte, es aufzuschlagen. Blütenblätter fielen von den spätblühenden Taglilien in der Vase auf den Tisch. Als Maire Nora den Strauß vor ihrem Tod gebracht hatte, waren die Blüten geschlossen gewesen. Nun welkten sie. Ein Zeichen? Möglich.

Beim Lesen des Tagebuchs glaubte Nora, die Stimme ihrer Tante zu hören, als wäre sie bei ihr im Zimmer. Die Einträge waren in schlichter, lebhafter Sprache gehalten.

Ich dachte, Dad würde sich über meine Noten freuen, aber er redete die ganze Zeit nur von Maeve. Dass sie dieses Jahr Königin der Flotte wird, auf dem Festwagen durch den Ort fährt und alle klatschen und jubeln. Als er mein Gesicht sah, sagte er, ich würde auch in einem oder zwei Jahren Königin der Flotte werden. Aber ich weiß, dass das nicht stimmt. Ich bin kein Mädchen, das alle bewundern. Alle stimmen für …

Habe mich heute mit Maeve gestritten. Sind mit Bürsten aufeinander losgegangen, Blut ist geflossen. M. hat Mam vorgeflunkert, sie hätte sich den Kopf angestoßen. Es gibt Dinge, bei denen wir dichthalten. Die Wunde wird eine Narbe hinterlassen. Eine Erinnerung an mich …

Habe heute in meinem Zimmer geweint. Johnny B. hat gehört, dass ich ihn mag, und mich behandelt, als wäre ich aussätzig. Gemeinheiten, um seine Verlegenheit zu überspielen. Schwärmen. Ich hatte keine Ahnung gehabt, wie viel Gewicht das Wort haben, wie sehr es einem Menschen schaden kann. Maeve hat mich gezwungen, ihr zu erzählen, was los ist. Ihr kann ich nichts lange verheimlichen. Sie sagt, wenn ich will, schlägt sie ihm ein blaues Auge. Ich hab sie noch nie so wütend erlebt. Sie findet es in Ordnung, wenn sie mich zum Weinen bringt, doch wenn andere das machen, beschützt sie mich. Ich hab ihr gesagt, sie soll ihn nicht verprügeln, mich aber gleich besser gefühlt, als ich wusste, dass sie mir helfen würde.

Bei der Tanzveranstaltung stand Maeve wie üblich im Mittelpunkt. Die Mädchen waren eifersüchtig, weil die Jungs nur sie anhimmelten und ihr die Süßigkeiten und Blumen gaben, die eigentlich für ihre Partnerinnen bestimmt waren.

Mich sieht nie jemand so an. Ob sich je einer für mich interessieren wird?

Heute hat Dad einen Mann in den Hafen geschleppt, dessen Segelboot mit gebrochenem Mast im Sturm gekentert war. Dad meint, er kann von Glück sagen, dass er noch am Leben ist. Er wohnt vorübergehend in der Fischerhütte. Dad scheint ihn zu mögen. Ich mag ihn auch.

Er bleibt. Ich weiß nicht, wie lange. Manchmal beobachte ich ihn von der Wiese aus. Maeve hat mich dabei erwischt und gedroht, es ihm zu erzählen.

Ich hab sie gesehen. Ihn und Maeve. Durchs Fenster. Warum bekommt sie immer alles? Alles, was sie will?

Nora blätterte ein oder zwei Jahre weiter. Maire war nicht die fleißigste Schreiberin gewesen.

Bei Maeve haben die Wehen eingesetzt. Ich musste ihr allein helfen, ohne Mam. Maeve wollte niemanden sonst dabeihaben. Ich dachte, ich wüsste, was zu tun ist. Das Baby war ganz blau, hatte die Nabelschnur um den Hals. Patrick hat sie in den Arm genommen. Maeve hat geschrien und geweint bis zur völligen Erschöpfung. Später hat sie mich mit leerem Blick angestarrt. Ich glaube, sie gibt mir die Schuld. Ich werde den Gedanken nicht los, dass die Dinge sich anders entwickelt hätten, wenn Mam da gewesen wäre … Ein kleines Kreuz im Friedhof markiert das Grab. Ich habe nie zuvor einen so kleinen Sarg gesehen. Patrick hat ihn selbst geschreinert.

Einige leere Seiten, dann der letzte Eintrag:

Ich wusste, dass irgendwann etwas passieren würde. Das konnte bei ihrer Persönlichkeit gar nicht anders sein. Wanderlust, das Wort beschreibt sie genau. Ich hätte nicht gedacht, dass sie Nora mitnehmen würde. Ein Kind. Wie konnte sie nur ein Kind mit hinausnehmen? Vielleicht hatte sie gar nicht so weit hinausfahren wollen … Ich habe Patrick noch nie so verzweifelt erlebt. Sonst wirkt er immer so ausgeglichen. Genau das gefällt mir an ihm.

Wir haben Nora am Strand von Little Burke gefunden, und ich habe mich um sie gekümmert. Meine Wünsche schienen wahr zu werden – nun waren wir zu dritt, eine kleine Familie, wie es von Anfang an hätte sein sollen, weil ich Patrick als Erste gesehen hatte.

Vor einer Woche bin ich abends länger im Cottage geblieben. Erst heute schaffe ich es, darüber zu schreiben. Selbst jetzt zögere ich noch, es zu Papier zu bringen.

Zum Essen hatten wir Ale getrunken, aus dem Vorrat von Dad. Als ich Nora ins Bett gebracht hatte, ging ich in die Küche. Patrick wartete auf mich, ich auf ihn. Er zitterte fast, vor Begierde, dachte ich. Er zog mich grob zu sich heran; sein Kuss war ganz anders, als ich ihn mir erträumt hatte. Hart und wütend.

»Willst du das?«, fragte er. »Ja?«

Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, und begann zu weinen. Er hatte kein Mitleid mit mir. So war es in meinen Träumen nicht passiert. Seinen angeekelten Blick werde ich nie vergessen.

»Du bist nicht sie. Das wirst du nie sein.«

Er wollte mich nicht, hatte mich nie gewollt.

Am nächsten Tag war er mit Nora verschwunden.

Was habe ich getan?

Nora schlug das Tagebuch zu und drückte es an die Brust. Sie musste das Fotoalbum noch einmal durchgehen. Vielleicht hatte sie etwas darin übersehen.

Nora hastete den Pfad entlang. Der Strahl der Taschenlampe schwenkte wild über die Felder, der Weg vor ihr ein schmales Band aus Erde und Sand. Sie blickte zum Cottage zurück. Lange konnte sie die Mädchen nicht allein lassen. Obwohl sie keine Bedenken wegen Maggie Scanlon und den Connellys hatte, wollte sie nicht, dass sie aufwachten und sich fragten, wo sie steckte.

Als sie sich Cliff House näherte, schlugen ihre Füße einen anderen Weg ein, zur Landspitze, zu Owen.

Die Nacht war voller Schatten, die Hütte dunkel. Bestimmt war er früh zu Bett gegangen; das taten die meisten Fischer.

Sie klopfte.

Keine Reaktion. Die Stille verunsicherte sie. In jener Nacht schwiegen sogar die Seehunde, die sonst nie Ruhe gaben. Sie drehte den Türknauf. Hoffentlich war nichts passiert. »Owen?« Ihre Stimme klang in dem Raum zu laut, sein Name hallte wider. Sie entzündete die Kerosinlampe an der Tür. Seine Tasche, die früher Jamie gehört hatte, war verschwunden.

Als sie nach Cliff House rannte, kippte die Landschaft um sie herum, als wäre sie aus der Verankerung gerissen. Dort war er auch nicht. Nora lief zum Pier, wo das Fischerboot gelegen hatte. Es war weg.

Hinter ihr knackte ein Zweig.

Nora wirbelte herum, der Strahl ihrer Taschenlampe erhellte Ellas Gesicht. »Herrgott, El, schleich dich nicht immer so an.«

»Er ist weg.« Die Augen ihrer Tochter waren hart wie Stein.

»Woher weißt du das? Was hast du getan?«

»Was ich getan habe?«, kreischte sie. »Du meinst wohl eher, was du getan hast. Du hast Dad verlassen, uns hierhergebracht, und dann bist du zu ihm

»Was hast du zu Owen gesagt?«

»Dass wir nach Boston zurückfahren.«

»Warum hast du das gemacht?«

»Weil ich dich nur so dazu bringen kann heimzufahren.«

»Heim? Ich habe uns hierhergebracht, um von dem Skandal wegzukommen.«

»Und von Dad.«

»Er hat uns wehgetan.«

»Dir. Deswegen hast du angefangen, mit Owen zu reden, stimmt’s? Weil du jemanden gebraucht hast, der dich mag.«

»Er war Tante Maires Gast. Sie hat ihn …«

»Du auch! Besonders du …«

»Und deshalb hast du ihm Lügen erzählt? Er hat dir bestimmt nicht geglaubt.«

»Ich hab ihm gesagt, du hättest mich geschickt, weil das einfacher wäre für alle Beteiligten. Er scheint es geglaubt zu haben. Möglicherweise mochte er dich doch nicht so sehr, wie du dachtest. Vielleicht wartet irgendwo jemand auf ihn.«

Nora packte sie an den Schultern und schüttelte sie. »Dazu hattest du kein Recht.«

Ella schob sie weg. »Ich hatte jedes Recht dazu – das weißt du.«

»Ich kann ihn nicht in dem Glauben lassen …«

»Er glaubt es aber. Was spielt das jetzt noch für eine Rolle? Es wird Zeit, dass wir von der Insel wegkommen. Wir gehören nicht hierher.«

»Geh nach Hause. Auf der Stelle.«

»Genau das hatte ich vor.« Ella stürmte den Pfad hinauf.

Wie weit Owen wohl schon draußen auf dem Meer war? Das Wasser lag unter der bleichen Sichel des Mondes glatt, ruhig und dunkel da. Wie sollte Nora mit ihm Kontakt aufnehmen? Ihm sagen, dass alles ein Missverständnis war, sie ihn nicht ziehen lassen wollte? In den wenigen Wochen mit ihm hatte sie sich lebendiger gefühlt als in den letzten Jahren. Vielleicht weil er so neu für sie war, weil die Insel sie vom realen Leben mit seinen Problemen und Konflikten abschottete. Möglicherweise hatte es nie mehr sein sollen als ein Zwischenspiel. Trotzdem hätte sie gern mit ihm gesprochen, seine Stimme gehört. Sie würde Polly erzählen, was passiert war, sie bitten, Funkkontakt mit ihm aufzunehmen. Nora hastete in die Küche von Cliff House, nahm den Telefonhörer in die Hand, wählte Pollys Nummer und legte auf.

Wenn er es nicht gewollt hätte, wäre er nicht gegangen. Es war seine Entscheidung gewesen. Vielleicht hatte Ellas Nachricht ihm das Gehen nur leichter gemacht.