DREIUNDZWANZIG
Als das Märchenbuch mitten in der Nacht auf den Boden fiel, wachte Annie auf. Sie hatte unter der Bettdecke gelesen und war eingeschlafen. Auf ihrer Hand zeichnete sich der Abdruck eines der geprägten Buchstaben darauf, eines gotischen A ab. Sie fuhr die Umrisse mit dem Finger nach. Es war, als hätte das Buch begonnen, ihren Namen zu buchstabieren. Als sie sich bückte, um es aufzuheben, sah sie, wie Ella aus dem Fenster kletterte. Ihre Blicke trafen sich, eine stumme Frage: Kommst du mit? Annie zog Jacke und Stiefel an und nahm Siggy mit. Er war bereits einmal zurückgelassen worden.
Draußen wies ihnen das Mondlicht, das das Wasser mit einem langen, schimmernden Streifen erhellte, den Weg durch die Dunkelheit zum Strand.
Ella zog das Ruderboot über den Sand. »Bist du noch der Erste Maat?«
»Ja. Warum ziehst du das Boot ins Wasser?«
»Weil wir heimfahren.«
»Aber du hast so gut wie nichts dabei.«
»Wir müssen mit leichtem Gepäck reisen. Mom bringt den Rest, sobald sie nach Boston kommt.«
Annie stieg ein. Was hätte sie sonst tun sollen? Sie hätte sich gewünscht, dass Ronan da gewesen wäre, um sich von ihm verabschieden zu können. Oder war er bereits weitergezogen wie Owen, die beiden endlich vereint? Jedenfalls konnte sie Ella nicht allein losfahren lassen. Ella kannte das Meer nicht wie sie. Sie ruderten zum äußeren Ende der kleinen Bucht. Keine Spur von den Seehunden. Vielleicht schliefen sie; vielleicht waren sie auch auf der Suche nach besseren Jagdgründen weitergezogen. Sie und Ella waren allein nie so weit draußen gewesen. Das Verandalicht des Cottage wurde von Sekunde zu Sekunde kleiner. »Hast du einen Zettel dagelassen?«, fragte Annie.
»Warum?«
»Damit sie sich keine Sorgen macht. Sie macht sich bestimmt Sorgen.«
»Wir sind ihr nicht wichtig. Sie findet sich nur selbst wichtig.«
»Das stimmt nicht.«
Das Boot schien sich ganz den Wellen zu überlassen.
»Du musst fester rudern«, sagte Ella. »Nach links, nach Süden.«
»Zu den Rossbreiten?«
Ella lachte. »Ja.«
»Schau, den habe ich mitgenommen.« Sie reichte Ella den Kompass.
»Du diebische Elster«, sagte Ella bewundernd. »Gut gemacht.«
Sie fuhren in die Nacht. Annie wusste nicht, wie lange. Im Kanal verging die Zeit langsam, weil die Strömungen sie zurückhielten. Es war, als wollte die Insel sie nicht loslassen. Ella sagte, dass sie nicht aufgeben durften – egal wie viele Blasen sie an den Händen bekamen und wie sehr ihre Arme schmerzten. Sie hatte Annie erklärt, was sie tun würden, sobald sie Boston erreichten: Sie würden sich von einem Seemann oder einem Werftarbeiter ein Handy borgen, ihren Vater anrufen und ihn bitten, sie zu holen. Er würde überrascht und stolz sein über ihre Leistung. Er würde begreifen, wie sehr sie ihn liebten, was sie bereit waren für ihn zu tun. Er würde sie zum Essen ausführen, zu dem Chinesen, zu dem sie so gern gingen, und sie würden ihre Zukunft in den Glückskeksen lesen, nur gute Dinge, und sie würden sich bei Tisch schrecklich schlecht benehmen, weil ihre Mutter sie nicht schelten konnte.
»Und was ist mit Mama?«, fragte Annie.
»Was soll mit ihr sein?«
Das Wasser wurde schwarz und zähflüssig wie Öl, schlug murmelnd gegen die Bootswand, drängte sie in höher werdenden Wellen nach rechts.
»Ein Sturm zieht auf«, stellte Annie fest. »Weißt du noch, was Reilly gesagt hat? Dass das Meer unberechenbar ist. Das Wetter kann von einer Minute auf die andere umschlagen. Das riecht man am Wind.«
»Das Einzige, was ich rieche, bist du.«
Eine Welle tauchte aus dem Nichts auf und schlug über dem Boot zusammen. »Schöpfen!«, rief Ella. Sie verwendeten zwei Plastikeimer, mit denen Maire Honig gesammelt hatte, ohne Erfolg. Das Ruderboot kletterte die eine Seite einer Welle hinauf und glitt auf der anderen wieder hinunter, jede Welle steiler als die vorhergehende. Eine Seeschlange, die mit dem Schwanz schlug, dachte Annie. Das Dröhnen wurde lauter; sie konnten einander kaum noch verstehen.
»Wir müssen direkt auf die Wellen zuhalten, sonst kentern wir«, brüllte Ella.
Das Meer veränderte seine Taktik, schlich sich von der Seite an. Annie spürte es als Erste. »Wir sinken«, sagte sie.
»Nein!«
»Das Meer hört nicht auf uns. Es ist stark.« Fast gefiel es Annie, dass es einmal nicht nach dem Kopf ihrer Schwester ging, dass es etwas Mächtigeres gab als sie, etwas Mächtigeres als ihren Vater und ihre Mutter und ihre Probleme. Der Strudel zog die Mädchen in eine Wasserschlucht. Annie fragte sich, wo das enden, wie lange es dauern würde, bevor das Meer sie verschlang. Es war das Prächtigste, was sie jemals gesehen hatte, eine Stadt aus Wasser, mit Türmen rundherum. Sie blies in die Muschel, wie Ronan es ihr gesagt hatte. Etwas anderes konnte sie nicht tun. Das »eines Tages«, von dem er gesprochen hatte, war da.
Sie wurden in die Luft geschleudert. Ella schrie auf, als sie auf dem Wasser aufschlugen, Schwärze überall. Oben. Wo war oben? Mit Kiemen hätte Annie dort leben können, unter dem Wasser; sie hätte das Meer zu ihrem Zuhause erkoren. Dann spürte sie eher, als dass sie es hörte, wie das Boot herunterkrachte, und sie schwamm darauf zu, auf dieses dunkle Ding in der noch dunkleren Nacht. Sie tauchte prustend auf, eine Hand am Seil. Ella. Wo war Ella? Sie entdeckte die orangefarbene Schwimmweste, mit der ihre Schwester dahintrieb, zog Ella zu dem gekenterten Boot und gab ihr eine Ohrfeige. »Wach auf! Wach auf!« Ella bewegte sich nicht. Annie legte ihr Gesicht an das ihrer Schwester. Ja, sie lebte. Sie atmete.
Ella sah sich blinzelnd um. »Wo ist das Boot?«
»Hier. Es ist umgekippt. Du musst dich an der Seite festhalten.«
»Das Wasser ist kalt. Wir werden an Unterkühlung sterben.«
»Erinnerst du dich an die Geschichte, die wir mit Mama gelesen haben, über den Schiffbrüchigen, der tagelang im Meer getrieben ist? Er hat sich mit der Kraft seiner Gedanken warm gehalten, wie die Mönche in Tibet, die im Schnee meditieren.« Von denen hatte ihre Lehrerin Ms. Kelly der Klasse erzählt.
»Jetzt ist nicht die Zeit für Fantasie und Spiele. Begreifst du nicht? Wir könnten sterben.« Ella klapperte mit den Zähnen.
»Spürst du das?«
»Ich spüre überhaupt nichts. Meine Arme und Beine sind taub.«
»Die Strömung. Sie trägt uns weg.«
»Hoffentlich an Land. Ich bin müde. Ich schlafe ein bisschen.«
»Nein, bleib wach. Du musst wach bleiben.« Annie schüttelte sie.
Ella schloss die Augen, ließ sich von den Wellen wiegen.
Wie würde das Abenteuer enden? Es war, als befänden sie sich in einer der Geschichten aus dem Märchenbuch und lebten die Worte, die sie gelesen hatten. Würde ihre Mutter das Buch in die Hand nehmen und sie dort finden – in einer der Farbabbildungen? Altmodische Worte beschrieben den tapferen Kampf der siebenjährigen Annie.
Sie hatten nicht um Erlaubnis gebeten. War das der Fehler? Ella hätte es besser wissen müssen und nicht unerlaubterweise losfahren dürfen.
»Es tut mir leid«, flüsterte Annie. »Wir hätten fragen sollen. Es war nicht böse gemeint. Bitte beschütze uns. Es steht in deiner Macht, uns zu retten.«
Sie war müde, so müde. Ihre Augenlider flatterten, öffneten sich, schlossen sich.
Es war, als würde sie unter die Wellen gleiten.
Wach bleiben!, ermahnte sie sich.
Jemand musste aufpassen, damit ihnen nichts Schlimmes passierte, die Meeresungeheuer ihnen nichts taten – sie wusste, dass sie mit knirschenden Zähnen ihre Klauen wetzten. Das war ja auch nur natürlich, wenn zwei kleine Mädchen sich auf ihr Territorium vorwagten. Zwei kleine Mädchen, appetitlich mit Meersalz gewürzt.
Aber es gab doch auch freundliche Geschöpfe, oder? Die Guten und die Bösen und die dazwischen, im Meer wie auf dem Land. Wenn Annie in den vergangenen Wochen – in Boston und auf der Insel – irgendetwas gelernt hatte, dann das.
Wach bleiben …
Dann verlor auch sie das Bewusstsein.