19.
Der Aufstieg des Lebens

Im Jahr 1953 nahm Stanley Miller, Doktorand an der Universität Chicago, zwei Flaschen in die Hand. Die eine enthielt ein wenig Wasser, das einen Ur-Ozean darstellen sollte, die andere Methan, Ammoniak und Schwefelwasserstoff, ein Gasgemisch, mit dem er die Atmosphäre der Erdfrühzeit nachahmen wollte. Er verband beide Flaschen mit Gummischläuchen und ließ darin elektrische Funken als Ersatz für Blitze überspringen. Nach wenigen Tagen hatte sich das Wasser in den Flaschen grün und gelb verfärbt – es war zu einer kräftigen Brühe aus Aminosäuren, Fettsäuren, Zuckern und anderen organischen Verbindungen geworden.1 Millers Chef, der Nobelpreisträger Harold Urey, erklärte begeistert: »Wenn Gott es nicht so gemacht hat, hat er eine gute Gelegenheit ausgelassen.«

In den Presseberichten aus jener Zeit klang es so, als müsse man jetzt nur noch einmal gut schütteln, und dann werde etwas Lebendiges herauskrabbeln. Nach und nach stellte sich jedoch heraus, dass es so einfach nicht ist. Obwohl fast ein halbes Jahrhundert lang weiter geforscht wurde, sind wir dem synthetischen Leben heute nicht näher als 1953, und der Gedanke, wir könnten es erschaffen, ist sogar in viel weitere Ferne gerückt. Heute sind die Fachleute sich ziemlich sicher, dass die Ur-Atmosphäre sich für eine solche Entwicklung bei weitem nicht so gut eignete wie Millers und Ureys Gasgemisch, sondern dass es sich um eine viel weniger reaktionsfreudige Mischung aus Stickstoff und Kohlendioxid handelte. Als man Millers Experiment mit diesen wesentlich schwierigeren Ausgangsmaterialien wiederholte, kam nie mehr als eine einzige, recht einfach gebaute Aminosäure heraus.2 Und ohnehin ist die Entstehung der Aminosäuren nicht das eigentliche Problem. Das liegt vielmehr in den Proteinen.

Ein Protein erhält man, wenn man Aminosäuren hintereinander aufreiht, und wir brauchen eine Menge Proteine. Die genaue Zahl kennt niemand, aber möglicherweise gibt es im menschlichen Organismus bis zu einer Million verschiedene Proteine, und jedes davon ist ein kleines Wunder.3 Nach allen Gesetzen der Wahrscheinlichkeit sollte es solche Moleküle überhaupt nicht geben. Um ein Protein herzustellen, muss man Aminosäuren (die ich hier, einer langen Tradition entsprechend, als »Bausteine des Lebens« bezeichnen muss) in einer ganz bestimmten Reihenfolge zusammenfügen, ganz ähnlich wie man Buchstaben in einer bestimmten Reihenfolge hintereinander stellt, um ein Wort zu erzeugen. Das Problem ist nur, dass die Worte mit dem Aminosäurealphabet häufig sehr lang werden. Das Wort Kollagen, der Name eines sehr verbreiteten Proteins, entsteht aus acht in der richtigen Reihenfolge aneinander gefügten Buchstaben. Um aber das Kollagen selbst zu erzeugen, müssen wir 1055 Aminosäuren genau in der richtigen Sequenz anordnen. Aber natürlich – und das ist das Entscheidende – erzeugen wir es nicht: Es erzeugt sich selbst ohne bewusste Lenkung, und hier kommt die Unwahrscheinlichkeit ins Spiel.

Die Chance, dass ein Molekül wie das Kollagen mit einer Sequenz aus 1055 Bausteinen von selbst entsteht, ist schlicht und einfach gleich Null. Es geschieht nicht. Um zu begreifen, welch ein Glückstreffer seine Existenz ist, können wir uns einen »einarmigen Banditen« aus Las Vegas vorstellen, der aber sehr viel breiter ist – genauer gesagt, rund 27 Meter – und nicht nur die üblichen drei oder vier rotierenden Räder enthält, sondern 1055, wobei auf jedem Rad zwanzig Symbole stehen (für jede der normalen Aminosäuren eines).* Wie oft muss man an dem Griff ziehen, bis alle 1055 Symbole in der richtigen Reihenfolge stehen? Unendlich oft. Selbst wenn man die Zahl der rotierenden Räder auf 200 vermindert, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass alle 200 genau eine vorher festgelegte Reihenfolge anzeigen, bei 1 zu 10260 (das ist eine Eins mit 260 Nullen).4 Schon diese Zahl ist größer als die aller Atome im Universum.

Proteine sind, kurz gesagt, sehr komplizierte Gebilde. Das Hämoglobin ist mit 146 Aminosäuren nach den Maßstäben der Proteinchemie ein Zwerg,5 aber schon für dieses Molekül sind 10190 Aminosäurekombinationen möglich, und deshalb brauchte der Chemiker Max Perutz von der Universität Cambridge 23 Jahre – das heißt mehr oder weniger seine gesamte Berufslaufbahn –, um die richtige Reihenfolge aufzuklären. Dass durch Zufallsereignisse auch nur ein einziges Proteinmolekül entsteht, ist so gut wie ausgeschlossen – es ist, als würde ein Wirbelsturm über einen Schrottplatz fegen, und anschließend stünde dort ein vollständig montierter Jumbojet, um einen anschaulichen Vergleich des Astronomen Fred Hoyle zu zitieren.

In Wirklichkeit reden wir aber über mehrere 100000 oder vielleicht sogar eine Million verschiedene Proteine, von denen jedes einzigartig ist und nach heutiger Kenntnis für die Erhaltung eines gesunden, glücklichen Menschen gebraucht wird. Und auch das ist noch nicht alles. Damit ein Protein einen Nutzen bringt, müssen die Aminosäuren nicht nur in der richtigen Reihenfolge zusammengefügt werden, sondern das Molekül muss dann auch eine Art chemisches Origami durchmachen und sich zu einer ganz bestimmten Form zusammenfalten. Und selbst nachdem es diese komplizierte Struktur angenommen hat, hat es nur dann einen Sinn, wenn es sich auch fortpflanzen kann – und dazu sind Proteine nicht in der Lage. Diese Aufgabe übernimmt die DNA. Die DNA ist ein Meister der Verdoppelung – sie kann in wenigen Sekunden eine Kopie ihrer selbst herstellen –, ansonsten hat sie aber kaum Fähigkeiten.6 Wir stehen also vor einer paradoxen Situation. Ohne DNA kann es keine Proteine geben, und DNA kann ohne Proteine nichts bewirken. Müssen wir demnach annehmen, dass beide gleichzeitig entstanden sind, um sich gegenseitig zu. helfen? Das wäre schon sehr erstaunlich.

Es geht aber immer noch weiter. DNA, Proteine und die anderen Bestandteile des Lebendigen könnten nichts ausrichten, wenn sie nicht durch eine Art Hülle zusammengehalten würden. Kein Atom oder Molekül hat jemals allein etwas Lebendiges hervorgebracht. Ein beliebiges Atom, das wir aus unserem Körper entnehmen, ist nicht lebendiger als ein Sandkorn. Erst wenn die vielfältigen Materialien im geschützten Raum einer Zelle zusammentreffen, können sie sich an dem atemberaubenden Tanz beteiligen, den wir Leben nennen. Ohne die Zelle sind sie nur interessante chemische Verbindungen, aber ohne solche Verbindungen hätte auch die Zelle keinen Sinn. Oder, wie der Physiker Paul Davies es formulierte: »Wenn kein Molekül ohne die anderen funktionsfähig ist, wie konnte dann jedes einzelne Mitglied dieser Molekülgesellschaft je zustande kommen?«7 Es ist ungefähr so, als würden alle Zutaten in der Küche sich irgendwie von selbst zusammentun und zu einem Kuchen werden – und zwar zu einem Kuchen, der sich nötigenfalls immer wieder teilen kann und neue Kuchen hervorbringt. Da ist es durchaus verständlich, dass wir vom Wunder des Lebens reden. Und ebenso ist es verständlich, dass wir mit unseren Kenntnissen darüber noch ganz am Anfang stehen.

Wie also sind all diese wundersamen, komplizierten Vorgänge zu erklären? Zunächst einmal wäre es wirklich denkbar, dass sie nicht ganz so wundersam sind, wie es den Anschein hat. Betrachten wir beispielsweise die erstaunlich unwahrscheinlichen Proteine. Wir halten ihren Aufbau vor allem deshalb für ein solches Wunder, weil wir davon ausgehen, dass sie in ihrer jetzigen Form ganz plötzlich auf der Bildfläche erschienen sind. Was aber wäre, wenn die Proteinketten nicht auf einmal entstanden wären? Wenn man im großen einarmigen Banditen der Schöpfung einige Räder anhalten könnte, weil sie bereits ein paar viel versprechende Kirschen zeigen? Oder anders gefragt: Wie steht es, wenn Proteine nicht plötzlich ins Dasein getreten sind, sondern eine Evolution durchgemacht haben?

Angenommen, wir würden alle Bestandteile eines Menschen – Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und so weiter – mit ein wenig Wasser in einen großen Behälter geben, einmal kräftig rühren, und schon kommt ein fertiger Organismus heraus. Das wäre wirklich verblüffend. Und genau das stellen Hoyle und andere (darunter viele überzeugte Kreationisten) sich vor, wenn sie annehmen, Proteine hätten sich spontan und in einem Schritt gebildet. Aber so war es nicht – so kann es nicht gewesen sein. Wie Richard Dawkins in seinem Buch Der blinde Uhrmacher darlegt, muss ein additiver Auswahlprozess abgelaufen sein, durch den die Aminosäuren sich stückweise zusammenfinden konnten.8 Anfangs lagerten sich vielleicht zwei oder drei Aminosäuren zusammen und erfüllten einen einfachen Zweck, nach einiger Zeit stieß eine ähnliche kleine Gruppe hinzu, und anschließend wurde eine zusätzliche Verbesserung »entdeckt«.

Chemische Reaktionen, wie sie im Zusammenhang mit dem Lebendigen auftreten, sind eigentlich nichts Ungewöhnliches. Es mag unsere Fähigkeiten übersteigen, sie im Labor nach Art von Stanley Miller und Harold Urey nachzukochen, aber das Universum bewerkstelligt sie ohne weiteres. Viele Moleküle lagern sich in der Natur zu langen Ketten zusammen, die man als Polymere bezeichnet.9 Ständig werden Zuckermoleküle zu Stärke verkettet. Kristalle besitzen eine Reihe von Fähigkeiten, die an ein Lebewesen denken lassen – sie können sich verdoppeln, auf Reize aus der Umwelt reagieren, komplizierte Muster bilden. Natürlich sind sie nie wirklich lebendig, aber sie zeigen immer wieder, dass Komplexität ein natürliches, spontanes, sehr weit verbreitetes Phänomen ist. Ob es im Universum an vielen Stellen Leben gibt, wissen wir nicht, aber in jedem Fall herrscht kein Mangel an geordnetem, spontanem Zusammenbau, von der anmutigen Symmetrie der Schneeflocken bis zu den faszinierenden Ringen des Saturn.

Das natürliche Bestreben zur Zusammenlagerung ist so stark, dass das Leben vielleicht sogar etwas viel Zwangsläufigeres ist, als wir allgemein annehmen. Der belgische Biochemiker und Nobelpreisträger Christian de Duve hält es für »eine notwendige Ausprägungsform der Materie, die unter geeigneten Bedingungen entstehen muss«.10 Nach de Duves Ansicht herrschen solche Bedingungen in jeder Galaxie an bis zu einer Million Stellen.

Die chemischen Substanzen, die uns das Leben verleihen, haben nichts übermäßig Exotisches. Wer ein Lebewesen erschaffen will, sei es ein Goldfisch, ein Salatkopf oder ein Mensch, brauchte dazu eigentlich nur die vier Grundelemente Kohlenstoff, Wasserstoff, Sauerstoff und Stickstoff sowie geringe Mengen von ein paar weiteren, vor allem Schwefel, Phosphor, Calcium und Eisen.11 Setzt man diese Bestandteile in rund drei Dutzend Kombinationen zu Zuckern, Säuren und anderen einfachen Verbindungen zusammen, kann man daraus alles aufbauen, was lebendig ist. Dawkins stellt fest: »Es ist nichts Besonderes an den Substanzen, aus denen lebende Dinge gemacht sind. Lebende Dinge sind Ansammlungen von Molekülen wie alles andere auch.«12

Unter dem Strich kann man sagen: Das Leben ist verblüffend und großartig, manchmal sogar wundersam; unmöglich aber ist es nicht – das bezeugen wir selbst mit unserem bescheidenen Dasein immer wieder. Sicher, was den Anbeginn des Lebens angeht, sind unsere Kenntnisse in den Einzelheiten noch sehr lückenhaft. Ganz gleich, über welches Szenario für die notwendigen Voraussetzungen des Lebens man liest, immer kommt darin Wasser vor: von dem »warmen kleinen Teich«, in dem das Leben nach Darwins Vermutung begonnen hat, bis zu den brodelnden unterseeischen Schloten, die heute die beliebtesten Kandidaten für den Ursprungsort des Lebens sind. Bei alledem übersieht man aber, dass die Entstehung von Polymeren aus Monomeren (das heißt die Entstehung der ersten Proteine) mit der »Bildung von Bindungen unter Wasserabspaltung« verbunden ist, wie man es in der Fachsprache nennt. Ein führendes Lehrbuch der Biologie meint, vielleicht mit einem Anflug von unguten Gefühlen: »Nach allgemeiner Ansicht der Fachleute waren solche Reaktionen im Ur-Meer und auch in jedem anderen wässrigen Medium wegen des Massenwirkungsgesetzes energetisch nicht begünstigt.«13 Es ist ein wenig, als würde man Zucker in ein Glas Wasser schütten, weil man ihn zu einem Würfel machen möchte. Das dürfte eigentlich nicht geschehen, aber in der Natur geschieht es dann irgendwie doch. Die chemischen Einzelheiten zu erörtern, würde hier zu weit führen; wir wollen nur festhalten, dass Monomere nicht zu Polymeren werden, wenn man sie nass macht – außer bei der Entstehung des Lebens auf der Erde Wie das damals geschah und warum es ansonsten nicht geschieht, ist eine der großen unbeantworteten Fragen der Biologie.

Zu den größten Überraschungen der Geowissenschaften in den letzten Jahrzehnten gehörte die Erkenntnis, dass das Leben in der Erdgeschichte sehr früh entstanden ist. Noch bis weit in die fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein glaubte man, das Lebendige sei weniger als 600 Millionen Jahre alt.14 In den siebziger Jahren verlegten einige mutige Fachleute den Ursprung bis zu 2,5 Milliarden Jahre in die Vergangenheit. Der derzeitige Zeitpunkt vor 3,85 Milliarden Jahren jedoch liegt wirklich verblüffend früh. Erst vor 3,9 Milliarden Jahren wurde die Erdoberfläche überhaupt fest.

»Aus dieser Schnelligkeit können wir nur den Schluss ziehen, dass es für Leben auf dem Niveau von Bakterien nicht ›schwierig‹ ist, sich auf Planeten mit geeigneten Umweltbedingungen zu entwickeln«, schrieb Stephen Jay Gould 1996 in der New York Times.15 Oder, wie er es an anderer Stelle formulierte: Man kann sich kaum der Erkenntnis entziehen, dass »das Leben, das sich so schnell wie irgend möglich entwickelte, chemisch zum Dasein bestimmt war«.16

Tatsächlich entstand das Leben so rasch, dass manche Fachleute glauben, irgendetwas müsse nachgeholfen haben – vielleicht sogar in erheblichem Umfang. Die Idee, das Leben auf der Erde könnte aus dem Weltraum gekommen sein, hat eine überraschend lange und gelegentlich sogar durchaus ehrwürdige Geschichte. Der große Lord Kelvin warf den Gedanken schon 1871 bei einer Tagung der British Association for the Advancement of Science auf: Damals äußerte er die Vermutung, »die Keime des Lebens könnten von einem Meteoriten auf die Erde gebracht worden sein«. Dennoch blieb es zunächst eine sehr exotische Idee. Das änderte sich erst an einem Sonntag im September 1969, als mehrere 10000 Australier durch eine Reihe von Überschallknallen und einen von Osten nach Westen über den Himmel rasenden Feuerball aufgeschreckt wurden.

Die Kugel machte im Vorüberfliegen seltsam knackende Geräusche und hinterließ einen Geruch, den manche Beobachter mit Methyalkohol verglichen. Andere bezeichneten ihn schlicht als entsetzlich.17

Der Feuerball explodierte über Murchison, einer Ortschaft mit 600 Einwohnern im Goulburn Valley nördlich von Melbourne, und dann regneten seine Bruchstücke, manche davon bis zu fünf Kilo schwer, auf die Erde. Glücklicherweise wurde niemand verletzt. Der Meteorit gehörte zur seltenen Gruppe der kohligen Chondrite, und die hilfsbereiten Bewohner des Ortes sammelten rund 90 Kilo des Materials ein. Der Zeitpunkt hätte besser kaum sein können. Knapp zwei Monate zuvor waren die Apollo-11-Astronauten zur Erde zurückgekehrt und hatten einen ganzen Sack Mondgestein mitgebracht; Labors auf der ganzen Welt rissen sich – teilweise sogar sehr lautstark – darum, außerirdisches Gestein zu untersuchen.

Wie sich herausstellte, war der Meteorit von Murchison 4,5 Milliarden Jahre alt und von Aminosäuremolekülen übersät.18 Insgesamt fand man 47 verschiedene Typen, von denen acht auch auf der Erde in den Proteinen vorkommen. Ende 2001, über 30 Jahre nach dem Einschlag, gab eine Wissenschaftlergruppe des kalifornischen Ames Research Center bekannt, man habe in dem Gestein von Murchison auch Polyole gefunden, komplizierte, kettenförmige Zuckermoleküle, die man außerhalb der Erde bis dahin noch nie nachgewiesen hatte.

Seither haben noch mehrere weitere kohlige Chondriten die Bahn unseres Planeten gekreuzt19 – einer landete im Januar 2000 nicht weit vom Tagish Lake in der kanadischen Yukon-Region und war zuvor über weiten Teilen Nordamerikas zu sehen. Auch sie bestätigten, dass das Universum tatsächlich reich an organischen Verbindungen ist. Der Halley-Komet besteht nach heutiger Kenntnis zu rund 25 Prozent aus organischen Molekülen. Gelangt eine ausreichend große Menge davon an eine geeignete Stelle – beispielsweise auf die Erde –, sind sofort alle Grundelemente des Lebendigen vorhanden.

Die Theorie der Panspermie, wie die extraterrestrische Entstehung des Lebens auch genannt wird, wirft aber zwei Probleme auf. Erstens ist die Frage nach der Entstehung des Lebens damit nicht beantwortet, sondern der Vorgang wird nur an einen anderen Ort verlegt. Und zweitens veranlasst die Panspermie selbst ihre wissenschaftlich respektablen Fürsprecher manchmal zu Spekulationen, die man mit Fug und Recht als unklug bezeichnen kann. Francis Crick, Mitentdecker der DNA-Struktur, äußerte gemeinsam mit seinem Kollegen Leslie Orgel die Vermutung, intelligente Außerirdische könnten das Leben absichtlich auf der Erde ausgesät haben, eine Idee, die nach Ansicht von Gribbin hart am Rand der wissenschaftlichen Seriosität steht20 – man könnte auch sagen: Käme sie nicht von einem Nobelpreisträger, würde man sie für verrückt erklären. Weiter gedämpft wurde die Begeisterung für die Panspermie durch Fred Hoyle und seinen Kollegen Chandra Wickramansinghe: Sie vermuteten, wir hätten dem Weltraum nicht nur das Leben zu verdanken, sondern auch Krankheiten wie Grippe und Beulenpest, eine Vorstellung, deren Widerlegung den Biochemikern keine Schwierigkeiten bereitete. Hoyle – und man sollte vielleicht noch einmal einflechten, dass er zu den großen wissenschaftlichen Köpfen des 20. Jahrhunderts gehörte – äußerte einmal auch die bereits zuvor erwähnte Vermutung, unsere Nase habe sich in der Evolution mit unten liegenden Öffnungen entwickelt, damit Krankheitserreger, die aus dem Weltraum herantreiben und darauf fallen, nicht in sie eindringen können.21

Was auch das Leben in Gang setzte, es ereignete sich nur einmal. Das ist die bemerkenswerteste Erkenntnis der Biologie, ja vielleicht sogar unsere bemerkenswerteste Erkenntnis überhaupt. Alles, was jemals gelebt hat, ob Pflanze oder Tier, kann seinen Ursprung auf dasselbe erste Ereignis zurückführen. Irgendwann in einer unvorstellbar weit entfernten Vergangenheit wurde ein kleiner Beutel voller chemischer Substanzen lebendig. Er nahm Nährstoffe auf, pulsierte sanft, blieb kurze Zeit erhalten. Bis hierher hatte sich das Gleiche vermutlich auch früher schon viele Male abgespielt. Aber dieses Urgebilde tat noch etwas anderes, und das war neu: Es teilte sich und brachte einen Nachkommen hervor. Ein winziges Päckchen genetischen Materials wurde von einem lebenden Gebilde zum anderen weitergegeben, und seitdem hörte die Entwicklung nie mehr auf. Es war unser aller Schöpfungsmoment. Die Biologen sprechen manchmal von der Ur-Geburt.

»Wohin man in der Welt auch kommt, welches Tier, welche Pflanze, welchen Käfer oder Mikroorganismus man auch betrachtet: Wenn es lebt, bedient es sich des gleichen Wörterbuches, und es kennt den gleichen Code. Es gibt nur ein Leben«, schreibt Matt Ridley.22 Wir alle sind das Ergebnis eines einzigen genetischen Kunstgriffs, der über fast vier Milliarden Jahre hinweg von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Und das so wirksam, dass wir heute ein Bruchstück aus der genetischen Information eines Menschen in eine defekte Hefezelle hineinflicken können, und auf einmal arbeitet die Hefezelle, als wär's ein Stück von ihr. Und in einem sehr realen Sinn ist es das auch.

Der Anbeginn des Lebens – oder zumindest etwas sehr Ähnliches – steht auf den Regalbrettern im Arbeitszimmer der freundlichen, auf Isotopenuntersuchungen spezialisierten Geochemikerin Victoria Bennett am geowissenschaftlichen Institut der Australian National University in Canberra. Die Amerikanerin ist 1989 mit einem Zweijahresvertrag an die australische Universität gekommen und seitdem dort geblieben. Als ich sie Ende 2002 aufsuche, drückt sie mir einen ansehnlichen Steinbrocken in die Hand. Darin wechseln sich schmale Streifen aus weißem Quarz und einem graugrünen Material namens Clinopyroxen ab. Der Brocken stammt von der Akilia-Insel in Grönland, wo man 1997 ungewöhnlich altes Gestein gefunden hat. Die dortigen Felsen gehören mit 3,85 Milliarden Jahren zu den ältesten Meeressedimenten, die jemals entdeckt wurden.

»Ob das, was Sie da in der Hand haben, früher Lebewesen enthielt, können wir nicht mit Sicherheit sagen; man müsste das Material pulverisieren, um das herauszufinden«, erklärt Bennett.23 »Aber es stammt aus den gleichen Ablagerungen, in denen man auch die ältesten Lebensformen ausgegraben hat, also war vermutlich etwas Lebendiges darin.« Aber auch wenn man noch so gründlich sucht, fossile Mikroorganismen würde man nicht finden. Alle einfachen Lebewesen wären durch die Vorgänge, die Ozeanschlamm zu Stein gemacht haben, zermalmt und verbacken worden. Würde man das Gestein zermahlen und mikroskopisch untersuchen, stieße man höchstens auf die chemischen Überreste der Lebewesen – Kohlenstoffisotope und Apatit, eine Form von Phosphaten. Beide gemeinsam wären ein starkes Indiz, dass das Gestein einst Kolonien lebender Organismen enthielt. »Wie diese Lebewesen ausgesehen haben, können wir nur vermuten«, sagt Bennett. »Wahrscheinlich waren sie so einfach, wie etwas Lebendes überhaupt sein kann – aber Leben war es. Sie waren lebendig. Sie haben sich fortgepflanzt.«

Und irgendwann führte die Entwicklung zu uns.

Für Fachleute wie Bennett, die sich für sehr altes Gestein interessieren, ist die Australian National University schon seit langem ein wichtiges Zentrum. Das hat sie vor allem dem Erfindungsreichtum von Bill Compston zu verdanken; er lebt heute im Ruhestand, baute aber in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts die weltweit erste hochauflösende Ionen-Mikrosonde, nach den Anfangsbuchstaben ihrer englischen Bezeichnung (sensitive high resolution ion micro probe) auch unter dem Spitznamen SHRIMP bekannt. Dieser Apparat misst in winzigen Mineralproben, den Zirkonen, die Zerfallsgeschwindigkeit des Urans. Zirkone kommen in den meisten Gesteinstypen außer dem Basalt vor und sind äußerst langlebig: Mit Ausnahme der Subduktion überleben sie fast alle natürlichen Vorgänge. Der größte Teil der Erdkruste wanderte irgendwann wieder in den Schmelzofen, aber an wenigen Stellen – beispielsweise in Westaustralien und Grönland – fand man frei liegendes Gestein, das immer an der Oberfläche geblieben war. Compstons Instrument eröffnete die Möglichkeit, solches Gestein mit beispielloser Genauigkeit zu datieren. Der Prototyp der SHRIMP wurde in der eigenen Werkstatt des Instituts für Geowissenschaften gebaut; sie sah ein wenig so aus, als sei sie aus übrig gebliebenen Teilen zusammengesetzt, aber sie funktionierte großartig. Im Jahr 1982, bei der ersten offiziellen Erprobung, datierte man mit ihrer Hilfe den ältesten Gegenstand, den man jemals gefunden hatte: ein Stück Gestein aus Westaustralien, das 4,3 Milliarden Jahre alt war.

»Es erregte damals ziemliches Aufsehen, dass man mit einer ganz neuen Technologie so schnell etwas so Wichtiges gefunden hatte«, erklärt mir Bennett.

Dann nimmt sie mich mit in den Raum, wo SHRIMP II steht, das derzeit aktuelle Modell. Es ist ein großer Apparat aus Edelstahl, fast vier Meter lang, eineinhalb Meter breit und so solide gebaut wie eine Tiefseesonde. Am Bedienungspult sitzt Bob, ein Gast von der Canterbury University in Neuseeland, und beobachtet die ständig wechselnden Zahlenreihen auf dem Bildschirm. Wie er mir erklärt, ist er schon seit vier Uhr morgens hier. SHRIMP II läuft rund um die Uhr – man hat eine Menge Gestein zu datieren. Jetzt ist es kurz nach neun, und Bob hat das Gerät noch bis zwölf für sich. Fragt man zwei Geochemiker, wie eine solche Maschine funktioniert, dann reden sie über Isotopenhäufigkeiten oder Ionisationsniveaus, und das mit einer Begeisterung, die zwar liebenswürdig, aber nicht ganz nachvollziehbar ist. Letztlich geht es um Folgendes: Die Maschine bombardiert eine Gesteinsprobe mit einem Strom elektrisch geladener Atome und kann auf diese Weise geringfügige Unterschiede im Blei- und Urangehalt feststellen; aus solchen Messungen lässt sich dann sehr genau das Alter des Gesteins ableiten. Wie Bob mir erklärt, dauert die Vermessung eines einzigen Zirkons etwa 17 Minuten, und um zuverlässige Daten zu gewinnen, muss man an jeder Gesteinsprobe mehrere Dutzend solcher Messungen vornehmen. In der Praxis erfordert das Ganze ungefähr den gleichen von langen Pausen unterbrochenen Fleiß wie ein Aufenthalt im Waschsalon, und es hat auch ungefähr den gleichen Reiz. Dennoch wirkt Bob sehr glücklich, aber das scheint eine allgemeine Eigenschaft der Menschen aus Neuseeland zu sein.

Das Institut für Geowissenschaften ist eine seltsame Kombination aus Büros, Labors und Maschinenräumen. »Früher haben wir hier alles selbst gebaut«, sagt Bennett. »Wir hatten sogar unseren eigenen Glasbläser, aber der ist mittlerweile im Ruhestand. Immerhin gibt es aber noch zwei hauptberufliche Steinzertrümmerer.« Sie bemerkt meinen leicht überraschten Blick. »Wir verarbeiten hier eine Menge Gestein. Und es muss sehr sorgfältig präpariert werden. Man muss dafür sorgen, dass keine Verunreinigungen aus früheren Materialproben hineingeraten, kein Staub und nichts anderes. Es ist eine ziemlich mühselige Arbeit.« Sie zeigt mir die Maschinen zum Zerkleinern des Gesteins. Sie sind tatsächlich blitzsauber – die Männer, die sie bedienen, machen offenbar gerade Kaffeepause. Neben den Maschinen stehen große Kisten mit Gesteinsbrocken von unterschiedlichster Form und Größe. An der ANU wird tatsächlich eine Menge Gestein untersucht.

Als wir unsere Besichtigung beendet haben und wieder in Bennetts Arbeitszimmer sitzen, fällt mir an der Wand ein Poster auf. Darauf hat ein Künstler sich in lebhaften Farben ausgemalt, wie die Erde vor 3,5 Milliarden Jahren ausgesehen haben könnte, in jener vorzeitlichen Periode, die wissenschaftlich als Archaeon bezeichnet wird und in der das Leben gerade erst in Gang kam. Das Bild zeigt eine fremdartige Landschaft: riesige, sehr aktive Vulkane und ein dampfendes, kupferfarbenes Meer unter einem lebensfeindlichen roten Himmel. Im Vordergrund erkennt man flaches Wasser voller Stromatolithen, eine Art Bakteriengestein. Nach einem viel versprechenden Umfeld für die Entstehung und Erhaltung von Lebewesen sieht das nicht aus. Ich erkundige mich, ob die Abbildung der Wirklichkeit entspricht.

»Nun ja, eine Denkschule behauptet, es sei damals in Wirklichkeit kühl gewesen, weil die Sonne viel schwächer leuchtete.«

(Wie ich später erfahre, sprechen Biologen in diesem Zusammenhang scherzhaft vom »Chinarestaurant-Problem«, weil damals eine schwache Sonne – englisch dim sun – vom Himmel schien.) »Ohne Atmosphäre dürften die ultravioletten Strahlen, selbst wenn sie von einer schwachen Sonne kamen, alle Bindungen in den Molekülen zerstört haben. Und doch gibt es genau hier« – sie tippt mit dem Finger auf die Stromatolithen – »fast an der Oberfläche tatsächlich Lebewesen. Das ist ein Rätsel.«

»Also wissen wir eigentlich nicht, wie die Welt damals aussah?«

»Mmmm«, stimmt sie nachdenklich zu.

»Es sieht so oder so nicht sehr nach günstigen Bedingungen für das Leben aus.«

Sie nickt liebenswürdig. »Aber irgendetwas muss es gegeben haben, das dem Leben geholfen hat. Sonst wären wir nicht da.«

Uns hätte es mit Sicherheit nicht geholfen. Wer mit einer Zeitmaschine in jene vorzeitliche Welt käme, würde sich nach dem Aussteigen sehr schnell wieder zurück in das Fahrzeug flüchten, denn damals gab es auf der Erde nicht mehr Sauerstoff als heute auf dem Mars. Die Atmosphäre war voller giftiger Salzsäure- und Schwefelsäuredämpfe, die sich durch die Kleidung gefressen und die Haut verätzt hätten.24 Die Erde hätte auch nicht den sauberen, farbenprächtigen Anblick geboten, der auf dem Poster in Victoria Bennetts Arbeitszimmer wiedergegeben ist. Das chemische Gebräu der damaligen Atmosphäre ließ kaum Sonnenlicht bis zur Erdoberfläche durch. Nur im Licht der hellen, häufigen Blitze hätte man hin und wieder etwas sehen können. Kurz gesagt, hätten wir diese Erde nicht als die unsere erkannt.

Höhepunkte gab es in der Frühzeit des Lebens nur selten, und die Abstände zwischen ihnen waren groß. Zwei Milliarden Jahre lang waren Bakterien die einzigen Lebensformen. Sie lebten, pflanzten sich fort und verbreiteten sich, aber sie zeigten keinerlei Neigung, auf eine andere, anspruchsvollere Daseinsebene überzugehen. Irgendwann während der ersten Milliarde Jahre lernten die Cyanobakterien eine reichlich verfügbare Ressource anzuzapfen: den Wasserstoff, der im Wasser in ungeheueren Mengen enthalten ist. Sie nahmen Wassermoleküle auf, gewannen daraus den Wasserstoff und gaben den Sauerstoff als Abfallprodukt frei – womit sie die Photosynthese erfunden hatten. Wie Margulis und Sagan richtig anmerken, »war die Photosynthese zweifellos die wichtigste biochemische Neuerung in der Geschichte des Lebendigen auf unserem Planeten«25 – und sie wurde nicht von Pflanzen erfunden, sondern von Bakterien.

Als die Cyanobakterien sich vermehrten, reicherte sich der Sauerstoff auf der Erde an – sehr zum Missvergnügen jener Lebewesen, für die er giftig war, und das waren zu jener Zeit alle.

In einer anaeroben (sauerstofffreien) Welt wirkt Säuerstoff äußerst schädlich. Unsere weißen Blutzellen benutzen ihn sogar, um eingedrungene Bakterien zu töten.26 Dass Sauerstoff grundsätzlich giftig ist, erscheint vielfach verwunderlich, dass er unserem Wohlbefinden so zuträglich ist, liegt nur daran, dass wir ihn auf Grund unserer Evolution gut nutzen können. In anderen Zusammenhängen ist er etwas Entsetzliches. Er macht Butter ranzig und lässt Eisen rosten. Wir selbst vertragen ihn zwar, aber auch das nur bis zu einer gewissen Grenze. In unseren Zellen liegt die Sauerstoffkonzentration zehnmal niedriger als in der Atmosphäre.

Die neuen Lebewesen, die den Sauerstoff nutzen konnten, hatten zwei Vorteile auf ihrer Seite. Der Sauerstoff ermöglichte eine effizientere Energieproduktion und zerstörte gleichzeitig konkurrierende Organismen. Manche davon zogen sich in die schlammige, anaerobe Welt in Sümpfen und am Boden von Seen zurück. Andere taten dies ebenfalls, wanderten aber später (viel später) in den Verdauungstrakt von Lebewesen wie du und ich. Eine ganze Reihe dieser urzeitlichen Organismen leben noch heute in unserem Körper und tragen zur Verarbeitung der Nahrung bei, aber auch sie verabscheuen den geringsten Hauch von Sauerstoff. Unzählige andere schafften die Anpassung nicht und gingen zu Grunde.

Die Cyanobakterien waren ein Erfolgsmodell und wurden zum Selbstläufer. Anfangs sammelte sich der von ihnen erzeugte Sauerstoff nicht in der Atmosphäre, sondern er verband sich mit Eisen zu Eisenoxiden, die zum Boden der urzeitlichen Meere sanken. Mehrere Millionen Jahre lang rostete die Welt ganz buchstäblich – dieses Phänomen zeigt sich sehr deutlich in den streifenförmigen Ablagerungen, aus denen heute ein großer Teil des Eisenerzes stammt. Viel mehr geschah einige Dutzend Jahrmillionen lang nicht. Würden wir uns in die Welt des frühen Proterozoikums begeben, wir würden kaum vielversprechende Anhaltspunkte für das zukünftige Leben auf der Erde finden. Vielleicht würden wir hier und da auf einem geschützten Tümpel einen Film aus lebendem Schaum entdecken, oder vielleicht würden die Felsen an der Küste hier und da auch einen Überzug aus glänzendem Grün und Braun tragen, aber ansonsten wäre das Leben noch unsichtbar.

Dann, vor rund 3,5 Milliarden Jahren, geschah etwas Auffälliges.27 Wo das Meer flach war, erschienen die ersten sichtbaren Strukturen auf der Bildfläche. Die Cyanobakterien wurden durch ihre alltäglichen chemischen Abläufe ein wenig klebrig, sodass sie winzige Staub- und Sandpartikel einfangen konnten. Diese verbanden sich dann zu seltsam aussehenden, aber sehr festen Gebilden – den Stromatolithen, die auf dem Poster an der Wand von Victoria Bennetts Arbeitszimmer im flachen Wasser stehen. Stromatolithen gab es in sehr unterschiedlicher Form und Größe. Manchmal sahen sie aus wie riesige Blumenkohlköpfe, manchmal wie weiche Matratzen (der Begriff Stromatolith stammt von dem griechischen Wort für »Matratze« ab), manchmal auch wie Säulen, die sich mehrere Dutzend oder sogar 100 Meter über die Wasseroberfläche erhoben. In allen Ausprägungsformen waren sie eine Art lebendes Gestein, und sie stellten das erste Gemeinschaftsunternehmen der Welt dar: Manche Formen der primitiven Lebewesen waren nur an der Oberfläche zu Hause, andere ein wenig tiefer, und sie nutzten jeweils die Bedingungen, die durch andere geschaffen wurden. Die Welt hatte ihr erstes Ökosystem.

Aus Fossilformationen kannte man die Stromatolithen schon seit vielen Jahren, aber zu ihrer großen Überraschung entdeckten Wissenschaftler 1961 in der Shark Bay an der abgelegenen Nordwestküste Australiens auch eine Gemeinschaft lebender Exemplare. Damit hatte man nicht gerechnet – der Fund kam so unerwartet, dass die Fachleute erst einige Jahre später erkannten, worauf sie hier eigentlich gestoßen waren. Heute ist die Shark Bay eine Touristenattraktion – zumindest so weit, wie ein Ort dazu werden kann, wenn er einige Dutzend Kilometer von irgendetwas anderem und mehrere 100 Kilometer von etwas Wichtigem entfernt ist. Über dem Wasser hat man Stege errichtet, sodass die Besucher einen guten Blick auf die Stromatolithen haben, die knapp unter der Oberfläche ruhig vor sich hin atmen. Mit ihrem glanzlosen Grau sehen sie, wie ich schon in einem früheren Buch festgestellt habe, eigentlich aus wie sehr große Kuhfladen. Dennoch ist es ein seltsam kribbelndes Gefühl, einen lebenden Überrest aus der Zeit vor 3,5 Milliarden Jahren vor sich zu haben. Oder, wie Richard Fortey es formulierte: »Das ist eine wirkliche Zeitreise, und wenn die Welt ein Gespür für ihre echten Wunder hätte, wäre dies eine ebenso berühmte Sehenswürdigkeit wie die Pyramiden von Giseh, trotz ihrer bescheidenen Dimensionen.«28 Auch wenn man es nicht vermuten würde, wimmelt es in diesen langweiligen Gesteinsbrocken von Leben – nach Schätzungen (dass es sich nur um Schätzungen handeln kann, liegt auf der Hand) enthält jeder Quadratmeter rund dreieinhalb Milliarden Einzelorganismen. Wenn man genau hinsieht, erkennt man manchmal Reihen winziger Blasen, die zur Oberfläche aufsteigen, weil die Lebewesen ihren Sauerstoff abgeben. Im Laufe von zwei Milliarden Jahren ließen solche winzigen Ausscheidungen den Sauerstoffgehalt der Erdatmosphäre auf 20 Prozent anwachsen, und damit war der Weg frei für das nächste, kompliziertere Kapitel in der Geschichte des Lebendigen.

Manchen Vermutungen zufolge machen die Cyanobakterien in der Shark Bay von allen Lebewesen auf der Erde die langsamste Evolution durch,29 und mit Sicherheit gehören sie heute zu den ausgefallensten Lebensformen. Nachdem sie den Weg zu den komplexeren Lebensformen geebnet hatten, wurden sie fast überall von jenen, deren Existenz sie erst ermöglicht hatten, ausgerottet. (In der Shark Bay sind sie erhalten geblieben, weil das Wasser hier für Organismen, die sich normalerweise von ihnen ernähren würden, zu viel Salz enthält.)

Dass das Leben erst nach so langer Zeit kompliziertere Formen hervorbrachte, lag unter anderem daran, dass einfachere Organismen die Atmosphäre zunächst ausreichend mit Sauerstoff anreichern mussten. Zuvor, so Fortey, konnten Tiere nicht genügend Energie für ihre Tätigkeiten gewinnen.30 Zwei Milliarden Jahre oder rund 40 Prozent der Erdgeschichte mussten vergehen, bevor die Atmosphäre mehr oder weniger ihren heutigen Sauerstoffgehalt hatte. Nachdem aber auf diese Weise die Voraussetzungen geschaffen waren, entstand offenbar recht plötzlich ein ganz neuer Typ von Zellen mit einem Zellkern und anderen kleinen Körperchen, die man zusammenfassend als Organellen bezeichnet (von dem griechischen Wort für »kleine Werkzeuge«). Ihre Entstehung begann nach heutiger Kenntnis damit, dass ein tollkühnes oder abenteuerlustiges Bakterium entweder in ein anderes Bakterium einwanderte oder ein anderes in sich aufnahm, wobei sich anschließend herausstellte, dass beide einen Nutzen davon hatten. Nach dieser Vorstellung wurde das eingefangene Bakterium schließlich zu einem Mitochondrium. Die Einwanderung der Mitochondrien (oder der Beginn der Endosymbiose, wie die Biologen es gern nennen) machte kompliziertere Lebensformen möglich. (Bei Pflanzen entstanden durch einen ganz ähnlichen Vorgang die Chloroplasten, in denen die Photosynthese abläuft.)

Die Mitochondrien verwerten den Sauerstoff so, dass sie aus Nährstoffen die Energie gewinnen können. Ohne diesen raffinierten Kunstgriff wäre das Leben auf der Erde noch heute nur ein Schleim aus einfachen Mikroorganismen.31 Mitochondrien sind winzig – eine Milliarde von ihnen könnte man in einem einzigen Sandkorn unterbringen –, aber auch sehr hungrig.32 Fast alles, was wir zu uns nehmen, dient ihrer Ernährung.

Ohne sie würden wir keine zwei Minuten überleben, aber selbst nach einer Milliarde Jahren verhalten die Mitochondrien sich noch so, als stünde zwischen ihnen und uns nicht alles zum Besten. Nach wie vor besitzen sie ihre eigene DNA. Sie vermehren sich zu anderen Zeitpunkten als ihre Wirtszelle. Sie sehen aus wie Bakterien, teilen sich wie Bakterien und sprechen manchmal auch wie Bakterien auf Antibiotika an. Kurz gesagt, halten sie ihre Siebensachen zusammen. Sie sprechen noch nicht einmal die gleiche genetische Sprache wie die Zelle, in der sie leben. Es ist, als hätte man einen Fremden im Haus, der allerdings schon seit einer Milliarde Jahren zu Besuch ist.

Diese neuartigen Zellen bezeichnet man allgemein als Eukaryonten (»Zellen mit einem echten Zellkern«), im Gegensatz zu dem älteren Typus, der unter dem Namen Prokaryonten (»vor dem Zellkern«) bekannt ist. In den Fossilfunden tauchen Eukaryonten recht plötzlich auf. Die ältesten Zellen dieses Typs, Grypania genannt, wurden 1992 in Eisensedimenten in Michigan entdeckt. Es war der einzige Fossilfund dieser Art, danach kommen über 500 Millionen Jahre lang keine weiteren mehr.33

Im Vergleich zu den neuen Eukaryonten waren die alten Prokaryonten eigentlich nur »Beutel voller Chemikalien«, wie der Geologe Stephen Drury es formulierte.34 Die Eukaryonten waren größer – am Ende um das 10.000-fache – als ihre einfachen Vettern und trugen auch bis zu 1.000-mal mehr DNA in sich. Allmählich entwickelte sich ein System, in dem zwei Grundtypen vorherrschten: Lebewesen, die Sauerstoff abgeben (unter anderem die Pflanzen) und solche, die ihn aufnehmen (du und ich).

Die einzelligen Eukaryonten bezeichnete man früher als Protozoen (»Vor-Tiere«), aber dieser Begriff wird zunehmend abgelehnt. Heute nennt man sie allgemein Protisten. Im Vergleich zu den Bakterien aus der Zeit davor waren die neuen Protisten wahre Wunder der Konstruktion und Raffinesse. Die einfache Amöbe, die nur aus einer einzigen Zelle besteht und keinen anderen Ehrgeiz hat, als nur da zu sein, enthält in ihrer DNA 400 Millionen Bits an genetischer Information – genug, wie Carl Sagan feststellt, um 80 Bücher mit je 500 Seiten zu füllen.35

Schließlich lernten die Eukaryonten noch ein weiteres einzigartiges Kunststück. Die Entwicklung dauerte lange – rund eine Milliarde Jahre –, erwies sich aber am Ende als äußerst nützlich. Sie lernten, sich zu komplizierteren, vielzelligen Lebewesen zusammenzulagern. Erst durch diese Neuerung wurden große, komplex gebaute, mit bloßem Auge sichtbare Organismen wie wir möglich. Der Planet Erde war bereit, in die nächste, ehrgeizige Phase einzutreten.

Bevor wir uns darüber aber zu sehr freuen, sollten wir daran denken, dass die Welt auch heute noch eigentlich dem sehr Kleinen gehört. Mehr darüber in Kürze.

* In Wirklichkeit kennt man auf der Erde 22 natürlich vorkommende Aminosäuren, und viele weitere sind noch nicht entdeckt, aber damit wir und die meisten anderen Lebewesen entstehen können, sind nur 20 von ihnen notwendig. Die 22., Pyrrolysin genannt, wurde 2002 von Wissenschaftlern an der Ohio State University entdeckt und kommt nur bei Methanosarcina bakeri vor, einer Art der Archaea (mit diesen einfachen Lebensformen werden wir uns in Kürze noch genauer befassen). zurück