9.
Das mächtige Atom

Während Einstein und Hubble neue Erkenntnisse über die großen Strukturen des Kosmos sammelten, schlugen andere sich damit herum, etwas näher Liegendes zu verstehen, das aber auf seine Weise genauso weit entfernt war: das winzige, immer noch rätselhafte Atom.

Der große Physiker Richard Feynman vom California Institute of Technology machte einmal eine sehr zutreffende Bemerkung: Wenn man die gesamte Wissenschaftsgeschichte auf eine einzige Aussage reduzieren sollte, müsste diese lauten: »Alle Dinge bestehen aus Atomen.«1 Atome sind überall und bilden die Bausteine von allem. Man braucht sich nur umzusehen: Alles setzt sich aus Atomen zusammen – nicht nur feste Gegenstände wie Mauern, Tisch oder Sofa, sondern auch die Luft dazwischen. Und ihre Zahl ist so groß, dass man sie sich nun wirklich nicht vorstellen kann.

Die grundlegende Funktionseinheit aus Atomen ist das Molekül (von dem lateinischen Wort für »kleine Masse«). Einfach gesagt besteht ein Molekül aus mindestens zwei Atomen, die in einer mehr oder weniger stabilen Anordnung zusammenwirken: Fügt man zwei Wasserstoffatome mit einem Atom Sauerstoff zusammen, entsteht ein Wassermolekül. Chemiker denken meist eher an Moleküle als an Elemente, ganz ähnlich wie ein Schriftsteller, der nicht an die einzelnen Buchstaben denkt, sondern an Wörter. Man zählt also die Moleküle, und die sind, gelinde gesagt, wirklich zahlreich. Auf Meereshöhe und bei 0 °C enthält ein Kubikzentimeter Luft (das ist ungefähr ein Volumen von der Größe eines Zuckerwürfels) nicht weniger als 45 Milliarden Milliarden Moleküle.2 Und ebenso viele sind auch in jedem anderen Kubikzentimeter um uns herum. Man stelle sich nur vor, wie viele Kubikzentimeter die Welt vor unserem Fenster enthält – wie viele Zuckerwürfel man brauchen würde, um das Blickfeld auszufüllen. Und wie viele sind es erst im Universum! Die Atome sind, kurz gesagt, in wahrhaft riesiger Zahl vorhanden.

Außerdem sind sie unglaublich dauerhaft. Mit ihrer Langlebigkeit kommen die Atome wirklich weit herum. Jedes Atom in einem Menschen hat wahrscheinlich schon Aufenthalte in mehreren Sternen hinter sich und war auf dem Weg zu seiner jetzigen Position schon Bestandteil von Millionen Lebewesen. Jeder von uns besteht bei seinem Tod aus so vielen ständig wieder verwerteten Atomen, dass eine beträchtliche Zahl davon – nach manchen Schätzungen bis zu einer Milliarde in jedem Menschen – vermutlich einst zu Shakespeare gehörte.3 Jeweils eine weitere Milliarde stammt von Buddha, Dschingis Khan und Beethoven oder jeder anderen historischen Gestalt, die uns einfällt. (Aus der entfernteren Vergangenheit müssen sie allerdings stammen, denn es dauert natürlich ein paar Jahrzehnte, bis die Atome aus einem Körper sich wieder verteilt haben; bisher ist also niemand auf diese Weise mit Elvis Presley vereint, so sehr manch einer sich das auch wünschen mag.)

Jeder von uns ist also eine Reinkarnation – allerdings eine kurzlebige. Wenn wir gestorben sind, lösen unsere Atome sich voneinander und finden anderswo eine neue Verwendung – als Teil eines Blattes, eines anderen Menschen oder eines Tautropfens. Die Atome selbst jedoch leben praktisch ewig.4 Wie lange ein Atom erhalten bleiben kann, weiß niemand genau, aber nach Angaben von Martin Rees sind es vermutlich etwa 1035 Jahre – eine so große Zahl, dass sogar ich es angenehm finde, sie in verkürzter Schreibweise auszudrücken.

Vor allem aber sind Atome klein – sehr klein. Eine halbe Million von ihnen, nebeneinander aufgereiht, könnten sich hinter einem menschlichen Haar verstecken. Bei solchen Größenverhältnissen ist es praktisch unmöglich, sich ein einzelnes Atom vorzustellen, aber wir können es natürlich versuchen.

Wir fangen mit einem Millimeter an; das ist eine Linie von folgender Länge: -. Jetzt stellen wir uns vor, diese Linie sei in 1000 gleiche Abschnitte unterteilt. Jeder davon ist einen Mikrometer lang. Damit befinden wir uns im Größenbereich der Mikroorganismen. Ein typisches Pantoffeltierchen ist beispielsweise 0,002 Millimeter oder zwei Mikrometer breit und damit wirklich schon sehr klein. Wollte man ein Pantoffeltierchen mit bloßem Auge in einem Wassertropfen schwimmen sehen, müsste man diesen Tropfen bis auf einen Durchmesser von zwölf Metern vergrößern.5 Wollte man jedoch die Atome in diesem Tropfen erkennen, müsste er einen Durchmesser von 23 Kilometern haben.

Mit anderen Worten: Für Atome gilt noch einmal ein ganz anderer Kleinheitsmaßstab. Um in den Größenbereich der Atome vorzudringen, müssten wir eine jener Linien von einem Mikrometer nehmen und nochmals in 10000 Abschnitte unterteilen. Erst dann sind wir im Bereich der Atome angelangt: einem Zehnmillionstel Millimeter. Ein solches Ausmaß der Verkleinerung übersteigt die Fähigkeiten unserer Fantasie, aber eine Vorstellung von den Verhältnissen kann man sich verschaffen, wenn man bedenkt, dass ein Atom sich zur Länge einer Linie von einem Millimeter ebenso verhält wie die Dicke eines Blattes Papier zur Höhe des Empire State Building.

Nützlich sind die Atome natürlich wegen ihrer großen Zahl und ihrer extremen Haltbarkeit, und an ihrer Winzigkeit liegt es, dass sie so schwer nachzuweisen und zu verstehen sind. Die Erkenntnis, dass Atome diese drei Eigenschaften haben – sie sind klein, zahlreich und praktisch unzerstörbar – und dass alle Dinge aus ihnen bestehen, hatte als Erster nicht Antoine-Laurent Lavoisier (wie man vielleicht vermuten könnte) und auch nicht Henry Cavendish oder Humphry Davy, sondern ein recht unscheinbarer, nur oberflächlich gebildeter englischer Quäker namens John Dalton, der uns bereits in dem Kapitel über Chemie begegnet ist.

Dalton wurde 1776 am Rand des Lake District nicht weit von Cockermouth als Sohn einer armen Weberfamilie geboren, die überzeugte Quäker waren. (Viele Jahre später erblickte der Dichter William Wordsworth ebenfalls in Cockermouth das Licht der Welt.) John war ein außergewöhnlich intelligenter Schüler – seine Klugheit führte dazu, dass man ihm im ungewöhnlich jungen Alter von zwölf Jahren die Leitung der örtlichen Quäkerschule übertrug. Dies sagt über die Schule vielleicht ebenso viel aus wie über Daltons Frühreife, vielleicht aber auch nicht: Aus seinen Tagebüchern wissen wir, dass er ungefähr zu dieser Zeit bereits Newtons Principia in der lateinischen Originalfassung las und sich auch mit anderen, ähnlich anspruchsvollen Werken beschäftigte. Mit 15 – er war immer noch Schulmeister – nahm er eine Stellung in der nahe gelegenen Kleinstadt Kendal an, und zehn Jahre später zog er nach Manchester, das er während seiner restlichen 50 Lebensjahre kaum noch verließ. In Manchester wurde er so etwas wie ein intellektueller Hansdampf in allen Gassen: Er schrieb Bücher und Aufsätze über ein breites Themenspektrum von der Meteorologie bis zur Grammatik. Die Farbenblindheit, an der er selbst litt, wurde wegen seiner Untersuchungen lange Zeit als Daltonismus bezeichnet. Seinen Ruf begründete er aber durch ein gewichtiges Buch mit dem Titel A New System of Chemical Philosophy, das 1808 erschien.

Darin begegnete den gebildeten Lesern in einem kurzen Kapitel von nur fünf Seiten (das ganze Buch hatte über 900) zum ersten Mal eine annähernd moderne Vorstellung von Atomen. Daltons einfache Erkenntnis lautete: Der innerste Kern aller Materie sind äußerst kleine, nicht weiter teilbare Teilchen. »Ein Wasserstoffteilchen zu zerstören suchen, wäre genauso aussichtslos, wie einen neuen Planeten in das Sonnensystem einzuführen oder einen bereits bestehenden zu leugnen«, schrieb er.6

Eigentlich waren weder die Idee, dass es Atome gibt, noch der Begriff wirklich neu. Beide stammten bereits aus der griechischen Antike. Daltons Errungenschaft bestand darin, dass er sich Gedanken darüber machte, wie die Größenverhältnisse und Eigenschaften dieser Atome aussehen und wie sie zusammenpassen. So wusste er beispielsweise, dass Wasserstoff das leichteste Element ist, und deshalb schrieb er ihm ein Atomgewicht von l zu. Außerdem glaubte er, Wasser bestünde aus sieben Teilen Sauerstoff auf einen Teil Wasserstoff; also musste der Sauerstoff nach seiner Überzeugung das Atomgewicht 7 haben. Mit solchen Mitteln gelangte er zu den relativen Gewichten aller bekannten Elemente. Nicht immer hatte er dabei genau Recht – das Atomgewicht des Sauerstoffs beträgt in Wirklichkeit nicht 7, sondern 16 –, aber das Prinzip war stichhaltig und bildet die Grundlage für die gesamte moderne Chemie sowie für große Teile der übrigen modernen Naturwissenschaften.

Mit diesen Arbeiten wurde Dalton berühmt – allerdings nach Art der englischen Quäker auf eine bescheidene Weise. Der französische Chemiker P. J. Pelletier reiste 1826 nach Manchester, um den Helden der Atome kennen zu lernen.7 Pelletier rechnete damit, er werde Dalton an einer großen Institution vorfinden, und musste dann zu seinem Erstaunen feststellen, dass er kleinen Jungen an einer Schule in einer Seitenstraße die Grundlagen der Arithmetik beibrachte. Wie der Wissenschaftshistoriker E. J. Holmyard berichtet, stammelte Pelletier, nachdem er den berühmten Mann gesehen hatte, völlig verwirrt:

»Est-ce que j’ai l’honneur de m’adresser à Monsieur Dalton?« Er traute seinen Augen kaum: Derselbe Mann, der hier einem Jungen die Grundrechnungsarten beibrachte, sollte der in ganz Europa berühmte Chemiker sein? »Ja«, sagte der Quäker kurz angebunden. »Nehmen Sie doch Platz, bis ich dem Kleinen hier seine Arithmetik eingetrichtert habe.«8

Dalton versuchte zwar, sich allen Ehrungen zu entziehen, aber er wurde gegen seinen Wunsch in die Royal Society gewählt, mit Orden überhäuft und mit einer hübschen staatlichen Pension ausgestattet. Als er 1844 starb, erwiesen ihm 40000 Menschen die letzte Ehre, und der Trauerzug war drei Kilometer lang.9 Der Eintrag über ihn ist einer der längsten im Dictionary of National Biography., vergleichbar unter den Wissenschaftlern des 19. Jahrhunderts nur mit denen von Darwin und Lyell.

Nachdem Dalton seine Gedanken geäußert hatte, blieben sie noch 100 Jahre eine reine Hypothese,10 und einige angesehene Wissenschaftler – insbesondere der Wiener Physiker Ernst Mach, nach dem die Schallgeschwindigkeit benannt ist – bezweifelten, dass es überhaupt Atome gibt. »Atome sind mit den Sinnen nicht wahrzunehmen … sie sind ein reines Gedankenprodukt«, schrieb Mach. An der Existenz der Atome bestanden insbesondere im deutschsprachigen Raum so starke Zweifel, dass das Thema angeblich sogar für den Selbstmord des großen theoretischen Physikers und begeisterten Atomanhängers Ludwig Boltzmann im Jahr 1906 eine Rolle gespielt haben soll.11

Den ersten unwiderleglichen Beweis für die Existenz der Atome lieferte Einstein 1905 mit seinem Aufsatz über die Brown’sche Molekularbewegung, aber diese Arbeit erregte kaum Aufmerksamkeit, und Einstein wurde ohnehin schon wenig später völlig durch seine Arbeit an der allgemeinen Relativitätstheorie in Anspruch genommen. Der erste wahre Held des Atomzeitalters, ja eigentlich sogar überhaupt die erste Gestalt auf dieser Bühne, war Ernest Rutherford.

Rutherford wurde 1871 in einer abgelegenen Ecke von Neuseeland geboren. Seine Eltern waren aus Schottland eingewandert, bauten Flachs an und zogen viele Kinder groß (so eine Formulierung von Steven Weinberg).12 Aufgewachsen in einem abgelegenen Teil eines abgelegenen Landes, war er von den Hauptströmungen der Wissenschaft so weit entfernt, wie es überhaupt nur möglich war, aber 1895 erhielt er ein Stipendium, das ihm die Arbeit am Cavendish Laboratory der Universität Cambridge ermöglichte, und das war so ungefähr der angesagteste Ort der Welt, wenn man Physik betreiben wollte.

Physiker sind berüchtigt für die Verachtung, die sie Wissenschaftlern anderer Fachgebiete entgegenbringen. Als die Frau des großen österreichischen Physikers Wolfgang Pauli ihn wegen eines Chemikers verließ, war er vor Unglauben sprachlos. »Wenn sie einen Stierkämpfer genommen hätte, das hätte ich ja noch verstanden«, meinte er einmal verwundert zu einem Freund, »aber ein Chemiker …«13

Dieses Gefühl hätte auch Rutherford nachempfinden können.14 »Naturwissenschaft ist entweder Physik oder Briefmarkensammeln«, sagte er einmal, und dieser Ausspruch wurde seither vielfach wiederholt. Es entbehrt deshalb nicht einer gewissen Ironie, dass er den Nobelpreis 1908 nicht für Physik bekam, sondern für Chemie.

Rutherford hatte Glück – einerseits, weil er ein Genie war, vor allem aber weil er in einer Zeit lebte, als Physik und Chemie so spannend waren und einander (seinen eigenen Empfindungen zum Trotz) so gut ergänzten. Derart angenehme Überschneidungen sollte es später nie mehr geben.

Bei allen seinen Erfolgen war Rutherford nicht besonders scharfsinnig, und seine Kenntnisse in Mathematik waren sogar ziemlich schlecht. In seinen Vorlesungen verlor er sich häufig so sehr in seinen eigenen Gleichungen, dass er auf halbem Wege aufgeben und den Studenten sagen musste, sie sollten es selbst herausfinden.15 Nach den Berichten seines langjährigen Kollegen James Chadwick, der die Neutronen entdeckte, war er nicht einmal beim Experimentieren besonders schlau, sondern nur hartnäckig und aufgeschlossen. Was ihm an Eleganz fehlte, machte er jedoch durch Vielseitigkeit und eine Art Wagemut wett. Sein Geist arbeitete nach den Worten eines Biografen »immer an den Grenzen dessen, was er erkennen konnte, und das war beträchtlich mehr als bei den meisten anderen Menschen«.16 Angesichts eines unlösbaren Problems war Rutherford bereit, länger und härter zu arbeiten als die meisten anderen, und dabei war er auch aufgeschlossener für unorthodoxe Erklärungen. Seine größte Entdeckung gelang ihm, weil er unglaublich lange Stunden vor einem Bildschirm saß und die so genannte Szintillation von Alphateilchen zählte – eine Arbeit, die man normalerweise delegiert. Als einer der Ersten – vielleicht sogar überhaupt als Erster – erkannte er, dass man durch Nutzbarmachung der in den Atomen steckenden Kräfte eine Bombe bauen kann, die »diese alte Welt in Rauch aufgehen lässt«.17

Körperlich war er groß und kräftig, und seine Stimme ließ ängstliche Charaktere zusammenzucken. Als ein Kollege hörte, Rutherford solle in einer Radiosendung auftreten, die über den Atlantik übertragen wurde, fragte er trocken: »Wozu braucht er das Radio?«18 Außerdem besaß er ein gerüttelt Maß an gutmütigem Selbstvertrauen. Einmal meinte jemand zu ihm, er scheine immer auf dem Kamm einer Welle zu reiten; darauf erwiderte Rutherford: »Kann sein, aber ich habe doch die Welle gemacht, oder?« C. P. Snow berichtet, wie er einmal in einem Schneiderladen in Cambridge eine Bemerkung von Rutherford mithörte: »Mein Bauch wird jeden Tag größer. Mein Geist auch.«19

1895 jedoch, als Rutherford am Cavendish Laboratory* anfing, lagen Bauch und Ruhm noch weit in der Zukunft. Es war in der Naturwissenschaft eine Phase von einzigartigem Ereignisreichtum. In dem Jahr, als Rutherford in Cambridge eintraf, entdeckte Wilhelm Röntgen an der Universität Würzburg die nach ihm benannten Strahlen, und im folgenden Jahr stieß Henri Becquerel auf die Radioaktivität. Und am Cavendish Laboratory selbst begann eine lange Phase großartiger Errungenschaften. Hier entdeckten J. J. Thomson und seine Kollegen 1897 das Elektron, 1911 baute C.T. R. Wilson den ersten Teilchendetektor (auf den wir noch genauer zu sprechen kommen werden), und 1932 entdeckte James Chadwick das Neutron. Und in noch fernerer Zukunft, 1953, sollten James Watson und Francis Crick an dem gleichen Ort die Struktur der DNA aufklären.

Anfangs beschäftigte sich Rutherford mit Funkwellen, und das durchaus mit Erfolg: Es gelang ihm, ein deutliches Signal über weit mehr als einen Kilometer zu übertragen, zu jener Zeit eine beachtliche Leistung. Dann aber gab er die Arbeiten auf, weil ein älterer Kollege ihn überzeugt hatte, dass es für den Funk kaum eine Zukunft gebe.20 Insgesamt betrachtet, ging es Rutherford am Cavendish Laboratory allerdings nicht besonders gut. Als er nach drei Jahren den Eindruck gewonnen hatte, dass seine Bemühungen ihn nicht weiterführten, übernahm er eine Stelle an der McGill University in Montreal, und dort begann sein langer, stetiger Aufstieg zum Ruhm. Als er den Nobelpreis erhielt (für »Untersuchungen zum Zerfall der Elemente und zur Chemie radioaktiver Substanzen«, so die offizielle Formulierung), hatte er bereits an die Universität Manchester gewechselt, und dort unternahm er seine wichtigsten Forschungsarbeiten zur Aufklärung von Struktur und Eigenschaften der Atome.

Anfang des 20. Jahrhunderts wusste man bereits, dass Atome aus verschiedenen Teilen bestehen – das hatte Thomson mit seiner Entdeckung des Elektrons nachgewiesen; wie viele Teile es sind, wie sie zusammenpassen und welche Form sie haben, war jedoch nicht geklärt. Manche Physiker vermuteten, die Atome könnten würfelförmig sein, denn Würfel kann man dicht zusammenpacken, ohne dass Platz verschwendet wird.21 Allgemein herrschte jedoch die Ansicht vor, ein Atom habe Ähnlichkeit mit einem Rosinenbrötchen: Ein dichtes, festes Gebilde, das eine positive Ladung trägt, aber mit negativ geladenen Elektronen besetzt ist wie das Brötchen mit den Rosinen.

Im Jahr 1910 beschoss Rutherford (mit Hilfe seines Studenten Hans Geiger, der später das nach ihm benannte Strahlen-Nachweisinstrument erfand**) Goldfolie mit ionisierten Heliumatomen, die man auch Alphateilchen nennt. Zu Rutherfords Überraschung prallten manche Teilchen ab. Es war, so erklärte er, als habe er eine 15-Zoll-Granate auf ein Blatt Papier gefeuert, und sie sei in seine Arme zurückgeschleudert worden. Damit hatte niemand gerechnet. Nach eingehendem Nachdenken erkannte er, dass es eigentlich nur eine Erklärungsmöglichkeit gab: Die Teilchen, die zurückgeworfen wurden, waren im Inneren des Atoms auf etwas sehr Kleines, Dichtes gestoßen, die anderen Teilchen dagegen waren ungehindert hindurchgeflogen. Ein Atom, das erkannte Rutherford jetzt, besteht zum größten Teil aus leerem Raum, hat aber in der Mitte einen sehr dichten Kern. Es war eine höchst erfreuliche Entdeckung, aber sie warf sofort ein Problem auf. Nach allen Gesetzen der herkömmlichen Physik dürfte es eigentlich keine Atome geben.

Halten wir einmal kurz inne und betrachten wir, was wir heute über den Aufbau der Atome wissen. Jedes Atom besteht aus dreierlei Elementarteilchen: den positiv geladenen Protonen, den negativ geladenen Elektronen und den Neutronen, die überhaupt keine Ladung tragen. Protonen und Neutronen liegen dicht gedrängt im Atomkern, den die Elektronen in einiger Entfernung umkreisen. Die Zahl der Protonen ist entscheidend für die chemische Identität eines Atoms.22 Enthält es ein Proton, handelt es sich um ein Wasserstoffatom, ein Atom mit zwei Protonen ist Helium, mit drei Protonen Lithium und so weiter. Mit jedem neuen hinzukommenden Proton entsteht ein neues Element. (Da der Zahl der Protonen in einem Atom immer die gleiche Zahl von Elektronen gegenübersteht, liest man manchmal auch, dass die Zahl der Elektronen ein Element definiert; das läuft aber auf das Gleiche hinaus. Mir hat man es so erklärt, dass die Protonen einem Atom seine Identität verleihen und die Elektronen für seine Persönlichkeit verantwortlich sind.)

Neutronen wirken sich nicht auf die Identität eines Atoms aus, tragen aber zu seiner Masse bei. Ihre Zahl ist in der Regel ungefähr ebenso groß wie die der Protonen, sie kann aber nach oben und unten ein wenig schwanken. Durch ein oder zwei Neutronen mehr entsteht ein neues Isotop.23 Die Zahlen, die man im Zusammenhang mit archäologischen Datierungsverfahren hört, bezeichnen Isotope: Kohlenstoff-14 beispielsweise ist ein Kohlenstoffatom mit sechs Protonen und acht Neutronen (zusammen also 14 Teilchen).

Neutronen und Protonen bilden den Atomkern. Dieser Kern ist winzig – er nimmt vom Gesamtvolumen des Atoms nur ein Millionstel eines Milliardstels in Anspruch.24 Andererseits ist er aber unglaublich dicht, denn er enthält praktisch die gesamte Masse des Atoms. Cropper formuliert es so: Würde man ein Atom auf die Ausmaße einer Kathedrale vergrößern, wäre der Kern nur ungefähr so groß wie eine Fliege – aber die wäre viele tausend Mal schwerer als die Kathedrale.25 Diese Geräumigkeit – diese unglaubliche, überraschende Menge an leerem Raum – war es, was Rutherford 1910 ins Grübeln brachte.

Noch heute ist es eine recht erstaunliche Vorstellung, dass Atome vorwiegend aus leerem Raum bestehen und dass die feste Materie, die wir überall um uns herum wahrnehmen, eigentlich eine Illusion ist. Wenn zwei Gegenstände in unserer Wirklichkeit zusammentreffen – als Beispiel dienen meist Billardkugeln –, stoßen sie in Wirklichkeit nicht aneinander, sondern, wie Timothy Ferris erklärt, »die negativ geladenen Felder der beiden Kugeln stoßen einander ab … und sie könnten, wenn nicht ihre gleichmäßige elektrische Ladung sie daran hinderte, einander wie Galaxien unversehrt durchdringen«.26 Wenn ich auf einem Stuhl sitze, sitze ich eigentlich nicht dort, sondern ich schwebe in einer Höhe von ungefähr einem Ångström (einem Hundertmillionstel Zentimeter) darüber, weil meine Elektronen und die des Stuhls sich jedem engeren Kontakt widersetzen.

In dem Bild eines Atoms, das fast jeder im Kopf hat, kreisen ein oder zwei Elektronen um den Atomkern wie Planeten um die Sonne. Dieses Bild schuf der japanische Physiker Hantaro Nagaoka im Jahr 1904, und dabei stützte er sich eigentlich nur auf kluge Vermutungen. Es ist völlig falsch, hält sich aber hartnäckig. Isaac Asimov wies gern darauf hin, dass es Generationen von Sciencefiction-Autoren zu Geschichten von der Welt in der Welt anregte, von Atomen, die zu winzigen, bewohnten Sonnensystemen wurden, oder von unserem Sonnensystem, das sich nur als winziger Baustein von etwas viel Größerem erweist. Noch heute benutzt CERN, die Europäische Organisation für Kernforschung, Nagaokas Bild als Logo für ihre Website. In Wirklichkeit erkannten die Physiker schon recht bald, dass Elektronen keineswegs kreisende Planeten sind, sondern eher die Blätter eines rotierenden Propellers, die jedes Stückchen Raum in ihrer Umlaufbahn gleichzeitig ausfüllen (allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Propellerblätter nur überall zugleich zu sein scheinen; Elektronen sind es wirklich).

Es braucht wohl nicht besonders betont zu werden, dass man 1910 und noch viele Jahre danach von alledem kaum etwas wusste. Rutherfords Befund warf sofort einige große Probleme auf; nicht zuletzt sollte man ja auch annehmen, dass ein Elektron nicht um den Atomkern kreist, sondern in ihn hineinstürzt. Nach der herkömmlichen Theorie der Elektrodynamik verliert ein fliegendes Elektron sehr schnell – in einem kurzen Augenblick – seine Energie, sodass es sich spiralförmig in Richtung des Atomkerns bewegt, was für beide katastrophale Folgen hat. Außerdem stellte sich die Frage, warum die Protonen mit ihrer positiven Ladung im Atomkern zusammenbleiben und nicht auseinander fliegen, sodass das ganze Atom sich auflöst. Was in der Welt des Allerkleinsten auch vorgehen mochte, es unterlag ganz eindeutig nicht den Gesetzen der makroskopischen Erfahrungen, auf die sich unsere Erwartungen stützen.

Als die Physiker immer tiefer in den subatomaren Bereich eindrangen, erkannten sie, dass er sich nicht nur von allem unterscheidet, was man bis dahin kannte, sondern auch von allem, was man sich überhaupt vorstellen konnte. Richard Feynman meinte dazu einmal: »Da Atome sich so ganz anders verhalten, als nun dies auch unserer alltäglichen Erfahrung vertraut ist, fällt es äußerst schwer, sich daran zu gewöhnen; jedem, sowohl dem Neuling auf diesem Gebiet wie auch dem erfahrenen Physiker, erscheint es seltsam und geheimnisvoll.«27 Als Feynman das sagte, hatten die Physiker bereits ein halbes Jahrhundert Zeit gehabt, sich auf das seltsame Verhalten der Atome einzustellen. Man stelle sich nur vor, wie Rutherford und seine Kollegen sich kurz nach 1910 gefühlt haben müssen, als das alles völlig neu war.

Einer von Rutherfords Mitarbeitern war ein sanftmütiger, umgänglicher Däne namens Niels Bohr. Als er 1913 über dem Aufbau des Atoms rätselte, kam ihm eine so spannende Idee, dass er sogar seine Flitterwochen verschob und erst einmal einen Aufsatz schrieb, der sich als bahnbrechend erweisen sollte. Da die Physiker ein Gebilde von der Größe eines Atoms nicht sehen konnten, mussten sie es zu beeinflussen versuchen und dann aus seinem Verhalten auf seine Struktur schließen, wie Rutherford es getan hatte, als er eine Folie mit Alphateilchen bombardierte. Wie nicht anders zu erwarten, führten solche Experimente manchmal zu verblüffenden Ergebnissen. Ein Rätsel, das schon seit langer Zeit im Raum stand, hatte mit den Wellenlängen des Wasserstoffs im Spektrum zu tun. Das beobachtete Muster zeigte, dass Wasserstoffatome ihre Energie mit ganz bestimmten Wellenlängen abgeben, mit anderen jedoch nicht. Es war, als ob man jemanden beobachtete, der immer an bestimmten Stellen auftauchte, ohne dass man jemals sehen konnte, wie er von einem Ort zum anderen gelangte. Warum das so war, wusste niemand.

Als Bohr an diesem Problem herumrätselte, fiel ihm eine Lösung ein, und er schrieb seinen berühmten Artikel. Unter dem Titel »Über den Aufbau der Atome und Moleküle« erklärte er, wie den Elektronen der Sturz in den Atomkernen erspart bleiben konnte: Dazu, so seine Vermutung, müssten sie nur ganz bestimmte, genau definierte Umlaufbahnen besetzen. Nach dieser neuen Theorie würde ein Elektron, das zwischen zwei Umlaufbahnen wechselt, aus der einen verschwinden und sofort in der anderen auftauchen, ohne sich in dem Raum zwischen ihnen aufzuhalten. Diese Idee vom so genannten »Quantensprung« hört sich natürlich sehr seltsam an, aber sie war so gut, dass sie einfach wahr sein musste. Sie verhinderte nicht nur, dass Elektronen auf die katastrophale Spiralbahn in Richtung des Atomkerns gerieten, sondern sie erklärte gleichzeitig auch die verwirrenden Wellenlängen des Wasserstoffspektrums. Die Elektronen tauchen nur in bestimmten Umlaufbahnen auf, weil sie nur in bestimmten Umlaufbahnen existieren. Das war eine verblüffende Erkenntnis, und sie brachte Bohr 1922, ein Jahr nach Einstein, den Nobelpreis ein.

In der Zwischenzeit entwickelte der unermüdliche Rutherford, der mittlerweile die Nachfolge von J. J. Thomson als Leiter des Cavendish Laboratory angetreten hatte und sich wieder in Cambridge befand, ein Modell zur Beantwortung der Frage, warum der Atomkern nicht auseinander fliegt. Er erkannte, dass es dort noch andere, neutralisierende Teilchen geben musste, die er deshalb als Neutronen bezeichnete. Es war eine einfache, reizvolle Idee, aber sie war nicht leicht zu beweisen. Rutherfords Mitarbeiter James Chadwick widmete der Suche nach den Neutronen elf Jahre harter Arbeit, bevor er 1932 schließlich Erfolg hatte. Auch er erhielt 1935 den Physik-Nobelpreis. Boorse und seine Kollegen vertreten in ihrer historischen Darstellung des Themas im Übrigen die Ansicht, die verspätete Entdeckung sei vermutlich sehr vorteilhaft gewesen, denn die Beherrschung der Neutronen war eine unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung der Atombombe.28 (Da Neutronen keine Ladung tragen, werden sie von den elektrischen Feldern im Inneren eines Atoms nicht abgestoßen, und man kann sie wie winzige Torpedos auf den Atomkern schießen, was dann den zerstörerischen Vorgang der Kernspaltung in Gang setzt.) Hätte man das Neutron schon in den zwanziger Jahren dingfest gemacht, so Boorse, »wäre die Atombombe zuerst höchstwahrscheinlich in Europa entwickelt worden, und zwar zweifellos von den Deutschen«.

So jedoch hatten die Europäer alle Hände voll zu tun, das seltsame Verhalten der Elektronen zu begreifen. Vor allem standen sie vor dem Problem, dass ein Elektron sich manchmal wie ein Teilchen und manchmal wie eine Welle verhielt. Diese unverständliche Dualität trieb die Physiker fast zur Verzweiflung. Während der folgenden zehn Jahre dachten sie überall in Europa angestrengt nach, kritzelten Zahlen und boten konkurrierende Hypothesen an. Prinz Louis-Victor de Broglie, Spross einer Familie französischer Herzöge, fand beispielsweise heraus, dass bestimmte Anomalien im Verhalten der Elektronen verschwinden, wenn man sie als Welle betrachtet. Auf diesen Befund wurde der Österreicher Erwin Schrödinger aufmerksam: Er brachte einige raffinierte Verfeinerungen an und entwickelte ein nützliches System, das als Wellenmechanik bezeichnet wurde. Fast zur gleichen Zeit stellte der deutsche Physiker Werner Heisenberg eine Konkurrenztheorie vor, die er Matrizenmechanik nannte. Sie war mathematisch so kompliziert, dass kaum jemand sie wirklich verstand, auch Heisenberg selbst nicht (»Ich weiß nicht einmal, was eine Matrix ist«, sagte der Physiker einmal verzweifelt zu einem Freund29), aber anscheinend löste sie manche Probleme, die mit Schrödingers Wellenmechanik nicht zu erklären waren.

Nun hatte die Physik zwei Theorien, die von gegensätzlichen Voraussetzungen ausgingen und zu den gleichen Ergebnissen führten. Es war eine unmögliche Situation.

Im Jahr 1926 schließlich schlug Heisenberg zur allgemeinen Erleichterung einen Kompromiss vor, und daraus entstand ein neues Fachgebiet, das unter dem Namen Quantenmechanik bekannt wurde. Ihr Kernstück war die Heisenberg’sche Unschärferelation: Es besagt, dass das Elektron ein Teilchen ist, das sich aber mit Wellenbegriffen beschreiben lässt. Die Unschärfe, auf der die gesamte Theorie aufbaut, besteht darin, dass wir den Weg eines Elektrons kennen können, wenn es sich durch den Raum bewegt, oder aber den Ort, an dem es sich zu einem bestimmten Zeitpunkt befindet; man kann aber niemals beides genau feststellen. Jeder Versuch, eines von beiden zu messen, führt zwangsläufig zu einer Beeinträchtigung des anderen. Dabei handelt es sich nicht um einen Mangel an ausreichend genauen Messinstrumenten, sondern es ist eine unveränderliche Eigenschaft des Universums.30

In der Praxis bedeutet das, dass man nie genau voraussagen kann, wo sich ein Elektron in einem bestimmten Augenblick aufhält. Man kann nur die Wahrscheinlichkeit benennen, dass es dort ist. In einem gewissen Sinn, so eine Formulierung von Dennis Overbye, existiert das Elektron erst dann, wenn man es beobachtet. Oder, etwas anders ausgedrückt: Solange man ein Elektron nicht beobachtet, muss man davon ausgehen, dass es sich »überall und nirgendwo zugleich« befindet.31

Wem das verwirrend erscheint, der findet vielleicht ein wenig Trost in dem Gedanken, dass auch die Physiker verwirrt waren. Laut Overbye bemerkte Bohr einmal, »wer zum ersten Mal von der Quantentheorie hörte und nicht empört sei … der habe sie nicht richtig verstanden«.32 Und als Heisenberg gefragt wurde, wie man sich ein Atom vorstellen solle, erwiderte er: »Versucht es gar nicht erst!«33

Nun hatte sich also herausgestellt, dass ein Atom ganz und gar nicht dem Bild entspricht, das die meisten Menschen sich davon gemacht hatten. Die Elektronen fliegen nicht um den Zellkern wie Planeten um die Sonne, sondern man muss sie sich eher als formlose, wolkenähnliche Gebilde vorstellen. Die »Hülle« eines Atoms ist keine harte, glänzende Kapsel, wie Zeichnungen es uns manchmal weismachen wollen, sondern nur die äußerste dieser unscharfen Elektronenwolken. Die Wolke selbst ist eigentlich bloß eine Zone der statistischen Wahrscheinlichkeit und kennzeichnet den Bereich, außerhalb dessen das Elektron nur selten anzutreffen ist.34 Könnte man ein Atom sehen, hätte es also eher Ähnlichkeit mit einem sehr verwaschenen Tennisball als mit einer scharf abgegrenzten Metallkugel (in Wirklichkeit sieht es allerdings wie keines von beiden aus und auch nicht wie irgendetwas anderes, das wir schon gesehen haben; wir haben es hier mit einer ganz anderen Welt zu tun als der, die wir um uns herum wahrnehmen).

Die Seltsamkeiten schienen kein Ende zu nehmen. Zum ersten Mal waren die Wissenschaftler »auf einen Bereich des Universums gestoßen, zu dessen Verständnis die Verdrahtung unseres Gehirns nicht ausreicht«, wie James Trefil es formulierte.35 Oder mit den Worten von Feynman: »Dinge in kleinem Maßstab verhalten sich keineswegs wie Dinge in großem Maßstab.«36 Als die Physiker sich näher damit beschäftigten, erkannten sie, was für eine Welt sie entdeckt hatten: Hier konnten Elektronen nicht nur von einer Umlaufbahn in die andere springen, ohne den dazwischenliegenden Raum zu durchqueren, sondern Materie konnte auch aus dem Nichts zu existieren beginnen – »vorausgesetzt, sie verschwindet ausreichend schnell wieder«, so Alan Lightman vom Massachusetts Institute of Technology.37

Der vielleicht faszinierendste unwahrscheinliche Aspekt der Quantenmechanik ist eine Idee, die sich aus dem Ausschlussprinzip ergibt, das Wolfgang Pauli 1925 formulierte: Danach »wissen« paarweise zusammengehörige subatomare Teilchen selbst dann, wenn sie durch beträchtliche Entfernungen getrennt sind, was der jeweils andere Partner gerade tut. Teilchen haben eine Eigenschaft, die man als Spin bezeichnet, und nach der Quantentheorie braucht man nur den Spin eines Teilchens festzustellen, dann nimmt sein Schwesterteilchen im gleichen Augenblick den entgegengesetzten, ebenso großen Spin an, ganz gleich, wie weit es entfernt ist.

Zur Verdeutlichung schreibt der Wissenschaftsautor Lawrence Joseph: Stellen wir uns zwei genau gleiche Billardkugeln vor, von denen sich die eine in Ohio und die andere auf den Fidschi-Inseln befindet; sobald wir die eine in Drehung versetzen, beginnt die andere genau mit der gleichen Geschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung zu rotieren.38 Dass dieses Phänomen tatsächlich existiert, wurde 1997 bewiesen: Damals schickten Physiker der Universität Genf Photonen elf Kilometer weit in entgegengesetzte Richtungen und wiesen nach, dass ein Eingriff bei einem davon auch bei dem anderen sofort zu einer Reaktion führt.39

Die Sache gewann eine solche Dynamik, dass Bohr auf einer Tagung über eine neue Theorie meinte, es sei nicht die Frage, ob sie verrückt sei, sondern ob sie verrückt genug sei. Um deutlich zu machen, wie sehr die Quantenwelt der Intuition widerspricht, formulierte Schrödinger ein berühmtes Gedankenexperiment. Darin sitzt eine hypothetische Katze in einer Schachtel, in der ein Atom einer radioaktiven Substanz an ein Gefäß mit Blausäure geheftet ist. Zerfällt das Teilchen innerhalb einer Stunde, löst es einen Mechanismus aus, durch den das Gefäß zerbricht und die Katze vergiftet wird. Geschieht das nicht, überlebt die Katze. Da wir aber nicht wissen, welche der beiden Fälle eintritt, haben wir wissenschaftlich keine andere Wahl, als die Katze als zu 100 Prozent lebendig und gleichzeitig zu 100 Prozent tot zu betrachten. Das bedeutet, wie Stephen Hawking mit einem Hauch verständlicher Erregung feststellt: »Man kann künftige Ereignisse nicht exakt voraussagen, wenn man noch nicht einmal in der Lage ist, den gegenwärtigen Zustand des Universums genau zu messen!«40

Wegen solcher Seltsamkeiten hatten viele Physiker eine Abneigung gegen die Quantentheorie oder zumindest gegen einige ihrer Aspekte, und für keinen galt das stärker als für Einstein. Es entbehrte nicht einer gewissen Ironie, war er es doch in seinem traumhaften Jahr 1905 gewesen, der so überzeugend erklärt hatte, dass die Photonen des Lichts sich manchmal als Teilchen und manchmal als Welle verhalten können – die Vorstellung, die das Kernstück der neuen Physik bildete. »Die Quantentheorie ist durchaus beachtenswert«, meinte er einmal höflich, aber eigentlich mochte er sie nicht. Sein berühmter Ausspruch dazu lautete: »Gott würfelt nicht.«***

Einstein konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Gott ein Universum geschaffen haben soll, in dem man manche Dinge prinzipiell nicht wissen kann. Außerdem war die Vorstellung von Fernwirkungen – dass ein Teilchen im gleichen Augenblick ein anderes beeinflussen kann, das sich Milliarden Kilometer weit entfernt befindet – eine krasse Verletzung der speziellen Relativitätstheorie. Diese besagte ausdrücklich, dass nichts die Lichtgeschwindigkeit übertreffen kann, und nun beharrten die Physiker darauf, dass Informationen im subatomaren Maßstab doch dazu in der Lage waren. (Nebenbei bemerkt: Bis heute hat niemand erklärt, wie die Teilchen diese Leistung vollbringen. Die Wissenschaftler bewältigten dieses Problem, »indem sie nicht darüber nachdachten«, so eine Formulierung des Physikers Yakir Aharonov.41)

Vor allem aber stellte sich das Problem, dass mit der Quantenphysik ein Maß an »Unsauberkeit« ins Spiel kam, das es zuvor nicht gegeben hatte. Plötzlich brauchte man zwei Systeme von Gesetzmäßigkeiten, um das Verhalten des Universums zu erklären – die Quantentheorie für die Welt des Allerkleinsten, die Relativitätstheorie für das Universum darum herum. Mit der Gravitation der Relativitätstheorie ließ sich ausgezeichnet erklären, warum Planeten um Sonnen kreisen oder warum Galaxien zu Haufenbildung neigen, aber wie sich herausstellt, hat sie auf der Ebene der Elementarteilchen keinerlei Auswirkungen. Um zu erklären, was die Atome zusammenhält, brauchte man andere Kräfte, und zwei solche Kräfte entdeckte man in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts: die starke und die schwache atomare Wechselwirkung. Die starke Wechselwirkung hält die Atome zusammen und ermöglicht es den Protonen, sich im Atomkern miteinander zu verbinden. Die schwache Wechselwirkung erfüllt eine ganze Reihe verschiedener Aufgaben, die meist mit der Steuerung bestimmter Formen des radioaktiven Zerfalls zu tun haben.42

Die schwache atomare Wechselwirkung ist trotz ihres Namens zehn Milliarden Milliarden Milliarden Mal stärker als die Gravitation, und die starke Wechselwirkung ist noch kräftiger – sogar ungeheuer viel kräftiger –, aber beide üben ihren Einfluss nur auf winzigste Entfernungen aus. Der Einflussbereich der starken Wechselwirkung umfasst nur 1/100000 des Durchmessers eines Atoms.43 Das ist der Grund, warum Atomkerne so kompakt und dicht sind, und warum Elemente mit einem großen Atomkern aus vielen Teilchen meist instabil sind: Die starke Wechselwirkung kann einfach nicht alle Protonen zusammenhalten.

Unter dem Strich hatte das alles zur Folge, dass es in der Physik zwei Systeme von Gesetzmäßigkeiten gab, eines für die Welt des sehr Kleinen, das andere für das große Universum, und beide führten ein völlig getrenntes Eigenleben. Diese Situation gefiel auch Einstein nicht. Den Rest seines Lebens widmete er der Suche nach einem Weg, um beide in einer großen vereinheitlichten Theorie zusammenzuführen, aber darin scheiterte er. Hin und wieder glaubte er, es sei gelungen, aber am Ende löste sich jedes Mal alles in Luft auf. Im Laufe der Zeit wurde er immer mehr zur Randerscheinung und sogar zum Gegenstand des Mitleids. Oder, wie Snow es formuliert: »Seine Kollegen glaubten und glauben noch heute fast ohne Ausnahme, dass er die zweite Hälfte seines Lebens vergeudete.«

Anderswo jedoch machte man echte Fortschritte. Mitte der vierziger Jahre waren die Wissenschaftler so weit, dass sie das Atom weitgehend verstanden – das zeigte sich nur allzu deutlich im August 1945, als über Japan zwei Atombomben detonierten.

Als es so weit war, glaubten die Physiker, sie hätten das Atom im Griff, und diese Ansicht ist durchaus verständlich. In Wirklichkeit jedoch sollte alles in der Teilchenphysik noch erheblich komplizierter werden. Aber bevor wir diese ein wenig anstrengende Geschichte in Angriff nehmen, müssen wir noch einen anderen Strang unserer historischen Handlung weiterverfolgen.

Es ist eine wichtige, heilsame Geschichte über Habsucht, Betrug, schlechte Wissenschaft, mehrere unnötige Todesfälle und die endgültige Klärung der Frage, wie alt die Erde ist.

* Der Name erinnert an die gleiche Familie Cavendish, aus der auch Henry stammte. Das Labor wurde nach William Cavendish, dem siebten Duke von Devonshire benannt, der im viktorianischen England ein begabter Mathematiker und Stahlmagnat war. Er stiftete der Universität 1870 die Summe von 6300 Pfund, damit sie ein Experimentallabor bauen konnte. zurück

** Geiger wurde später übrigens zu einem überzeugten Nazi, der ohne Zögern jüdische Kollegen verriet, darunter viele, die ihm geholfen hatten. zurück

*** Zumindest wird der Ausspruch in der Regel so zitiert. In Wirklichkeit lautet er: »Es ist anscheinend schwierig, Gott in die Karten zu sehen. Aber dass er würfelt und sich ›telepathischer‹ Methoden bedient ... kann ich keinen Augenblick lang glauben.« zurück