Irgendwann vor rund eineinhalb Millionen Jahren tat ein vergessenes Genie aus der Welt der Hominiden etwas Unerwartetes: Er (oder sehr wahrscheinlich sie) nahm einen Stein in die Hand und benutzte ihn dazu, einen anderen Stein sorgfältig in Form zu bringen. Das Ergebnis war ein einfacher, tropfenförmiger Faustkeil, das erste Produkt fortgeschrittener Technologie auf der Erde.
Allen sonstigen Werkzeugen war es so haushoch überlegen, dass andere schon bald dem Beispiel des Erfinders folgten und ebenfalls Faustkeile herstellten. Schließlich gab es offenbar ganze Gesellschaftsgruppen, die kaum noch etwas anderes taten. »Sie produzierten die Werkzeuge zu Tausenden«, sagt Ian Tattersall. »In Afrika kann man an manchen Stellen buchstäblich keinen Schritt tun, ohne auf sie zu treten. Das ist eigenartig, denn ihre Herstellung ist recht arbeitsaufwändig. Es ist, als hätte man sie aus purer Lust an der Sache produziert.«1
Von einem Regal in seinem sonnendurchfluteten Arbeitszimmer nimmt Tattersall einen riesigen Abguss und drückt ihn mir in die Hand. Er ist ungefähr einen halben Meter lang und an der breitesten Stelle etwa 20 Zentimeter breit. Die Form erinnert an eine Speerspitze, die allerdings so groß ist wie ein Pflasterstein. Da der Abguss aus Fiberglas besteht, wiegt er nur ein paar Dutzend Gramm, das Original jedoch, das in Tansania gefunden wurde, brachte mehr als elf Kilo auf die Waage.
»Als Werkzeug war es völlig nutzlos«, erklärt Tattersall. »Um es richtig hochzuheben, waren zwei Personen erforderlich, und selbst dann wäre es äußerst anstrengend gewesen, irgendetwas damit zu erschlagen.«
»Wozu war es dann gut?«
Tattersall zuckt vielsagend mit den Schultern – offenbar hat er Spaß an dem Rätsel. »Keine Ahnung. Es muss irgendeine symbolische Bedeutung gehabt haben, aber worin sie bestand, können wir nur raten.«
Die Faustkeile wurden unter dem Namen Acheuléen-Werkzeuge bekannt; der Name erinnert an St. Acheul, einen Vorort der nordfranzösischen Stadt Amiens, wo im 19. Jahrhundert die ersten Stücke gefunden wurden. Sie stehen im Gegensatz zu den älteren, einfacheren Werkzeugen, die man nach ihrem ursprünglichen Fundort, der Olduvai-Schlucht in Tansania, als Oldowan bezeichnet. In älteren Lehrbüchern werden die Oldowan-Werkzeuge meist als stumpfe, abgerundete Steine von der Größe einer Hand dargestellt. Mittlerweile neigen die Paläoanthropologen aber zu der Annahme, dass in Wirklichkeit die Stücke, die von diesen größeren Steinen abgeschlagen wurden und die sich dann zum Schneiden eigneten, als Werkzeuge dienten.
Hier stehen wir vor einem Rätsel. Als die frühen Jetztmenschen, aus denen wir später hervorgingen, vor über 100000 Jahren erstmals aus Afrika auswanderten, waren die Acheuléen-Werkzeuge die Technologie der Wahl. Außerdem liebten diese ersten Vertreter der Spezies Homo sapiens ihre Acheuléen-Produkte und transportierten sie über große Entfernungen. Manchmal nahmen sie sogar unbehauene Steine mit, um sie später zu Werkzeugen zu verarbeiten. Kurz gesagt, waren sie von ihrer Technologie begeistert. Aber während man Acheuléen-Werkzeuge in Afrika und Europa sowie in West- und Zentralasien an vielen Stellen gefunden hat, fehlen sie im Fernen Osten fast vollständig. Das ist äußerst rätselhaft.
In den vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts zog Hallum Movius, ein Paläontologe der Harvard University, die so genannte Movius-Linie, eine Grenze zwischen Gebieten mit und ohne Acheuléen-Werkzeuge. Sie verläuft in südöstlicher Richtung quer durch Europa und den Nahen Osten bis in die Nähe des heutigen Kalkutta und nach Bangladesh. Jenseits der Movius-Linie, in ganz Südostasien und China, hat man nur die älteren, einfacheren Oldowan-Werkzeuge gefunden. Wir wissen folglich, dass der Homo sapiens weit über die Grenze hinauskam – warum also brachten die Menschen eine fortgeschrittene, von ihnen hoch geschätzte Steintechnologie bis an den Rand des Fernen Ostens, um sie dann aufzugeben?
»Diese Frage hat mich lange beunruhigt«, berichtet Alan Thorne von der Australian National University in Canberra.
»Die ganze moderne Anthropologie gründete sich auf die Vorstellung, dass die Menschen in zwei Wellen aus Afrika ausgewandert sind – mit der ersten kam Homo erectus, der zum Javamenschen, Pekingmenschen und Ähnlichem wurde, und später folgte eine zweite Welle mit dem höher entwickelten Homo sapiens, der die erste Gruppe verdrängte. Aber wenn das stimmt, muss man annehmen, dass der Homo sapiens mit seiner modernen Technologie bis zu der Grenze vordrang und sie dann aus irgendeinem Grund aufgab. Das alles war, gelinde gesagt, sehr rätselhaft.«
Wie sich herausstellt, gab es noch eine Menge weiterer Rätsel, und einer der unverständlichsten Befunde überhaupt stammte aus Thornes eigener Weltregion, dem australischen Outback. Im Jahr 1968 erkundete der Geologe Jim Bowler einen seit langem ausgetrockneten See namens Mungo in einer ausgedörrten, einsamen Ecke im Westen des australischen Bundesstaates New South Wales. Plötzlich fiel sein Blick auf etwas Überraschendes. Aus einem halbmondförmigen Sandhaufen ragten einige Menschenknochen. Zu jener Zeit nahm man an, dass Menschen seit höchstens 8.000 Jahren in Australien lebten, aber der Lake Mungo war schon seit 12.000 Jahren ausgetrocknet. Was hatten Menschen in einer so unwirtlichen Gegend zu suchen?
Die Antwort lieferte die Radiokarbondatierung: Der Mensch, zu dem die Knochen gehörten, lebte zu einer Zeit, als der Lake Mungo ein wesentlich angenehmeres Umfeld bot. Damals war er 20 Kilometer lang, voller Wasser und Fische, und gesäumt von hübschen Gehölzen aus Kasuarinengewächsen. Zum allgemeinen Erstaunen stellte sich heraus, dass die Knochen 23.000 Jahre alt waren. Andere, in der Nähe gefundene Skelettteile wurden auf ein Alter von bis zu 60.000 Jahren datiert. Dieses Ergebnis kam so unerwartet, dass es eigentlich völlig unmöglich erschien. Seit es auf der Erde die ersten Hominiden gab, war Australien immer eine Insel gewesen. Wenn Menschen dorthin gelangt waren, mussten sie über das Meer gekommen sein, und zwar in so großer Zahl, dass sie eine fortpflanzungsfähige Bevölkerung bildeten. Zuvor mussten sie mindestens 100 Kilometer offenes Meer überwinden, und dabei konnten sie nicht wissen, ob ihnen eine bequeme Landung bevorstand. Nachdem die Mungo-Menschen an Land gegangen waren, waren sie von der Nordküste Australiens – dem mutmaßlichen Ort ihrer Ankunft – über 3000 Kilometer weit ins Landesinnere gewandert. Deshalb geht ein Bericht in der angesehenen Fachzeitschrift Proceedings of the National Academy of Sciences davon aus, »dass die Menschen vermutlich nicht erst vor 60.000 Jahren, sondern schon beträchtlich früher eintrafen«.2
Die Frage, wie und warum sie nach Australien kamen, lässt sich derzeit nicht beantworten. Nach Auskunft der meisten Anthropologie-Lehrbücher gibt es keinerlei Hinweise, dass die Menschen vor 60000 Jahren überhaupt schon sprechen konnten, und noch viel weniger waren sie demnach zu der gemeinsamen Anstrengung in der Lage, seetüchtige Schiffe zu bauen und einen isolierten Kontinent zu besiedeln.
»Was die Wanderungsbewegungen der Menschen vor Beginn der historischen Aufzeichnungen angeht, haben wir noch große Wissenslücken«, erklärt mir Alan Thorne, als ich ihn in Canberra aufsuche.3 »Als die Anthropologen im 19. Jahrhundert zum ersten Mal nach Papua-Neuguinea kamen, stellten sie fest, dass die Menschen im Hochland des Landesinneren, in einem der unzugänglichsten Gebiete auf der ganzen Erde, Süßkartoffeln anbauten. Die Süßkartoffel ist in Südamerika zu Hause. Wie kam sie nach Papua-Neuguina? Wir wissen es nicht. Wir haben nicht die leiseste Ahnung. Eines aber ist sicher: Menschen ziehen mit beträchtlichem Selbstvertrauen schon viel länger durch die Welt, als man traditionell annimmt, und mit ziemlicher Sicherheit haben sie dabei nicht nur Informationen, sondern auch Gene ausgetauscht.«
Das Problem liegt wie immer in den Fossilfunden. »Nur wenige Regionen auf der Erde eignen sich auch nur entfernt dafür, dass Überreste von Menschen langfristig erhalten bleiben«, sagt Thorne, ein Mann mit scharfem Blick, einem weißen Ziegenbärtchen und angespanntem, aber freundlichem Wesen.
»Gäbe es nicht ein paar produktive Gebiete wie Hadar oder die Olduvai-Schlucht in Ostafrika, wüssten wir beängstigend wenig. Aus dem ganzen indischen Subkontinent kennt man nur ein einziges Frühmenschenfossil, und das stammt aus der Zeit vor rund 300.000 Jahren. Zwischen dem Irak und Vietnam – das ist eine Entfernung von etwa 5.000 Kilometern – hat man ganze zwei gefunden: das eine in Indien und einen Neandertaler in Usbekistan.« Er grinst. »Das ist nicht gerade viel Arbeitsmaterial. Man muss sich damit abfinden, dass es für menschliche Fossilien nur wenige produktive Gegenden gibt, beispielsweise das Große Rift-Tal in Afrika und den Lake Mungo hier in Australien. Dazwischen ist so gut wie nichts. Kein Wunder, dass die Paläontologen Mühe haben, Verbindungen zwischen den einzelnen Punkten herzustellen.«
Nach der herkömmlichen Theorie zur Erklärung der Wanderungsbewegungen – einer Theorie, die noch heute bei der Mehrheit der Fachleute anerkannt ist – verbreiteten sich die Menschen in zwei Wellen über Eurasien. Die erste vollzog Homo erectus, der Afrika bemerkenswert schnell verließ – praktisch sofort, nachdem die Spezies entstanden war – und begann vor fast 2 Millionen Jahren. Als diese Frühmenschen sich in verschiedenen Regionen niederließen, entwickelten sie sich allmählich zu verschiedenen Typen auseinander: Javamensch und Pekingmensch in Asien, Homo heidelbergensis und schließlich Homo neanderthalensis in Europa.
Dann, vor etwas mehr als 100.000 Jahren, entstand in den Ebenen Afrikas ein klügeres, schlanker gebautes Wesen: der Vorfahre aller heute lebenden Menschen, der sich dann in einer zweiten Welle immer weiter verbreitete. Wohin sie auch kamen, überall verdrängten diese Vertreter der neuen Spezies Homo sapiens der Theorie zufolge ihre schwerfälligeren, weniger geschickten Vorgänger. Wie das im Einzelnen geschah, war immer umstritten. Spuren gewalttätiger Auseinandersetzungen hat man nie gefunden, und deshalb gehen die meisten Experten davon aus, dass die neueren Hominiden ihren älteren Verwandten einfach als Konkurrenten überlegen waren – andere Faktoren könnten allerdings ebenfalls dazu beigetragen haben. »Vielleicht haben sie sich bei uns mit Pocken angesteckt«, vermutet Tattersall. »Man kann darüber nichts Genaues sagen. Nur eines ist sicher: Wir sind heute hier und sie nicht.«
Die ersten Jetztmenschen sind erstaunlich schwer fassbar. Seltsamerweise wissen wir über unsere eigene Spezies weniger als über die meisten anderen Abstammungslinien der Hominiden. Wie Tattersall feststellt, ist es wirklich eigenartig, »dass das letzte wichtige Ereignis in der Evolution der Menschen – die Entstehung unserer eigenen Spezies – vielleicht das Rätselhafteste von allen ist«.4 Die Fachleute können sich nicht einmal darauf einigen, wann die echten Jetztmenschen in den Fossilfunden zum ersten Mal auftauchen. Viele Bücher verlegen ihren ersten Auftritt in die Zeit vor rund 120000 Jahren – so alt sind Überreste, die man an der Mündung des Flusses Klasies in Südafrika gefunden hat. Manche Wissenschaftler mögen aber nicht anerkennen, dass es sich dabei um echte Jetztmenschen handelt. Tattersall und Schwartz erklären: »Ob sie alle oder auch nur ein Teil von ihnen tatsächlich unsere Spezies repräsentieren, bleibt noch abschließend zu klären.«5
Seinen ersten unumstrittenen Auftritt hat der Homo sapiens am östlichen Mittelmeer ungefähr im Gebiet des heutigen Israel, wo er vor rund 100000 Jahren zum ersten Mal auf der Bildfläche erscheint – aber auch diese Funde werden (von Trinkaus und Shipman) als »eigenartig, schwierig zu klassifizieren und schlecht bekannt« bezeichnet.6 Die Neandertaler hatten sich zu jener Zeit in der Region bereits fest angesiedelt und verfügten über ein Werkzeugarsenal, das als Mousterien bezeichnet wird und den Jetztmenschen anscheinend so gut gefiel, dass sie es übernahmen. In Nordafrika hat man keine Überreste von Neandertalern gefunden, auf ihre Werkzeuge stieß man jedoch überall.7 Irgendjemand muss sie dorthin gebracht haben, und Jetztmenschen sind die Einzigen, die dafür in Frage kommen.
Man weiß auch, dass Neandertaler und Jetztmenschen mehrere 10000 Jahre lang im Nahen Osten in irgendeiner Form nebeneinander lebten. »Ob sie zu verschiedenen Zeiten die gleichen Gebiete besiedelten oder tatsächlich unmittelbare Nachbarn waren, wissen wir nicht«, sagt Tattersall. In jedem Fall verwendeten die Jetztmenschen aber mit Vergnügen die Werkzeuge der Neandertaler – wohl kaum ein überzeugender Beleg für eine gewaltige Überlegenheit. Nicht weniger seltsam ist, dass man im Nahen Osten auch Acheuléen-Werkzeuge aus der Zeit vor über einer Million Jahre gefunden hat, während sie in Europa noch vor 300000 Jahren so gut wie nicht existierten. Auch hier ist es ein Rätsel, warum Menschen ihre Werkzeuge nicht mitnahmen, obwohl sie über die Technologie verfügten.
Lange Zeit glaubte man, die Cromagnons, wie die europäischen Jetztmenschen genannt wurden, hätten die Neandertaler bei ihrem Vordringen über den Kontinent vor sich her getrieben und sie schließlich an seinen westlichen Rand abgedrängt, wo sie letztlich keine andere Wahl mehr hatten, als ins Meer zu fallen oder auszusterben. Heute weiß man aber, dass die Cromagnons ungefähr zur gleichen Zeit, als sie aus dem Osten kamen, auch bereits ganz im Westen Europas zu Hause waren. »Europa war damals ziemlich leer«, sagt Tattersall. »Trotz ihres Kommens und Gehens sind sie sich wahrscheinlich nicht allzu oft begegnet.« Ein seltsamer Aspekt an der Einwanderung der Cromagnons ist die Tatsache, dass sie zu einer Zeit stattfand, als sich in Europa nach einer Phase mit relativ mildem Klima wieder eine lange Kälteperiode breit machte.8 Was sie auch nach Europa gezogen haben mag, das gute Wetter war es mit Sicherheit nicht. Jedenfalls widerspricht die Vorstellung, die Neandertaler seien durch die Konkurrenz mit den neu eingewanderten Cromagnons zu Grunde gegangen, zumindest ein wenig den verfügbaren Indizien. Wenn die Neandertaler eine Fähigkeit besaßen, dann war es ihre Widerstandskraft. Über Zehntausende von Jahren hinweg lebten sie unter Bedingungen, die kein moderner Mensch außer ein paar Polarforschern und Entdeckern jemals erduldet hat. Auf dem Höhepunkt der Eiszeit waren Schneestürme mit Wind von Orkanstärke an der Tagesordnung.
Die Temperaturen sanken regelmäßig auf bis zu minus 40 Grad. Durch die schneebedeckten Täler im Süden Englands stapften Eisbären. Natürlich gingen auch die Neandertaler dem Schlimmsten aus dem Weg, aber sie erlebten mit Sicherheit Wetterbedingungen, die mindestens so unangenehm waren wie heute im sibirischen Winter. Auch sie litten darunter – ein Neandertaler, der nennenswert älter als 30 Jahre wurde, hatte großes Glück –, aber als Spezies waren sie äußerst widerstandsfähig und praktisch unausrottbar. Sie blieben mindestens 100000 Jahre oder vielleicht auch doppelt so lange erhalten, und das in einem Gebiet von Gibraltar bis nach Usbekistan – ein wahrhaft großer Erfolg für jede Art von Lebewesen.9
Welche Eigenschaften sie im Einzelnen besaßen, ist bis heute ein wenig umstritten und nicht gesichert. Bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts war man sich unter Anthropologen allgemein einig, die Neandertaler seien dümmliche Geschöpfe mit gebeugter Haltung, schlurfendem Gang und affenähnlichem Gesicht gewesen – der Inbegriff des Höhlenmenschen. Erst ein schmerzhafter Unfall führte dazu, dass die Wissenschaftler diese Vorstellung neu überdenken mussten. Im Jahr 1947 suchte der französisch-algerische Paläontologe Camille Arambourg bei Freilandarbeiten in der Sahara unter der Tragfläche seines kleinen Flugzeuges Schutz vor der sengenden Mittagssonne.10 Während er dort saß, platzte durch die Hitze ein Reifen. Das Flugzeug kippte und versetzte ihm einen schmerzhaften Schlag am Oberkörper. Später, als er wieder in Paris war, ließ er seinen Hals röntgen und stellte bei der Betrachtung des Röntgenbildes fest, dass seine Wirbel genauso angeordnet waren wie die eines gebückten, schwerfälligen Neandertalers. Entweder war er, Arambourg, in seiner physiologischen Entwicklung zurückgeblieben, oder man hatte die Körperhaltung der Neandertaler falsch beschrieben. Natürlich traf die zweite Möglichkeit zu. Die Wirbel der Neandertaler waren alles andere als affenähnlich. Damit änderte sich unsere Vorstellung von diesen Hominiden völlig – allerdings, so scheint es, nicht überall.
Immer noch wird häufig behauptet, es habe den Neandertalern an der Intelligenz oder Motivation gefehlt, um auf gleicher Ebene mit den schlanken, geistig beweglicheren Neuankömmlingen der Spezies Homo sapiens zu konkurrieren.11 In einem Buch aus jüngerer Zeit findet sich folgende charakteristische Passage: »Die Jetztmenschen machten diesen Vorteil (den beträchtlich robusteren Körperbau der Neandertaler) durch bessere Kleidung, besseres Feuer und bessere Unterkünfte wett; gleichzeitig waren die Neandertaler durch einen überdimensionierten Körper behindert, zu dessen Erhaltung mehr Nahrung erforderlich war.«12 Mit anderen Worten: Genau die Faktoren, die ihnen 100.000 Jahre lang das Überleben ermöglicht hatten, wurden nun angeblich auf einmal zu einem unüberwindlichen Hindernis.
Vor allem aber spricht fast nie jemand über die Tatsache, dass die Neandertaler ein erheblich größeres Gehirn hatten als die Jetztmenschen – es umfasste einer Berechnung zufolge 1,8 Liter, während wir uns mit 1,4 Litern zufrieden geben müssen.13 Dieser Unterschied ist größer als der zwischen dem heutigen Homo sapiens und dem späten Homo erectus, einer Spezies, die wir sehr gern als kaum menschenähnlich betrachten. Häufig hört man das Argument, unser Gehirn sei zwar kleiner, aber aus irgendeinem Grund leistungsfähiger. Ich glaube, ich gehe recht in der Annahme, dass ein solches Argument an keiner anderen Stelle in der Evolution des Menschen vertreten wird.
Nun kann man natürlich fragen: Wenn die Neandertaler so robust, anpassungsfähig und geistig gut ausgestattet waren, warum gibt es sie dann heute nicht mehr? Eine mögliche (allerdings sehr umstrittene) Antwort lautet: Vielleicht sind sie noch da. Zu den führenden Vertretern einer Alternativtheorie, die als Multiregionalismus bezeichnet wird, gehört Alan Thorne. Nach seiner Überzeugung ist die Evolution des Menschen kontinuierlich verlaufen: Genau wie die Australopithecinen sich zu Homo habilis entwickelten und Homo heidelbergensis schließlich zu Homo neanderthalensis wurde, so entstand demnach auch der moderne Homo sapiens einfach aus älteren Formen von Homo. Nach dieser Vorstellung ist Homo erectus keine eigenständige Spezies, sondern nur eine Übergangsform. Die heutigen Chinesen stammen demnach von Vorfahren des Typs Homo erectus ab, die in China lebten, die heutigen Europäer gehen auf einen europäischen Homo erectus zurück, und so weiter. »Nur leider gibt es für mich keinen Homo erectus«, sagt Thorne. »Nach meiner Überzeugung hat dieser Begriff heute seine Berechtigung verloren. Homo erectus ist einfach ein früherer Teil von uns. Ich glaube, dass nur eine Art von Menschen jemals Afrika verlassen hat, und diese Art ist der Homo sapiens. «
Die Gegner des Multiregionalismus lehnen Thornes Theorie vor allem deshalb ab, weil sie in ungeheuer großem Umfang eine parallele Evolution von Hominiden in der gesamten Alten Welt voraussetzen würde – in Afrika, China, Europa, den abgelegensten Inseln Indonesiens, also überall, wo sie auftauchten. Manche Fachleute sind auch überzeugt, der Multiregionalismus leiste einer rassistischen Anschauung Vorschub, von der die Anthropologie sich ohnehin nur mit großer Mühe befreien konnte. Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts äußerte der berühmte Anthropologe Carleton Coon von der University of Pennsylvania die Vermutung, manche heutigen Menschenrassen könnten unterschiedlicher Herkunft sein, und damit sagte er unausgesprochen, dass manche Menschen anderen von ihrer Abstammung her überlegen sind. Das erinnerte auf unangenehme Weise an frühere Ansichten, wonach manche heutigen Rassen, beispielsweise die afrikanischen »Buschleute« (eigentlich die San in der Kalahari) und die australischen Aborigines primitiver seien als andere Menschen.
Unabhängig von Coons persönlichen Überzeugungen ergab sich daraus für viele Menschen die Schlussfolgerung, manche Rassen seien von ihrem Wesen her höher entwickelt, und verschiedene Menschengruppen könnten sogar unterschiedliche biologische Arten darstellen. Diese Ansicht, die uns heute instinktiv als Beleidigung erscheint, war an vielen angesehenen Orten noch bis vor recht kurzer Zeit beliebt. Vor mir liegt ein populärwissenschaftliches Buch mit dem Titel The Epic of Man, das der Verlag Time-Life Publications 1961 auf Grundlage einer Artikelserie in der Zeitschrift Life herausbrachte. Darin findet sich beispielsweise folgende Passage: »Der Rhodesienmensch … lebte noch vor 25000 Jahren und dürfte ein Vorfahre der afrikanischen Neger sein. Sein Gehirn war fast so groß wie das des Homo sapiens. «14 Mit anderen Worten: Die Afrikaner sind angeblich erst vor kurzem aus Lebewesen hervorgegangen, die »fast« ein Homo sapiens waren.
Thorne wendet sich leidenschaftlich (und nach meiner Überzeugung ehrlich) gegen die Vorstellung, seine Theorie sei auch nur im Mindesten rassistisch. Er erklärt die einheitliche Evolution des Menschen mit der Vermutung, es habe eine Fülle von Wanderungsbewegungen zwischen den verschiedenen Kulturen und Regionen gegeben. »Es besteht kein Grund zu der Annahme, die Menschen seien nur in einer Richtung gewandert«, sagt er. »Sie waren immer in Bewegung, und wo sie zusammentrafen, tauschten sie mit ziemlicher Sicherheit durch Paarung genetisches Material aus. Neuankömmlinge verdrängten die einheimische Bevölkerung nicht, sondern schlossen sich ihr an. Sie wurden zu Einheimischen.« Als Vergleich nennt er die Vorgänge, als Entdecker wie Cook oder Magellan zum ersten Mal die Bewohner abgelegener Gebiete entdeckten. »Da trafen keine unterschiedlichen biologischen Arten aufeinander, sondern Vertreter der gleichen Spezies mit einigen körperlichen Unterschieden.«
Thorne beharrt darauf, die Fossilfunde seien ein Beleg für einen bruchlosen, kontinuierlichen Übergang. »Es gibt einen berühmten Schädel aus Petralona in Griechenland. Er wurde auf ein Alter von rund 300000 Jahren datiert, war aber bei den Vertretern der traditionellen Theorie immer Gegenstand von Auseinandersetzungen, denn er sieht in mancher Hinsicht wie Homo erectus aus, ist in anderen Aspekten aber eindeutig Homo sapiens. Nun ja, nach unserer Überzeugung würde man genau damit rechnen, wenn eine Art nicht verdrängt wurde, sondern sich weiterentwickelt hat.«
Zur Lösung der Frage würde es sicherlich beitragen, wenn man Belege für wechselseitige Kreuzung finden könnte, aber dass sie stattgefunden hat, lässt sich anhand von Fossilien nicht ohne weiteres beweisen oder widerlegen. Im Jahr 1999 fanden Archäologen in Portugal das Skelett eines ungefähr vierjährigen Kindes, das vor 24500 Jahren gestorben war. Es war insgesamt das Skelett eines Jetztmenschen, zeigte aber bestimmte altertümliche Merkmale, die möglicherweise von Neandertalern stammten: ungewöhnlich stämmige Beinknochen, Zähne mit einem charakteristischen »Schaufelmuster« und möglicherweise (hier sind sich die Fachleute allerdings nicht einig) auf der Schädelrückseite die so genannte Fossa suprainiaca, eine Einkerbung, die man ausschließlich bei Neandertalern findet. Erik Trinkaus von der Washington University in St. Louis, ein führender Neandertaler-Experte, bezeichnete das Kind als Mischling und damit als Beweis, dass Jetztmenschen und Neandertaler sich gepaart haben. Andere bemängelten jedoch, dass die Merkmale von Neandertalern und Jetztmenschen nicht stärker vermischt waren. Ein Kritiker formulierte es so: »Wenn man ein Maultier ansieht, hat es nicht das Vorderende eines Esels und das Hinterende eines Pferdes.«15
Ian Tattersall erklärte, es handele sich schlicht um ein »untersetztes Jetztmenschenkind«. Er räumt zwar ein, es könne durchaus ein »Techtelmechtel« zwischen Neandertalern und Jetztmenschen gegeben haben, nach seiner Ansicht dürften daraus aber keine fortpflanzungsfähigen Nachkommen hervorgegangen sein.*
Nachdem die Fossilfunde hier nicht weiterhalfen, konzentrierte man sich zunehmend auf genetische Untersuchungen und insbesondere auf den Teil des Erbmaterials, der als Mitochondrien-DNA bezeichnet wird. Die Mitochondrien-DNA wurde erst 1964 entdeckt, aber schon Anfang der achtziger Jahre erkannten einige kluge Köpfe an der University of California in Berkeley, dass sie zwei Merkmale besitzt, die sie zu einer besonders nützlichen molekularen Uhr machen: Erstens wird sie ausschließlich in der weiblichen Linie weitervererbt, sodass sie sich nicht in jeder neuen Generation mit der väterlichen DNA vermischt, und zweitens ereignen sich Mutationen in ihr ungefähr zwanzigmal so häufig wie in der DNA des Zellkerns, sodass man sie leichter nachweisen und ihre Vererbung über längere Zeit hinweg einfacher verfolgen kann. Durch Messung der Mutationshäufigkeit konnte man die genetische Vergangenheit und die Verwandtschaftsbeziehungen ganzer Menschengruppen aufklären.
Im Jahr 1987 analysierte die Arbeitsgruppe in Berkeley unter Leitung des mittlerweile verstorbenen Allan Wilson die Mitochondrien-DNA von 147 Personen und erklärte dann, die Entwicklung des anatomisch modernen Menschen habe innerhalb der letzten 140000 Jahre in Afrika stattgefunden. Demnach, so Wilson, »stammen alle heutigen Menschen von dieser Population ab«.16 Das war für den Multiregionalismus ein schwerer Schlag. Aber dann sah man sich die Befunde ein wenig genauer an.17 Eine der ungewöhnlichsten Tatsachen – sie war so ungewöhnlich, dass man sie eigentlich nicht richtig einschätzen konnte – bestand darin, dass man für die Studie in Wirklichkeit Afroamerikaner herangezogen hatte, deren Gene in den letzten paar hundert Jahren aus nahe liegenden Gründen eine beträchtliche Vermischung erlebt hatten. Auch die angenommene Mutationsrate ließ schon bald ernste Zweifel aufkommen.
Bis 1992 war die Untersuchung im Wesentlichen in Misskredit geraten. Aber die Methoden der genetischen Analyse wurden weiter verfeinert, und 1997 gelang es Wissenschaftlern der Universität München, ein wenig DNA aus dem Armknochen eines Neandertalers zu gewinnen und zu analysieren. Dieses Mal hielten die Befunde der Kritik stand.18 In der Münchner Untersuchung stellte sich heraus, dass die DNA der Neandertaler ganz anders aussah als jede DNA, die man heute auf der Erde findet – ein stichhaltiges Indiz, dass zwischen Neandertalern und Jetztmenschen keine genetische Verbindung besteht. Das war nun wirklich der Todesstoß für den Multiregionalismus.
Ende 2000 berichteten dann das Fachblatt Nature und andere Zeitschriften über eine schwedische Studie an der Mitochondrien-DNA von 53 Personen. Ihr Ergebnis legte die Vermutung nahe, dass alle heutigen Menschen innerhalb der letzten 100000 Jahre aus Afrika gekommen sind und von einem Bestand aus nicht mehr als 10000 Personen abstammen.19 Wenig später verkündete Eric Lander, der Direktor des Whitehead Institute/Massachusetts Institute of Technology Center for Genome Research, die modernen Europäer und vielleicht auch andere Gruppen seien die Nachkommen von »nicht mehr als einigen hundert Afrikanern, die ihre Heimat erst vor 25000 Jahren verließen«.
Wie an anderer Stelle in diesem Buch bereits erwähnt wurde, ist bei den heutigen Menschen erstaunlich wenig enetische Variabilität zu erkennen – »in einer sozialen Gruppe von 55 Schimpansen gibt es mehr Vielfalt als in der gesamten menschlichen Bevölkerung«, meinte ein Experte dazu.20 Landers Befund wäre die Erklärung. Da wir alle erst in recht junger Vergangenheit aus einer kleinen Gründerpopulation entstanden sind, reichte weder die Zeit noch die Zahl der Menschen aus, damit eine große genetische Vielfalt entstehen konnte. Das war offensichtlich ein weiteres stichhaltiges Argument gegen den Multiregionalismus. »Seither macht man sich um die Theorie des Multiregionalismus eigentlich keine großen Gedanken mehr, denn es gibt dafür kaum Belege«, erklärte ein Wissenschaftler von der Pennsylvania State University in der Washington Post.
Bei alledem wurde aber übersehen, welche fast unbegrenzten Überraschungen das vorzeitliche Volk von Mungo im Westen des australischen Bundesstaates New South Wales noch in petto hatte. Anfang 2001 berichteten Thorne und seine Kollegen von der Australian National University, sie hätten DNA aus dem ältesten – mittlerweile auf 62000 Jahre datierten – Fund vom Lake Mungo gewonnen, und diese DNA habe sich als »genetisch anders« erwiesen.21
Den neuen Befunden zufolge war der Mungo-Mensch anatomisch modern gebaut wie du und ich, trug aber eine ausgestorbene genetische Abstammungslinie in sich. Seine Mitochondrien-DNA kommt bei den heutigen Menschen nicht mehr vor; man müsste sie aber finden, wenn er wie alle anderen Jetztmenschen von der Gruppe abstammte, die in relativ junger Vergangenheit aus Afrika auswanderte.
»Damit war wieder alles auf den Kopf gestellt«, sagt Thorne mit unverhohlener Freude.
Dann kamen noch seltsamere Anomalien ans Tageslicht. Als die Populationsgenetikerin Rosalind Harding vom Institute of Biological Anthropology in Oxford sich mit den Beta-Globin-Genen heutiger Menschen beschäftigte, fand sie zwei Varianten, die bei Asiaten und den australischen Ureinwohnern häufig vorkommen, in Afrika aber kaum existieren. Sie ist sicher, dass diese abweichenden Gene nicht in Afrika, sondern in Ostasien entstanden sind, und zwar vor über 200000 Jahren, lange bevor der moderne Homo sapiens in diese Region kam. Sie lassen sich nur mit der Annahme erklären, dass unter den Vorfahren der heutigen Bewohner Asiens auch archaische Hominiden waren – Javamenschen und Ähnliche. Interessanterweise taucht dieselbe Genvariante – gewissermaßen ein Javamensch-Gen – auch in der heutigen Bevölkerung der britischen Grafschaft Oxfordshire auf.
Völlig verwirrt fuhr ich zu Harding. Ihr Institut ist in einer alten Backsteinvilla an der Banbury Road in Oxford untergebracht, mehr oder weniger in dem gleichen Stadtviertel, in dem auch Bill Clinton als Student wohnte. Harding ist eine kleine, lebhafte Australierin – sie stammt aus Brisbane – und hat die seltene Fähigkeit, gleichzeitig lustig und ernst zu sein.
»Ich weiß nicht«, sagt sie plötzlich und grinst, als ich von ihr wissen will, wie Menschen in Oxfordshire diese Beta-Globin-Sequenzen besitzen können, die es dort eigentlich gar nicht geben sollte. Dann wird sie nüchterner: »Im Großen und Ganzen sprechen die genetischen Befunde für die Hypothese vom afrikanischen Ursprung. Aber dann findet man diese anormalen Häufungen, von denen die meisten Genetiker lieber nicht reden. Uns stünde eine gewaltige Menge von Kenntnissen zur Verfügung, wenn wir sie nur verstehen würden, aber dazu sind wir bisher nicht in der Lage. Wir stehen noch ganz am Anfang.«22 Auch durch beharrliches Nachfragen lässt sich keine Aussage darüber entlocken, was die Entdeckung der asiatischen Gene in Oxfordshire bedeuten könnte, außer dass die Sache eindeutig sehr kompliziert ist. »Derzeit können wir nur sagen: Alles ist ein großes Durcheinander, und wir wissen eigentlich nicht, warum.«
Zur Zeit unseres Gespräches, Anfang 2002, hat Bryan Sykes, ein anderer Wissenschaftler aus Oxford, gerade ein populärwissenschaftliches Buch mit dem Titel Die sieben Töchter Evas herausgebracht. Darin kann er mit Untersuchungen der Mitochondrien-DNA die Abstammung nahezu aller heutigen Europäer auf eine Gründerpopulation von nur sieben Frauen zurückführen, die Töchter Evas aus dem Buchtitel, die vor 10000 bis 45000 Jahren lebten – diese Zeit wird in der Wissenschaft als Paläolithikum bezeichnet. Sykes gibt jeder dieser Frauen einen Namen – Ursula, Xenia, Jasmine und so weiter – und stattet sie sogar mit einer genauen Lebensgeschichte aus. (»Ursula war das zweite Kind ihrer Mutter. Das erste hatte ein Leopard geholt, als es erst zwei war …«)
Als ich Harding auf das Buch anspreche, lächelt sie breit, aber auch mit einer gewissen Vorsicht, als sei sie sich nicht ganz sicher, wie weit sie mit ihrer Antwort gehen kann. »Nun, ich denke, man muss ihm ein gewisses Verdienst zuschreiben, dass er ein so schwieriges Thema leicht verständlich dargestellt hat«, sagt sie und macht eine nachdenkliche Pause. »Und immerhin bleibt die entfernte Möglichkeit, dass er Recht hat.« Sie lacht und fährt dann lebhafter fort: »Befunde an einem einzigen Gen liefern niemals definitive Aufschlüsse. Wenn man die Mitochondrien-DNA in die Vergangenheit verfolgt, gelangt man immer an einen bestimmten Punkt – zu einer Ursula oder Tara oder was auch immer. Aber wenn man irgendein anderes Stück der DNA nimmt, irgendein beliebiges Gen, und das zurückverfolgt, kommt man an einer ganz anderen Stelle heraus.«
Ich begreife: Es ist ein wenig so, als ob man London zufällig auf einer bestimmten Straße verlässt, und wenn man schließlich feststellt, dass sie in John O’Groats endet, schließt man daraus, dass alle Bewohner Londons aus dem Norden Schottlands stammen müssen. Natürlich könnten sie von dort gekommen sein, aber ebenso können sie auch aus vielen hundert anderen Orten stammen. So betrachtet, ist jedes Gen nach Hardings Überzeugung eine andere Landstraße, und wir haben gerade erst damit begonnen, ihren Verlauf zu kartieren. »Kein einzelnes Gen wird uns jemals die ganze Geschichte erzählen«, sagt sie.
Demnach kann man sich auf genetische Untersuchungen also nicht verlassen?
»Ach, allgemein betrachtet kann man sich auf die Untersuchungen sehr wohl verlassen. Nur die umfassenden Schlussfolgerungen, die oft daran geknüpft werden, sind fragwürdig.«
Sie hält die Out-of-Africa-Hypothese »vermutlich zu 95 Prozent für richtig«, aber sie fügt hinzu: »Ich glaube, beide Seiten haben der Wissenschaft einen Bärendienst erwiesen, indem sie darauf beharrten, es könne nur das eine oder das andere sein. Wahrscheinlich wird sich herausstellen, dass die Sache nicht so einfach ist, wie das eine oder andere Lager es gern hätte. Die Befunde legen nach und nach immer stärker den Verdacht nahe, dass es in verschiedenen Gebieten der Erde mehrere Wanderungs- und Ausbreitungsbewegungen gab, die in alle möglichen Richtungen verliefen und zu einer gründlichen Durchmischung des Genbestandes geführt haben. So etwas im Einzelnen aufzuklären, ist niemals einfach.«
Gerade derzeit stellen auch mehrere Berichte die Zuverlässigkeit von Behauptungen in Frage, welche die Wiedergewinnung sehr alter DNA betreffen. In dem Fachblatt Nature schilderte ein Wissenschaftler, wie ein Paläontologe auf die Frage eines Kollegen, ob ein alter Schädel lackiert sei, oben an dem Fundstück leckte und dann erklärte, dies sei der Fall.23 »Dabei wurden mit Sicherheit große Mengen moderner menschlicher DNA auf den Schädel übertragen, sodass er für weitere Untersuchungen nutzlos war«, heißt es in dem Nature-Artikel. Ich spreche Harding darauf an. »Ach, der war sicher schon vorher kontaminiert«, erwidert sie. »Ein Knochen wird schon verunreinigt, wenn man ihn nur in die Hand nimmt. Er wird verunreinigt, wenn man ihn anhaucht. Meist wird er auch durch das Wasser in unseren Labors verunreinigt. Wir alle schwimmen in fremder DNA. Wenn man ein zuverlässig sauberes Fundstück haben will, muss man es unter keimfreien Bedingungen ausgraben und die Untersuchungen an Ort und Stelle vornehmen. Einen Fund nicht zu verunreinigen, ist das Schwierigste, was es überhaupt gibt.«
Demnach soll man solchen Behauptungen also mit Zweifeln begegnen?
Harding nickt feierlich. »Mit großen Zweifeln«, erwidert sie.
Wenn man auf den ersten Blick verstehen will, warum wir so wenig über den Ursprung des Menschen wissen, kann ich den richtigen Ort dafür nennen. Er liegt knapp hinter dem Rand der blauen Ngong-Berge in Kenia, südwestlich von Nairobi. Verlässt man die Stadt auf der Hauptstraße in Richtung Uganda, wird man irgendwann durch einen prachtvollen Anblick verblüfft: Das Gelände fällt steil ab, und man hat wie ein Gleitflieger die Aussicht auf endlose, blassgrüne afrikanische Ebenen.
Das ist das Große Rift-Tal, das sich über fast 5000 Kilometer hinweg durch Ostafrika windet. Es kennzeichnet den tektonischen Riss, der Afrika von Asien trennt. Hier, etwa 70 Kilometer von Nairobi entfernt, befindet sich auf dem glühend heißen Talboden eine Fundstätte namens Olorgesailie.24 In ihrer Nachbarschaft befand sich früher ein großer, angenehmer See. Im Jahr 1919, lange nachdem das Gewässer verschwunden war, suchte der Geologe J. W. Gregory in dem Gebiet nach Mineralvorkommen, und dabei stieß er auf ein Stück offenes Gelände, das mit ungewöhnlich dunklen, eindeutig von Menschenhand geformten Steinen übersät war. Er hatte eine der großen Produktionsstätten von Acheuléen-Werkzeugen gefunden, von denen Ian Tattersall mir erzählt hatte.
Im Herbst 2002 bot sich für mich die unerwartete Gelegenheit, diesen außergewöhnlichen Ort zu besichtigen. Eigentlich war ich aus einem ganz anderen Grund in Kenia – ich besuchte einige Projekte, die von der humanitären Einrichtung CARE International betreut wurden –, aber meine Gastgeber, die von meiner Arbeit an dem vorliegenden Buch und meinem Interesse an der Entstehung des Menschen wussten, hatten in dem Zeitplan noch einen Besuch in Olorgesailie untergebracht.
Nachdem Gregory die Stelle entdeckt hatte, blieb sie rund 20 Jahre lang ungestört. Erst dann begann das berühmte Forscherehepaar Louis und Mary Leakey mit Ausgrabungen, die bis heute nicht beendet sind. Nach den Feststellungen der Leakeys handelte es sich um ein Gebiet von etwa vier Hektar, in dem ungefähr eine Million Jahre lang, von der Zeit vor 1,2 Millionen bis 200000 Jahren, unzählige Werkzeuge hergestellt wurden. Heute sind die Erdschichten mit den Werkzeugen durch lange Blechdächer vor den schlimmsten Angriffen der Elemente geschützt, und Maschendraht hält Souvenirsammler fern, aber ansonsten liegen die Werkzeuge noch genau da, wo ihre Hersteller sie fallen ließen und wo sie von den Leakeys gefunden wurden.
Jillani Ngalli, ein aufgeweckter junger Mitarbeiter des kenianischen Nationalmuseums, der hier als Fremdenführer abgestellt ist, erklärt mir, das Quarz- und Obsidiangestein der Faustkeile komme auf dem Talboden eigentlich nicht vor. »Sie mussten die Steine von dort herantransportieren«, sagt er und macht eine Kopfbewegung in Richtung zweier Berge, die in einiger Entfernung in entgegengesetzten Richtungen im Dunst liegen: Olorgesailie und Ol Esakut. Beide sind etwa zehn Kilometer entfernt – ein langer Weg, wenn man einen Arm voller Steine tragen muss.
Warum die Frühmenschen von Olorgesailie sich so viel Mühe machten, können wir natürlich nur vermuten. Sie trugen nicht nur schwere Steine über beträchtliche Entfernungen zum Seeufer, sondern – und das ist vielleicht noch bemerkenswerter – sie organisierten dann auch ihre Produktionsstätte. Wie sich bei den Ausgrabungen des Ehepaars Leakey herausstellte, wurden an manchen Stellen Faustkeile in Form gebracht, an anderen wurden stumpfe Keile neu geschärft. Olorgesailie war, kurz gesagt, eine Art Fabrik, die eine Million Jahre lang in Betrieb war.
Man hat mehrfach versucht, Faustkeile nachzumachen, und dabei stellte sich heraus, dass ihre Herstellung ein schwieriger, arbeitsaufwändiger Vorgang war – selbst mit viel Übung dauert es Stunden, bis ein Keil die richtige Form hat. Dennoch eigneten sich diese Werkzeuge seltsamerweise nicht besonders gut zum Schneiden, Zerteilen, Schaben oder für eine der anderen Aufgaben, für die man sie vermutlich verwendete. Es bleibt also eine eigenartige Erkenntnis: eine Million Jahre lang – weit länger, als unsere eigene Spezies bisher existiert, ganz zu schweigen von kontinuierlicher, gemeinsamer Arbeit – kamen die Frühmenschen in beträchtlicher Zahl ausgerechnet an diesen Ort und stellten eine ungeheure Zahl von Werkzeugen her, die anscheinend relativ nutzlos waren.
Und wer waren diese Menschen? Eigentlich haben wir keine Ahnung. Wir vermuten, dass es sich um Homo erectus handelte, weil wir keine anderen Kandidaten kennen, aber das würde bedeuten, dass die Arbeiter von Olorgesailie auf dem Höhepunkt – ja, dem Höhepunkt – ihrer Entwicklung ein Gehirn mit den Fähigkeiten eines heutigen Säuglings besessen hätten. Handfeste Belege, auf die man eine solche Schlussfolgerung stützen könnte, gibt es aber nicht. Obwohl man bereits seit mehr als 60 Jahren sucht, hat man bisher in Olorgesailie oder in seiner Nachbarschaft keinen einzigen Menschenknochen gefunden. So viel Zeit sie hier offensichtlich auch mit der Bearbeitung von Steinen verbrachten, zum Sterben gingen sie offensichtlich woanders hin.
»Das alles ist ein Rätsel«, sagt Jillani Ngalli und strahlt über das ganze Gesicht.
Die Menschen von Olorgesailie verschwanden vor rund 200.000 Jahren von der Bildfläche. Damals trocknete der See aus, und das Rift-Tal wurde zu der heißen, unwirtlichen Region, die wir heute kennen. Aber zu jener Zeit waren ihre Tage als Spezies ohnehin bereits gezählt. Die Welt sollte ihren ersten wahren Herrscher bekommen: den Homo sapiens. Von nun an wurde alles anders.
* Möglicherweise hatten Neandertaler und Cromagnons eine unterschiedliche Chromosomenzahl - diese Komplikation beobachtet man häufig, wenn zwei Arten nahe verwandt, aber nicht genau identisch sind. Pferde haben beispielsweise 64 Chromosomen, Esel aber nur 62. Durch Paarung der beiden Arten entstehen Nachkommen mit 63 Chromosomen, eine Zahl die für die Fortpflanzung nutzlos ist. Oder anders ausgedrückt: Es entsteht ein unfruchtbares Maultier. zurück