ZWEI

Als Maire am folgenden Morgen am Cottage vorbeifuhr, fiel ihr Blick auf den Geländewagen mit dem Kennzeichen von Massachusetts. Zuerst meinte sie, ihre Augen spielten ihr einen Streich. Es war früh am Tag, vor Sonnenaufgang, eine Zeit voller Schatten und sich wandelnder Formen. Wegen der Geburt von Sheila O’Briens erstem Kind war sie die ganze Nacht über auf den Beinen gewesen. Vierundzwanzig Stunden Wehen, anstrengend für alle Beteiligten, doch der Junge, Bevan, war gesund und munter, knapp sieben Pfund schwer, mit einer kräftigen Lunge gesegnet. Allmählich fühlte Maire sich zu alt für solche anstrengenden Unternehmungen – sie wurde im Frühjahr sechzig –, aber an Ruhestand konnte sie noch nicht denken. Die Bewohner der Insel brauchten sie, und sie brauchte die Arbeit.

Obwohl man auf Burke’s Island nicht gerade von einem Babyboom sprechen konnte, hielten die Geburten sie auf Trab, nicht nur die Entbindungen, sondern auch die Vorbereitung darauf. Die meisten Frauen der Insel entschieden sich für eine Hausgeburt, weil es ziemlich große Umstände bereitet hätte, ins Krankenhaus auf dem Festland zu fahren. Sie wandten sich an Maire wie früher an ihre Mutter, Großmutter, Urgroßmutter und all die Frauen in Cliff House, die neuem Leben in die Welt halfen. Jetzt, da Joe und Jamie weg waren, wohnte Maire allein auf der Landspitze. Sie wusste nicht, ob sie sich je daran gewöhnen würde, an dieses Nachleben ohne ihre Männer mit den endlosen Stunden der Stille. Sie war eine gute Ehefrau und Mutter gewesen, und jetzt würde sie, wenn man sie ließ, auch eine gute Tante sein.

Ihr Herz schlug schneller beim Anblick des Geländewagens: Ihre Nichte Nora hatte ihren Brief erhalten und war auf die Insel zurückgekehrt. Polly hatte Patricks Todesanzeige in einer Bostoner Zeitung entdeckt, worauf Maire beschloss, noch einmal an Nora zu schreiben. Frühere Versuche, Kontakt mit ihr aufzunehmen, waren durch die Hände von Patrick gegangen und hatten die eigentliche Empfängerin vermutlich nie erreicht. Karten zum Geburtstag, zum Saint Patrick’s Day und zu Weihnachten mit ein paar Geldscheinen darin. Was er wohl damit gemacht hatte? Sie war ihm nicht böse, weil sie wusste, dass sie unliebsame Erinnerungen weckte. Ihr ging es um Nora. Ihr war es immer schon um Nora gegangen. Nora, die es verdient hatte, die Wahrheit zu erfahren.

So früh am Tag brannte im Cottage noch kein Licht; das würde erst später angehen und hoffentlich auch in den folgenden Tagen. Das Häuschen hatte zu lange leer gestanden.

Ihre Urgroßeltern hatten zur ersten Welle von Einwanderern gehört, die nach einem kurzen Aufenthalt in den Steinbrüchen von Massachusetts auf Burke’s Island Wurzeln schlugen. Sie hatten, abgesehen von den wenigen Habseligkeiten, die sie tragen konnten, und den Geschichten und Mythen jenes Teils von Donegal, aus dem sie stammten, nur wenig auf die Seelenverkäufer mitgenommen. Das tiefe Wissen nannten sie das. Das Träumen. Sie hatten das Cottage im Stil der Katen in der Heimat errichtet, aus gehauenem Granit. Knochenarbeit, aber das Cottage gehörte ihnen. Ihr erstes echtes Grundeigentum. Das Cottage hatte sie beherbergt, bis sie Jahre später genug Mittel besaßen, Cliff House zu bauen, und das Cottage war der Maßstab geblieben. Die bescheidene Behausung hatte allen Stürmen getrotzt. Ein keltischer Seedrache, ins Holz über der Tür geschnitzt, zeugte von Kraft und Durchhaltevermögen der Bewohner.

Jetzt war das Dach mit Kieseln, nicht mehr mit Torf gedeckt und der Drache so verwittert, dass man ihn kaum noch erkennen konnte. Man musste schon wissen, dass er sich dort befand. Nachdem Maeve und Patrick in das Cottage gezogen waren, hatte er das Innere auf Vordermann gebracht, die Schränke und anderen Holzmöbel selbst geschreinert. Er war der ruhige Gegenpol zu Maires impulsiver Schwester gewesen. Maire, zwei Jahre jünger als Maeve und damals ohne Partner, hatte sie regelmäßig mit Körben voller Gemüse und Obst aus dem Garten von Cliff House besucht. Sie erinnerte sich an Patricks kräftige, aber auch sensible und schlanke Finger, die bedächtig und sicher schmirgelten und glätteten, Kanten und Ecken miteinander verbanden und die Maserung polierten, bis sie glänzte.

An jenem Morgen regte sich nichts im Cottage. Nora schlief wohl noch, die Vorhänge waren zugezogen; nur die Lerchen flatterten schon auf der Suche nach Futter über die frühmorgendlichen Wiesen. Maire hatte in der Zeitung ein Bild ihrer Nichte gesehen. (Polly hatte ihr das Blatt gezeigt und versprochen, Stillschweigen darüber zu bewahren. Trotz ihrer Klatschsucht konnte man sich auf sie verlassen.) Auf dem Foto verbarg Nora ihr Gesicht halb vor den Kameras. Offenbar hatte die Affäre schon, Monate bevor alles ans Licht gekommen war, begonnen. Wie lange hatte Nora von der Sache gewusst, die eigentlich geheim hätte bleiben sollen, jedoch publik geworden war wegen der gesellschaftlichen Position ihres Mannes als neuer Stern am Himmel der Partei? Maire fiel es schwer, sich vorzustellen, was Nora durchgemacht hatte – und wahrscheinlich immer noch durchlitt. Ob Malcolm mitgekommen war? Und die Kinder. Sie nahm an, dass Kinder existierten; sicher wusste sie es nicht. Die Artikel hatten keine erwähnt und sich ausschließlich auf Nora, Malcolm und die andere Frau bezogen.

Maire hatte vorgehabt, sich nach der schwierigen Geburt ein paar Stunden auszuruhen, doch die Aufregung über Noras Ankunft machte Schlaf unmöglich. Sie fuhr nach Hause; die Reifen ihres Trucks wirbelten Muschelstücke von der Straße auf. Als Erstes würde sie Rhabarbermuffins backen und sie ihrer Nichte in einem Korb mit einem Glas Inselhonig von den Bienenstöcken im Obstgarten auf die Veranda stellen. Die Rhabarberpflanzen wuchsen auf der südlichen Seite des Hauses, am Steinfundament, hinter dem großen Garten. Maire wählte die schönsten Stängel aus, nahm nur die, die sich leicht herausziehen ließen, drehte die Blätter mit einer kräftigen Drehung des Handgelenks ab und warf sie auf den Komposthaufen. Außer Rhabarber brauchte sie noch braunen Zucker, Öl, Mehl, Eier, Buttermilch, Backpulver – und fertig. Wenn nur alles so einfach gewesen wäre.

Als sie die Küchentür öffnete, hörte sie vom Pier ein Platschen. Wahrscheinlich ein Seehund. Sie hätte schwören mögen, dass sie etwas Silbernes gesehen hatte. So lange sie sich erinnern konnte, hatte es keine silberfarbenen Seehunde mehr in den Gewässern rund um die Insel gegeben, obwohl die Leute noch voller Ehrfurcht von ihnen sprachen. Aber es war fast Mittsommer, und zur Sommersonnenwende war in dieser Gegend alles möglich.

Mittsommer, die Zeit, in der ihre Schwester verschwunden war.

Nora sah aus wie sie. Wie Maeve. Mit ein bisschen weniger Flirtpotenzial, von dem Maeve auch nach ihrer Heirat noch mehr als genug besessen hatte. Das war ein wesentlicher Teil ihres Charakters gewesen, dieses unbezähmbaren Geistes. Sie konnte gar nicht anders, als jeden Mann in ihren Bann zu schlagen. Sie verhexe die Männer, behaupteten die Frauen im Ort, die gern ihr Geheimnis ergründet hätten.

Alle drei besaßen die Lockenmähne der McGanns, die von Nora dunkel wie die von Maeve, die der Mädchen heller, möglicherweise wie die ihres Vaters. Sommersprossen auf der Nase. Dazu hohe Wangenknochen, die Augenlider ein wenig nach unten gezogen.

»Tante Maire?« Nora nahm ihre Hände, ihre beiden Töchter neben sich, die sich kaum unterschieden von Maire und Maeve in jungen Jahren, nur dass Maeve größer und verwegener gewesen war. Wie Noras Ältere. Ihr Temperament erkannte man in ihren dunkel glühenden Augen. Sie wirkte unruhig, nervös, gezähmt nur durch den Willen ihrer Mutter. Doch auch die andere hatte mit ihrer Lebhaftigkeit und ihrem Charme etwas von Maeve.

Ihre Nichte und die Großnichten musterten sie mit einer Mischung aus erwartungsvoller Neugierde und Unsicherheit. Maire hatte sie gerufen, etwas in Gang gesetzt, die Wunde aufgerissen. Sie hatte sich diesen Augenblick so lange vorgestellt, aber jetzt, da er gekommen war, wusste sie nicht so recht, was sie tun oder sagen sollte.

»Nora.« Sie breitete die Arme aus und zog das Mädchen – nein, die Frau – zu sich heran.

Nora erwiderte Maires Umarmung, bevor sie ihre Töchter vorstellte. Dabei wanderte ihr Blick über den Raum. Erinnerte sie sich daran, hier gewesen zu sein? Erinnerte sie sich, wie sie in Maeves altem Zimmer geschlafen hatte, wenn ihre Eltern eine Nacht für sich allein brauchten? Daran, wie erschüttert ihr Vater gewesen war nach dem Verschwinden seiner Frau?

»Kommt rein an den Kamin«, forderte Maire sie auf. »Ich hab Muffins und Tee gemacht und wollte sie euch vor die Tür des Cottage stellen, aber ihr seid mir zuvorgekommen.«

Komm rein an den Kamin. Die gleichen Worte wie damals, als sie Nora als Kind barfuß und zitternd am Strand aufgefunden hatte. Erinnerte sie sich noch? Wie Maeve ins Meer getaucht war, die entlegensten Winkel der Insel erforschte, wie Patrick mit dem Boot oder dem Wagen nach ihr gesucht hatte, sie ihm immer ein paar Schritte voraus gewesen war. Wie verwundert und dann verärgert er gewesen war und wie er sich am Ende beraubt gefühlt hatte, ähnlich wie Maire, nachdem er mit Nora gegangen war.

»Ich kann’s noch gar nicht glauben, dass wir hier sind«, sagte Nora, als ihre Töchter sich über die Muffins hermachten. Sie sah sich im Wohnzimmer um, betrachtete die Bilder ihrer Vorfahren auf dem Kaminsims, die Krüge mit Meerglas, die Muscheln und Steine in einer Schale, der Deckel ein Spiralmosaik aus glatten Kieseln vom Strand.

»Es ist lange her«, pflichtete Maire ihr bei und strich eine Falte ihrer frisch gebügelten, bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Baumwollbluse glatt. Der Aufschlag ihrer Jeans reichte bis zu den Knöcheln, und die Schuhe hatte sie mit Bindfaden geschnürt, weil das die einfachste Lösung war, wenn die Schnürsenkel rissen.

»Ich dachte, du wärst nicht mehr da. Keiner wäre mehr da.« In Noras Augen schimmerten Tränen, die sie mit einem entschuldigenden Lächeln wegblinzelte.

»Außer mir ist tatsächlich keiner mehr da.«

»Mein Vater hat gesagt …«

»Ich weiß. Ich habe geschrieben, aber er …«

»Ja.«

Der halb vollendete Gedanke, die Art und Weise, wie die Frauen die Lücken füllten, das Ungesagte erahnten, barg Gefahren.

»Wahrscheinlich kommt dir alles sehr verändert vor«, sagte Maire. »Das Cottage war damals noch besser in Schuss. Dein Vater hat Wochen damit verbracht, es herzurichten, und die Schränke selbst geschreinert. Keine Ahnung, ob sie noch zu retten sind. Ich wollte sie von einem Tischler anschauen lassen.«

Nora faltete die Hände im Schoß. »In meiner Erinnerung geht alles kunterbunt durcheinander.«

»Ich wollte das Cottage auf Vordermann bringen lassen«, meinte Maire, »aber ich wusste nicht, ob ihr wirklich kommt.«

»Tut mir leid, dass ich nicht früher Bescheid gesagt habe. Das war gedankenlos von mir.«

»Nein, ich wollte nicht …«, beeilte Maire sich, ihr zu versichern.

»Es war so viel los.« Wieder dieses wehmütige Lächeln.

»Verstehe«, sagte Maire. Jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, Fragen über das zu stellen, was sich in Boston ereignet hatte. Sie kannte ihre Nichte nicht gut genug, und außerdem waren die Kinder da, die bestimmt schon mehr mitbekommen hatten, als sie sollten. »Du musst nichts erklären.«

»Die Insel ist genau das, was wir brauchen«, sagte Nora, als müsste sie sich selbst davon überzeugen, dass es richtig gewesen war herzukommen.

Ella formte mit den Lippen die Worte von wegen. Sie war in einem schwierigen Alter, auch ohne den Skandal.

»Wir richten das Cottage her«, schlug Maire vor. Sie würde Ella für sich gewinnen, Schritt für Schritt. »Im Haushaltswarenladen gibt’s Wandfarben, mit denen peppen wir es auf.«

»Nicht nötig«, versicherte Nora.

»Die Risse und abgeschlagenen Ecken müssen sowieso ausgebessert werden.«

»Blau!«, rief Annie aus. »Wie das Meer.«

»Grau«, sagte Ella. »Wie die Wolken.«

»Grau ist deprimierend«, seufzte Annie.

»Genau.«

»El!«, warnte Nora sie.

»Ich mag Grau«, erklärte Maire diplomatisch. »Das ist die Farbe des Himmels.«

»Wo die Engel wohnen.« Annie ging ans Fenster. »Komm, El, lass uns rausgehen, alles anschauen. Diesen Teil des Strands haben wir noch nicht gesehen.«

»Gute Idee«, sagte Nora, bevor Ella widersprechen konnte.

Ella fügte sich seufzend in ihr Schicksal und begleitete Annie nach draußen.

»Was ich dich fragen wollte: Warum hast du mir den geschickt?« Nora nahm einen Kompass, kaum größer als eine Zehn-Cent-Münze, aus der Tasche, den Maire ihrem Brief beigelegt hatte. »Ist der ein Familienerbstück?«

»Ja. Dein Urgroßvater hat ihn aus Irland mitgebracht. Angeblich hat er ihn auf seiner Reise um die halbe Welt auf dem richtigen Kurs gehalten«, antwortete Maire. »Ich habe ihn dir geschickt, weil er dir gehört.«

»Mir?« Sie drehte den Kompass zwischen den Fingern.

»Du hast ihn damals in der Hand gehalten. Wahrscheinlich hat deine Mutter ihn dir gegeben.«

»Wann?«

»Als man dich am Strand von Little Burke gefunden hat. Du hast den Kompass ständig mit dir rumgetragen, sogar damit geschlafen und ihn nie aus den Augen gelassen. Bis ich ihn auf dem Nachtkästchen in deinem Zimmer gefunden habe, an dem Morgen, nachdem dein Vater mit dir weggegangen ist.«

»Und du hast ihn all die Jahre aufgehoben.«

»Ich dachte, vielleicht würdest du ihn irgendwann brauchen.«

Nora betrachtete den Kompass, dessen Nadel nicht ganz genau nach Norden zeigte. Er wies ihr den Weg, doch wohin? Da lang, sagte er, weil sie noch nicht an ihrem Bestimmungsort angelangt war. Es schien ihr vorbestimmt gewesen zu sein, nach Burke’s Island zurückzukehren, wo die Puzzleteile ihres Lebens sich zu einem Ganzen fügen würden, fein gewoben wie das Netz eines Fischers, eine Reise, die gerade erst begonnen hatte.

Annie sprang von Stein zu Stein. Die Felsen hier ähnelten Bowlingkugeln, rund und glatt mit ein paar daumengroßen, tiefen Löchern, die aussahen wie hineingefräst. Die Einheimischen nannten diesen Abschnitt der Küste »die Bowlingbahn«. »Lass uns spielen«, rief Annie und hüpfte auf und ab wie auf Sprungfedern.

»Ich bin zu alt zum Spielen«, sagte Ella und kickte einen Kiesel weg.

»Niemand ist zu alt zum Spielen.«

»So ein Quatsch.«

»Was hast du bloß für ein Problem?« Annie stampfte mit dem Fuß auf. »Warum tust du immer so gescheit und machst abfällige Bemerkungen?«

»›Abfällige Bemerkungen‹ – ganz schön große Worte für ein kleines Mädchen.«

»So klein bin ich auch wieder nicht – und du bist nicht die einzige Schlaue hier. Ich mach nur nicht so viel Wind drum wie du.«

Ella verzog den Mund. »Eins zu null für dich. Na schön, spielen wir. Aber ich entscheide, was.«

»Okay.« Annie rannte voraus.

»Wo willst du hin?«

»Ich seh was. Da drüben.« Sie lief zu einem Haufen Treibholz am Fuß einer Klippe. Annie war eine schnelle Läuferin, die schnellste in ihrer Klasse, schneller noch als die Jungs. »Schau, die Vögel.« Sie deutete auf die Papageientaucher mit den bunten Schnäbeln, die auf den äußeren Felsen nisteten. »Wie aus einem Comicheftchen.«

»Ich an deiner Stelle würde nicht zu nah rangehen«, warnte Ella sie. »Vielleicht hacken sie mit dem Schnabel nach dir – oder die Flut reißt dich fort.«

»Du denkst immer das Schlimmste.« Annie balancierte auf einem Holzstück. »Ich bin Sir Francis Drake …«

»Der hat Menschen umgebracht.«

»Ich bin Kolumbus …«

»Leidest du unter Schizophrenie oder was?« Ella lehnte sich an einen Granitblock, weil sie hoffte, dass Annie irgendwann müde werden würde, den großen Entdecker zu spielen.

»Ha!«, rief Annie und deutete zwischen die Felsen und das Treibholz. »Schau, ein Boot!«

»Schwer zu übersehen.«

»Begreifst du denn nicht? Es wartet auf uns.« Sie schob die Zweige und Netzstücke weg, die ihren Fund halb verbargen, ohne auf die Kratzer zu achten, die sie sich dabei zuzog.

»Das wage ich zu bezweifeln. Liegt wohl schon eine ganze Weile dort. Der Bug ist voll mit Muscheln und kleinen Krebsen.«

»Die sind nicht schlimm, gibt’s auch auf Walen. Ich werde sie auch haben, wenn wir lange genug hierbleiben. Wie die Meermenschen.«

»Hörst du bitte endlich auf, von den Meermenschen zu reden? Die existieren nicht.«

»Das glaubst du.« Annie kletterte in das Boot, das leicht ins Wanken geriet, als sie sich setzte. »Siehst du? Ich gehe auf große Fahrt. Ich bin der Kapitän.« Sie reckte das Kinn vor. »Du musst mir salutieren.«

Ella setzte sich ihr gegenüber. »Du kannst nicht der Kapitän sein. Du bist zu jung. Kapitäne müssen mindestens zwölf Jahre alt sein.«

»Wer sagt das?«

»Paragraph drei des Seefahrerkodex. Den kennt jedes Kind.« Ella überlegte. »Du könntest den Schiffsjungen machen.«

»Ich will Kapitän sein. Außerdem bin ich ein Mädchen.«

»Selbst wenn wir uns darauf einigen, uns nicht an die Seefahrerregeln zu halten – und damit würden wir zu Verrätern –, kann es keine zwei Kapitäne geben. Du wirst Erster Maat.«

»Na schön«, brummte Annie. »Und wo segeln wir hin?«

»Ans Ende der Welt.« Ella senkte die Stimme. Sie freute sich, wenn sie ihrer kleinen Schwester einen Schrecken einjagen konnte, wie damals, als sie sich mit einer Halloweenmaske im dunklen Zimmer versteckt hatte.

»Wir sollten nach Little Burke fahren.« Annie deutete zu der Insel hinüber. »Das könnte unser großes Abenteuer werden.«

»Du hältst dich immer noch für Kolumbus, was?«

»Für dich Sir Kolumbus.«

Ella lachte.

»Was ist so lustig?«

»Du als Sir Irgendwas.« Ellas Blick wanderte übers Wasser. Es erschien ihr ruhig genug für die Überfahrt. »Ein Problem gibt’s allerdings mit deinem Einfall: Wir haben keine Ruder.«

Aus der Ferne hörten sie Noras Stimme. »Kommt rein, Mädchen«, rief sie. »Wir fahren in die Stadt.«

»Na toll.« Ella stieg aus dem Boot und wischte sich den Sand vom Hosenboden.

»Habt ihr nicht gehört? Wir wollen Farbe kaufen für euer Zimmer.«

»Super. Die Dämpfe stinken und sind giftig.«

»Du bist hier diejenige, die die Leute mit giftigen Dämpfen vollstinkt.«

»Ha, ha. Und du bist so lustig, dass mir das Lachen vergeht.«

»Wir holen Farbe für das Boot«, sagte Annie und ging mit ihrer Schwester los. »Es hat keinen Namen. Wir können es nennen, wie wir wollen.«

»Die Ella

»Nein, wir nennen es nicht nach dir. Schließlich hab’s ich gefunden.«

Die Endeavor.

Die Leaky Kon Tiki.

Die Meerjungfrau.

Während sie weitere Namen diskutierten, hatte Ella das Gefühl, dass jemand sie hinter den Felsen hervor beobachtete.