10.
Weg mit dem Blei!

Ende der vierziger Jahre des 20. Jahrhunderts wollte Clair Patterson, ein Doktorand der Universität von Chicago (der trotz seines Vornamens ein Farmersohn aus Iowa war) mit einer neuen Methode der Bleiisotopenmessung endlich herausfinden, wie alt die Erde wirklich ist. Leider war sein Probenmaterial ausnahmslos verunreinigt – und zwar meist sehr stark. In der Regel enthielt es das Zweihundertfache der Bleimenge, mit der man normalerweise rechnen würde. Es mussten noch viele Jahre vergehen, bevor Patterson erkannte, dass die Ursache bei einem unglückseligen Erfinder aus Ohio namens Thomas Midgley jun. lag.

Midgley war von seiner Ausbildung her Ingenieur und die Welt wäre zweifellos sicherer, wenn er bei diesem Beruf geblieben wäre. Stattdessen erwachte bei ihm aber ein Interesse an den industriellen Anwendungsmöglichkeiten der Chemie. Im Jahr 1921 – er arbeitete damals bei der General Motors Research Corporation in Dayton, Ohio – beschäftigte er sich mit einer Verbindung namens Tetraethylblei (zur allgemeinen Verwirrung häufig auch Bleitetraethyl genannt). Dabei entdeckte er, dass diese Substanz bei Automotoren die Geräusche, die man meist als Klopfen bezeichnet, erheblich vermindert.

Zwar war allgemein bekannt, dass Blei gefährlich ist, in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts war es aber dennoch in allen möglichen Konsumprodukten zu finden. Lebensmittel verpackte man in Konservendosen, die mit Bleilot verschlossen waren. Wasser wurde häufig in Tanks mit Bleiauskleidung aufbewahrt. In Form von Bleiarsenid sprühte man es als Pestizid auf Früchte. Sogar in Zahnpastatuben war es enthalten. Es gab kaum ein Produkt, das zum Leben der Konsumenten nicht ein wenig Blei beisteuerte. Den stärksten und dauerhaftesten Kontakt verursachte es jedoch als Beimischung zum Benzin.

Blei ist ein Nervengift. Nimmt man zu viel davon auf, kann es in Gehirn und Zentralnervensystem irreparable Schäden anrichten. Zu den vielen Symptomen einer solchen Bleivergiftung gehören Blindheit, Schlaflosigkeit, Nierenversagen, Gehörschäden, Krebs, Lähmungserscheinungen und Krampfanfälle.1 In ihrer schwersten Form ist sie mit plötzlichen, beängstigenden Halluzinationen verbunden, die bei Betroffenen und Außen stehenden gleichermaßen Entsetzen auslösen; als Nächstes folgen in der Regel Koma und Tod. Eine zu große Bleimenge im Körper gilt es also unbedingt zu vermeiden.

Andererseits war Blei so einfach zu gewinnen und zu verarbeiten, dass seine industrielle Produktion geradezu peinlich hohe Gewinne abwarf – und Tetraethylblei verhinderte bei den Motoren das Klopfen. Deshalb gründeten drei der größten amerikanischen Industriekonzerne – General Motors, Du Pont und Standard Oil of New Jersey – im Jahr 1923 ein Gemeinschaftsunternehmen namens Ethyl Gasoline Corporation (der Name wurde später zu Ethyl Corporation verkürzt). Sein Ziel war es, so viel Tetraethylblei zu produzieren, wie auf dem Weltmarkt abzusetzen war, und wie sich herausstellte, war das eine gewaltige Menge. Den Zusatzstoff nannten sie »Ethyl«, weil das freundlicher und weniger giftig klang als »Blei«. Am 1. Februar 1923 wurde es zum allgemeinen Verbrauch auf den Markt gebracht (und das auf mehr Wegen, als die meisten Menschen wussten).

Bei den Arbeitern in der Produktion waren schon kurz darauf der stolpernde Gang und die anderen Beeinträchtigungen zu erkennen, die für den akuten Vergiftungszustand charakteristisch sind. Außerdem verfolgte die Ethyl Corporation fast von Anfang an eine Strategie des leisen, aber beharrlichen Leugnens, die ihr jahrzehntelang großen Nutzen bringen sollte. Wie Sharon Bertsch McGrayne in ihrer fesselnden Geschichte der industriellen Chemie unter dem Titel Prometheans in the Lab berichtet, litten die Arbeiter in einer Fabrik an unheilbaren Wahnvorstellungen; daraufhin erklärte ein Firmensprecher den Journalisten unverfroren: »Diese Leute sind vermutlich verrückt geworden, weil sie zu hart gearbeitet haben.«2 Insgesamt kamen mindestens 15 Arbeiter in der Anfangszeit der Produktion verbleiten Benzins ums Leben, und unzählige andere erkrankten, in vielen Fällen sehr schwer; die genauen Zahlen sind nicht bekannt, weil es der Firma fast immer gelang, Nachrichten über peinliche Lecks, Freisetzungen und Vergiftungen zu vertuschen. Hin und wieder jedoch war es nicht mehr möglich, solche Informationen zu unterdrücken, insbesondere als 1924 in einer einzigen schlecht belüfteten Anlage innerhalb weniger Tage fünf Produktionsarbeiter starben und 35 weitere sich in stolpernde menschliche Wracks verwandelten.

Als immer mehr Gerüchte über die Gefahren des neuen Produkts die Runde machten, setzte Thomas Midgley, der redselige Erfinder des Ethyls, eine Vorführung für Journalisten an, um ihre Bedenken zu zerstreuen. Während er fröhlich über die Sicherheitsvorkehrungen in der Firma schwatzte, schüttete er sich Tetraethylblei über die Hände, hielt sich dann ein Gefäß mit der Substanz eine volle Minute lang unter die Nase und behauptete unermüdlich, dies könne er ohne Schaden jeden Tag tun. In Wirklichkeit wusste Midgley nur allzu gut über die Gefahren der Bleivergiftung Bescheid.3 Er war selbst nur wenige Monate zuvor ernsthaft daran erkrankt, und auch jetzt begab er sich möglichst nicht in die Nähe der Substanz, außer wenn er Journalisten beruhigen wollte.

Durch den Erfolg des verbleiten Benzins beflügelt, wandte sich Midgley nun einem anderen technischen Problem seiner Zeit zu. Die Benutzung von Kühlschränken war in den zwanziger Jahren vielfach entsetzlich riskant, denn in ihnen befanden sich gefährliche Gase, die manchmal austraten. Durch ein solches Leck in einem Kühlschrank kamen 1929 in einem Krankenhaus in Cleveland, Ohio, über 100 Menschen ums Leben.4 Midgley wollte ein Gas herstellen, das stabil, unbrennbar, nicht ätzend und beim Einatmen ungefährlich war. Mit einem fast gespenstischen Instinkt für gefährliche Dinge erfand er die Fluorchlorkohlenwasserstoffe, kurz FCKWs genannt.

Nur selten hat sich ein Industrieprodukt so schnell allgemein durchgesetzt, und das mit so unglückseligen Folgen. FCKWs wurden seit Anfang der dreißiger Jahre produziert und fanden tausenderlei Anwendungsmöglichkeiten, von Auto-Klimaanlagen bis zu Spraydosen. Erst ein halbes Jahrhundert später erkannte man, dass sie das Ozon in der Stratosphäre zerstören. Und das ist, wie mittlerweile wohl jeder weiß, wirklich schlimm.

Ozon ist eine besondere Form des Sauerstoffs, bei der jedes Molekül nicht nur zwei, sondern drei Atome enthält. Es stellt in gewisser Weise eine chemische Kuriosität dar: Am Erdboden ist es ein Giftstoff, hoch oben in der Stratosphäre jedoch hat es eine sehr nützliche Wirkung, denn es schirmt die gefährliche ultraviolette Strahlung ab. Aber dieses nützliche Ozon ist nur in relativ geringer Menge vorhanden. Gleichmäßig in der gesamten Stratosphäre verteilt, würde es nur eine Schicht von ungefähr drei Millimetern Dicke bilden. Das ist der Grund, warum es so leicht zu beeinträchtigen ist und warum solche Beeinträchtigungen so schnell lebensgefährlich werden.

Auch die Menge der Fluorchlorkohlenwasserstoffe ist nicht sonderlich groß – in der gesamten Atmosphäre machen sie nur einen unter einer Milliarde Teilen aus –, aber sie wirken außerordentlich zerstörerisch. Ein Kilo FCKWs kann mehrere tausend Kilo Ozon aus der Atmosphäre einfangen und vernichten.5 Außerdem bleiben die FCKWs sehr lange erhalten – im Durchschnitt 100 Jahre – und vollbringen während dieser ganzen Zeit ihr zerstörerisches Werk. Zusätzlich saugen sie wie ein Schwamm die Wärme auf. Ein einziges FCKW-Molekül trägt ungefähr zehntausendmal stärker zum Treibhauseffekt bei als ein Molekül Kohlendioxid – und auch das Kohlendioxid ist als Treibhausgas ja nicht gerade von schlechten Eltern.6 Kurz gesagt, könnten sich die Fluorchlorkohlenwasserstoffe letztlich als schlimmste Erfindung des 20. Jahrhunderts erweisen.

Midgley erfuhr davon nie etwas: Er starb lange bevor irgendjemandem klar wurde, wie zerstörerisch die FCKWs wirken. Auch sein Tod blieb durch seine ungewöhnlichen Umstände in Erinnerung.7 Nachdem eine Kinderlähmung bei Midgley eine dauerhafte Behinderung zurückgelassen hatte, entwickelte er einen Apparat mit einer Reihe motorgetriebener Flaschenzügen, der ihn im Bett automatisch anhob oder herumdrehte. Im Jahr 1944 verfing er sich in den Seilen, als die Maschine zu arbeiten begann, und wurde erdrosselt.

Wer wissen wollte, wie alt die verschiedensten Dinge sind, für den war die Universität Chicago in den vierziger Jahren die richtige Adresse. Willard Libby erfand dort gerade die Radiokarbondatierung, mit deren Hilfe man das Alter von Knochen und anderen organischen Überresten genau ermitteln konnte, was zuvor niemals möglich gewesen war. Vor jener Zeit reichten die ältesten zuverlässigen Datierungen nur bis zur ersten Dynastie in Ägypten zurück, das heißt bis ungefähr 3000 v. Chr..8 So konnte beispielsweise niemand stichhaltige Angaben darüber machen, wann sich das Eis der letzten Eiszeit zurückgezogen hatte oder zu welcher Zeit in der Vergangenheit die Cromagnon-Menschen die Höhle von Lascaux in Frankreich ausgemalt hatten.

Libbys Idee war so nützlich, dass er 1960 dafür den Nobelpreis erhielt. Ihre Grundlage war die Erkenntnis, dass alle Lebewesen ein Kohlenstoffisotop namens Kohlenstoff-14 enthalten, das vom Augenblick ihres Todes an mit einer messbaren Geschwindigkeit zerfällt. Die Halbwertszeit – das heißt, die Zeit, bis die Hälfte der anfänglichen Menge verschwunden ist* – liegt für den Kohlenstoff-14 bei rund 5600 Jahren. Libby ermittelte nun genau, welcher Anteil des Kohlenstoffs in einer Probe bereits zerfallen war, und konnte damit stichhaltige Angaben über das Alter des Gegenstandes machen. Allerdings funktioniert das nur bis zu einer gewissen Grenze: Nach der achtfachen Halbwertszeit ist nur noch 1/256 des ursprünglichen radioaktiven Kohlenstoffs vorhanden9 – so wenig, dass man keine zuverlässigen Messungen mehr anstellen kann. Die Radiokarbondatierung eignet sich also nur für Objekte mit einem Alter von bis zu 40000 Jahren.

Aber gerade als die Methode sich allgemein durchsetzte, zeigten sich seltsamerweise auch gewisse Schwachpunkte. Zunächst einmal entdeckte man, dass eines der Grundelemente in Libbys Formel, die so genannte Zerfallskonstante, mit einem Fehler von rund drei Prozent behaftet war. Zu jener Zeit hatte man aber auf der ganzen Welt schon Tausende von Messungen vorgenommen. Statt nun jede einzelne zu korrigieren, entschlossen sich die Fachleute, die ungenaue Konstante beizubehalten. Deshalb, so merkt Tim Flannery an, »ist jede Rohdatierung mit der Radiokarbonmethode, über die man heute liest, um ungefähr drei Prozent zu jung«.10 Aber damit waren die Probleme noch nicht zu Ende. Wie man fast ebenso schnell herausfand, wird Material mit Kohlenstoff-14 leicht durch Kohlenstoff anderer Herkunft verunreinigt, beispielsweise durch winzige Pflanzenteile, die man mit einem Fund geborgen und nicht bemerkt hat.

Bei jüngeren Proben, deren Alter weniger als ungefähr 20000 Jahre beträgt, sind solche Verunreinigungen oft nicht weiter von Bedeutung, aber bei älterem Material kann sie zu Schwierigkeiten führen, weil man nur noch wenige verbliebene Atome zum Zählen hat. Um noch einmal Flannery zu zitieren: Im ersten Fall ist es so, als ob man 1000 Dollar hat und sich um einen Dollar verzählt; im zweiten hat man nur zwei Dollar und verzählt sich um einen.11

Außerdem gründete sich Libbys Methode auf die Annahme, dass sowohl die Menge des Kohlenstoffs-14 in der Atmosphäre als auch die Geschwindigkeit, mit der das Isotop von den Lebewesen aufgenommen wird, während der gesamten Erdgeschichte gleich geblieben sind. In Wirklichkeit war das aber nicht der Fall. Heute wissen wir, dass das Volumen des Kohlenstoffs-14 in der Atmosphäre schwankt, je nachdem, wie gut das Magnetfeld der Erde die kosmische Strahlung zurückwirft – und dieser Wert kann über längere Zeiträume beträchtlich schwanken. Demnach sind manche Kohlenstoff-14-Datierungen zweifelhafter als andere. Insbesondere gilt das gerade für die Zeit, in der die ersten Menschen nach Amerika kamen, und dies ist einer der Gründe, warum das Thema schon seit langen Jahren umstritten ist.12

Schließlich – und das ist vielleicht ein wenig überraschend – können die Werte auch durch äußere Faktoren, die auf den ersten Blick scheinbar nichts damit zu tun haben, über den Haufen geworfen werden, beispielsweise durch die Ernährung der Lebewesen, deren Knochen man untersucht. In einem Fall aus jüngerer Zeit ging es um die alte Debatte, ob die Syphilis in der Neuen oder in der Alten Welt entstanden ist.13 Archäologen in der nordenglischen Stadt Hull fanden heraus, dass die Mönche auf dem Friedhof eines Klosters an Syphilis gelitten hatten, aber die anfängliche Schlussfolgerung, die Krankheit sei schon vor Columbus’ Reise ausgebrochen, wurde später angezweifelt: Die Mönche hatten nämlich viel Fisch gegessen, und deshalb wirkten die Knochen älter, als sie wirklich waren. Die Mönche dürften tatsächlich Syphilis gehabt haben, aber wie sie sich die Krankheit zuzogen, bleibt ein ungelöstes Rätsel.

Wegen der vielen Schwächen der Radiokarbonmethode entwickelte man andere Verfahren zur Datierung alter Funde, unter anderem die Thermolumineszenz, bei der man die im Ton eingefangenen Elektronen misst, und die Elektronenspinresonanz, bei der man das Material mit elektromagnetischen Wellen bombardiert und die dadurch ausgelösten Schwingungen der Elektronen misst. Aber auch mit den besten derartigen Verfahren kann man keine Altersbestimmung vornehmen, wenn das Material aus einer Zeit vor mehr als 200000 Jahren stammt, und ebenso lassen sich damit keine anorganischen Substanzen wie beispielsweise Gestein datieren. Genau das wäre aber natürlich nötig, wenn man Genaueres über das Alter unseres Planeten wissen möchte.

Die Datierung von Gestein bereitete so große Schwierigkeiten dass irgendwann fast alle Fachleute das Thema aufgegeben hatten. Hätte es in England nicht einen wild entschlossenen Professor namens Arthur Holmes gegeben, wäre die Frage vielleicht bis heute in der Schwebe geblieben.

Zum Helden wurde Holmes sowohl wegen der Hindernisse, die er überwand, als auch wegen der dabei erzielten Befunde. In den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als er sich auf dem Höhepunkt seiner Berufslaufbahn befand, war die Geologie aus der Mode – die aufregendste Wissenschaft jener Zeit war die Physik –, und entsprechend litten die Geologen insbesondere in Großbritannien, ihrem geistigen Ursprungsland, stark unter einem Mangel an Forschungsmitteln. An der Universität Durham bestand das gesamte geologische Institut jahrelang ausschließlich aus Holmes. Um seine radiometrischen Gesteinsdatierungen fortzuführen, musste er sich häufig Ausrüstungsgegenstände leihen oder selbst zusammenbauen. Irgendwann kamen seine Berechnungen ein volles Jahr lang praktisch zum Stillstand, weil er darauf warten musste, dass die Universität ihm eine einfache Addiermaschine zur Verfügung stellte. Hin und wieder musste er dem akademischen Leben sogar ganz den Rücken kehren, um Geld für die Ernährung seiner Familie zu verdienen – eine Zeit lang betrieb er in Newcastle upon Tyne ein Kuriositätengeschäft –, und manchmal konnte er sich nicht einmal den Jahresbeitrag von fünf Pfund für die Mitgliedschaft in der Geological Society leisten.

Die Methode, deren Holmes sich in seinen Arbeiten bediente, war theoretisch einfach und ergab sich unmittelbar aus einem Vorgang, den Ernest Rutherford 1914 zum ersten Mal beobachtet hatte: Manche Atome zerfallen und verwandeln sich dabei in andere Elemente, und das mit einer so konstanten Geschwindigkeit, dass man sie als Uhr verwenden kann. Wenn man weiß, wie lange es dauert, bis Kalium-40 zu Argon-40 geworden ist, und wenn man dann die Menge beider Elemente in einer Materialprobe misst, kann man daraus das Alter der Probe ableiten. Holmes’ Leistung bestand darin, dass er den Zerfall von Uran zu Blei verfolgte, um daraus das Alter des Gesteins und – so hoffte er – auch das Alter der Erde zu berechnen.

In der Praxis waren aber viele technische Schwierigkeiten zu überwinden. Eigentlich brauchte Holmes hoch entwickelte Instrumente, mit denen er an winzigen Materialproben sehr genaue Messungen vornehmen konnte – oder zumindest hätte er solche Instrumente sehr zu schätzen gewusst. Wie bereits erwähnt wurde, stand ihm aber in Wirklichkeit nur eine einfache Addiermaschine zur Verfügung. Deshalb war es eine beträchtliche Leistung, als er 1946 mit einem gewissen Selbstvertrauen bekannt geben konnte, die Erde sei mindestens drei Milliarden Jahre alt, möglicherweise aber auch noch viel älter. Leider stand seiner Anerkennung aber nun ein anderes ansehnliches Hindernis im Weg: die konservative Einstellung seiner Wissenschaftlerkollegen.14 Zwar lobten alle begeistert seine neue Methode, viele behaupteten aber, er habe nicht das Alter der Erde ermittelt, sondern nur das Alter des Materials, aus dem sich die Erde gebildet hatte.

Genau zur gleichen Zeit entwickelte Harrison Brown an der Universität Chicago ein neues Verfahren, um die Menge von Bleiisotopen in Vulkangestein zu bestimmen (das heißt in Gestein, das durch Erhitzen entstanden ist und nicht durch die Ablagerung von Sedimenten). Als er erkannte, dass die Arbeiten sich sehr lange hinziehen würden, übertrug er sie dem jungen Clair Patterson als Thema für seine Doktorarbeit. Dabei machte er seinem Studenten eine berühmte Versprechung: Die Altersbestimmung der Erde mit seiner neuen Methode werde »ein dicker Fisch« werden. In Wirklichkeit sollte sie noch Jahre auf sich warten lassen.

Patterson begann 1948 mit der Arbeit an dem Projekt. Im Vergleich zu Thomas Midgleys buntscheckigen Beiträgen zum Fortschritt wirkt Pattersons Altersbestimmung der Erde in vielerlei Hinsicht wie ein Gegenpol. Sieben Jahre lang – zuerst an der Universität Chicago, dann am California Institute of Technology, an das er 1952 wechselte – stellte er in einem keimfreien Labor an sorgfältig ausgewählten alten Gesteinsproben sehr genaue Messungen des Verhältnisses von Blei zu Uran an.

Wenn man das Alter der Erde ermitteln will, stellt sich das Problem, dass man sehr altes Gestein braucht: Es muss blei- und uranhaltige Kristalle enthalten, die ungefähr so alt sind wie unser Planet selbst – alles, was jünger ist, würde natürlich zu einer zu geringen Schätzung des Alters führen. Derart alte Gesteine findet man aber auf der Erde nur an wenigen Stellen. Warum das so war, verstand Ende der vierziger Jahre niemand so ganz. Erstaunlich, aber wahr: Das Weltraumzeitalter war längst angebrochen, als zum ersten Mal jemand plausibel erklären konnte, wo das ganze alte Gestein der Erde geblieben war. (Die Antwort liegt in der Plattentektonik, auf die wir natürlich noch zu sprechen kommen werden.) Vorerst musste Patterson mit sehr begrenztem Material versuchen, sinnvolle Erklärungen zu finden. Schließlich kam er auf den genialen Gedanken, den Mangel an geeignetem Gestein zu umgehen, indem er auf Steine von außerhalb der Erde zurückgriff: Er beschäftigte sich mit Meteoriten.

Dabei ging er von einer Annahme aus, die damals kühn war, sich später aber als richtig erwies: Viele Meteoriten sind übrig gebliebene Bausteine aus der Frühzeit des Sonnensystems, in denen eine mehr oder weniger urtümliche chemische Zusammensetzung erhalten geblieben ist. Man brauchte nur das Alter dieser wandernden Gesteinsproben zu messen, dann kannte man auch (wenigstens annähernd) das Alter der Erde.

Natürlich war die Sache in Wirklichkeit wieder einmal nicht so einfach, wie sie sich in einer solch flotten Beschreibung anhört. Meteoriten sind nicht gerade häufig, und Proben davon in die Hand zu bekommen, ist alles andere als einfach. Außerdem erwies sich Browns Messverfahren als überaus knifflig und stark verbesserungsbedürftig. Das Hauptproblem aber bestand darin, dass Pattersons Materialproben ausnahmslos und unberechenbar stark mit großen Bleimengen aus der Atmosphäre verunreinigt wurden, sobald man sie der Luft aussetzte. Das war der Grund, warum er ein steriles Labor einrichtete, zumindest einem Bericht zufolge das erste der Welt.15

Sieben Jahre geduldiger Arbeit waren nötig, bis Patterson auch nur die geeigneten Materialproben für eine letzte Untersuchung zusammengestellt hatte. Im Frühjahr 1993 reiste er zum Argonne National Laboratory in Illinois, wo er eine gewisse Zeit lang einen Massenspektrographen neuester Bauart benutzen durfte, ein Gerät, mit dem man winzige, in alten Kristallen eingeschlossene Mengen von Uran und Blei nachweisen und vermessen konnte. Als er endlich seine Ergebnisse in der Hand hatte, war Patterson so aufgeregt, dass er geradewegs in sein Elternhaus nach Iowa fuhr; dort brachte seine Mutter ihn ins Krankenhaus, weil sie dachte, er hätte einen Herzinfarkt.

Wenig später nannte Patterson auf einer Tagung in Wisconsin ein definitives Alter für die Erde: 4550 Millionen Jahre (plus oder minus 70 Millionen Jahre) – »eine Zahl, die sich auch 50 Jahre später noch nicht verändert hat«, wie McGrayne bewundernd anmerkt.16 Nach 100 Jahren vergeblicher Versuche kannte man endlich das Alter der Erde.

Nachdem das Wichtigste erledigt war, wandte Patterson seine Aufmerksamkeit der drängenden Frage nach dem vielen Blei in der Atmosphäre zu. Wie er zu seiner Überraschung feststellen musste, war das Wenige, was man über die Wirkung von Blei auf den Menschen wusste, falsch oder zumindest irreführend – was aber auch nicht verwunderlich war, denn seit 40 Jahren waren alle Untersuchungen über die Wirkungen des Bleis ausschließlich durch die Hersteller von Bleizusatzstoffen finanziert worden.

In einer solchen Untersuchung ließ ein Arzt, der keine besondere Ausbildung in chemischer Pathologie besaß, Freiwillige im Rahmen eines fünfjährigen Programms erhöhte Bleimengen einatmen oder schlucken.17 Anschließend wurden Urin und Stuhl untersucht. Was der Arzt aber anscheinend nicht wusste: Blei wird vom Körper nicht ausgeschieden, sondern es sammelt sich in Knochen und Blut an – deshalb ist es so gefährlich. An Knochen und Blut wurden aber keine Messungen vorgenommen, und deshalb stellte man dem Blei fälschlicherweise einen gesundheitlichen Persilschein aus.

Wie Patterson sehr schnell nachweisen konnte, enthielt die Atmosphäre eine Menge Blei – das ist auch heute noch so, denn Blei verschwindet nie –, und rund 90 Prozent davon stammten offensichtlich aus den Auspuffrohren von Autos.18 Beweisen konnte er das aber nicht. Dazu brauchte er eine Methode, um die Bleimengen in der Atmosphäre seiner Zeit mit der vor 1923 zu vergleichen, als das Tetraethylblei eingeführt wurde. Ihm kam die Idee, die Lösung könne in Eisbohrkernen liegen.

Wie man bereits wusste, sammelt sich der Schnee in Grönland und anderen Gebieten in Form abgegrenzter jährlicher Schichten an (weil die jahreszeitlichen Temperaturunterschiede im Winter und Sommer zu geringfügigen Farbveränderungen führen). Wenn man sich durch diese Schichten in die Vergangenheit vorarbeitet und in jeder davon den Bleigehalt misst, kann man die weltweite Bleikonzentration für jeden Zeitpunkt der letzten Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende feststellen. Dieser Gedanke wurde zur Grundlage der Untersuchung von Eisbohrkernen und damit zu einem wichtigen Fundament der modernen klimatologischen Forschung.19

Nach Pattersons Befunden enthielt die Atmosphäre vor 1923 fast überhaupt kein Blei, und seit jener Zeit war die Bleikonzentration stetig bis auf gefährliche Werte angestiegen. Jetzt machte er es sich zum Lebensziel, das Blei aus dem Benzin zu verbannen. Zu diesem Zweck wurde er zu einem ständigen, häufig sehr lautstarken Kritiker der Bleiindustrie und ihrer Interessenvertreter.

Der Feldzug sollte zur Hölle werden. Die Ethyl Corporation war ein mächtiger multinationaler Konzern und hatte zahlreiche hoch gestellte Freunde. (Unter ihren Direktoren waren der Richter am Obersten US-Gerichtshof Lewis Powell und Gilbert Grosvenor von der National Geographie Society.) Patterson musste plötzlich feststellen, dass ihm Forschungsmittel entzogen wurden und neues Geld kaum zu bekommen war. Das American Petroleum Institute kündigte ein Forschungsabkommen, das es mit ihm geschlossen hatte, und das Gleiche tat auch die Bundesgesundheitsbehörde der USA, eine angeblich neutrale staatliche Organisation.

Als Patterson für das California Institute of Technology immer mehr zur Belastung wurde, übten führende Vertreter der Bleiindustrie mehrfach Druck auf die Gremien der Hochschule aus, damit sie ihn entweder zum Schweigen brachten oder hinauswarfen. Nach einem Bericht von Jamie Lincoln Kitman, der 2000 in Nation erschien, sollen Manager der Ethyl Corporation dem Caltech die Finanzierung eines ganzen Lehrstuhls angeboten haben, »wenn Patterson seine Koffer packen muss«.20 Absurd, aber wahr: 1971 schloss man ihn beim National Research Council aus einem Gremium aus, das die Gefahren der Luftverschmutzung durch Blei untersuchen sollte. Und das, obwohl er mittlerweile unumstritten der führende Experte auf diesem Gebiet war.

Es gereicht Patterson zur Ehre, dass er nie schwankend wurde oder klein beigab. Seine Bemühungen führten schließlich dazu, dass 1970 der Clean Air Act mit strengeren Abgasvorschriften in Kraft trat, und 1986 wurde der Verkauf verbleiten Benzins in den Vereinigten Staaten völlig verboten. Daraufhin sank der Bleigehalt im Blut der Amerikaner fast sofort um 80 Prozent.21 Aber da Blei ewig erhalten bleibt, hat heute jeder Mensch 625mal mehr von dem Metall im Blut als vor hundert Jahren.22 Auch der Bleigehalt der Atmosphäre steigt immer noch ganz legal um rund 100000 Tonnen im Jahr – die Hauptverursacher sind Bergbau, Metallindustrie und produzierendes Gewerbe.23 Mittlerweile wurde Blei auch als Inhaltsstoff von Innenanstrichen verboten – »44 Jahre später als in Europa«, wie McGrayne anmerkt.24 Und was angesichts der starken Giftwirkung wirklich erstaunlich ist: Erst 1993 wurde Blei aus dem Lötzinn von Lebensmittelkonservendosen verbannt.

Der Ethyl Corporation geht es nach wie vor gut, auch wenn General Motors, Standard Oil und Du Pont heute keine Anteile an dem Unternehmen mehr besitzen (die verkauften sie 1962 an einen Konzern namens Albemarle Paper). Nach Angaben von McGrayne behauptete die Ethyl Corporation noch 2001, es sei »nicht wissenschaftlich bewiesen, dass verbleites Benzin eine Gefahr für Gesundheit oder Umwelt darstellt«.25 Auf ihrer Website wird das Blei – und auch Thomas Midgley – in der Firmengeschichte nicht erwähnt; es heißt dort nur, das ursprüngliche Produkt habe »eine gewisse Kombination chemischer Verbindungen« enthalten.

Die Ethyl Corporation stellt heute kein verbleites Benzin mehr her, aber nach dem Firmenbericht von 2001 brachte Tetraethylblei (oder TEL, wie es dort genannt wird) im Jahr 2000 immer noch einen Umsatz von 25,1 Millionen Dollar (bei einem Gesamtumsatz von 795 Millionen), im Vergleich zu 1999 (24,l Millionen) eine Steigerung, aber ein Rückgang gegenüber 1998, als es noch 117 Millionen waren. In dem Bericht erklärt das Unternehmen seine Entschlossenheit, »den durch TEL generierten Gewinn zu maximieren, während seine Anwendung auf der ganzen Welt weiter zurückgeht«. Das TEL wird von der Ethyl Corporation im Rahmen eines Abkommens mit der englischen Associated Octel vermarktet.

Wie steht es mit der zweiten Geißel, die Thomas Midgley uns hinterließ? Fluorchlorkohlenwasserstoffe wurden 1974 in den Vereinigten Staaten verboten, aber sie sind heimtückische kleine Teufel: Alles, was vorher in die Atmosphäre entlassen wurde (beispielsweise durch Deo- oder Haarspray), ist noch heute vorhanden und zerstört das Ozon, auch wenn wir die Verwendung längst eingestellt haben.26 Und was noch schlimmer ist: Auch heute gelangen jedes Jahr gewaltige FCKW-Mengen in die Atmosphäre.27 Nach Angaben von Wayne Biddle hat der Markt für diese Verbindungen nach wie vor ein Volumen von rund 27 Millionen Kilo im Wert von 1,5 Milliarden Dollar. Wer stellt sie her? Die Antwort: wir – das heißt, viele große Konzerne, die es in ihren Fabriken auf anderen Kontinenten produzieren. In Drittweltländern werden die FCKWs erst 2010 verboten.

Clair Patterson starb 1995. Einen Nobelpreis bekam er nicht für seine Arbeiten – das schaffen Geologen nie. Noch erstaunlicher aber ist, dass er für die stetigen, zunehmend selbstlosen Leistungen eines halben Jahrhunderts nicht einmal Ruhm oder auch nur sonderlich große Aufmerksamkeit erntete. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass er der einflussreichste Geologe des 20. Jahrhunderts war. Aber wer hat schon einmal den Namen Clair Patterson gehört? Die meisten Lehrbücher der Geologie erwähnen ihn nicht. Zwei kürzlich erschienene populärwissenschaftliche Bücher über die Altersbestimmung der Erde und ihre Geschichte schaffen es sogar, seinen Namen falsch zu schreiben.28 Und Anfang 2001 beging ein Rezensent eines dieser Bücher in der Fachzeitschrift Nature zusätzlich den Fehler, Patterson für eine Frau zu halten.29

Jedenfalls hat die Erde dank der Arbeiten von Clair Patterson seit 1953 ein allgemein anerkanntes Alter. Jetzt gab es nur noch ein Problem: Sie war älter als das Universum, in dem sie sich befand.

* Manch einer hat sich vielleicht schon gefragt, wie die Atome entscheiden, welche 50 Prozent sterben und welche 50 Prozent bis in die nächste Periode überleben. Die Antwort lautet: Die Halbwertszeit ist wirklich nur eine statistische Größe – eine Art Sterbetafel für Materieteilchen. Angenommen, wir haben eine Materialprobe mit einer Halbwertszeit von 30 Sekunden. Das heißt nicht, dass jedes Atom in der Probe genau 30, 60 oder 90 Sekunden oder einen anderen genau festgelegten Zeitraum überlebt. In Wirklichkeit wird die Lebensdauer jedes Atoms ausschließlich vom Zufall bestimmt, und sie hat nichts mit Vielfachen von 30 zu tun; das Atom kann in zwei Sekunden zerfallen oder auch noch Jahre, Jahrzehnte oder Jahrhunderte erhalten bleiben. Das weiß niemand. Wir können nur eines sagen: Insgesamt ist die Zerfallsgeschwindigkeit so, dass in der gesamten Probe innerhalb von 30 Sekunden die Hälfte der Atome verschwindet. Mit anderen Worten: Die 30 Sekunden sind ein Durchschnittswert, den man auf jede große Zahl von Atomen anwenden kann. Irgendjemand hat beispielsweise herausgefunden, dass die Zehn-Cent-Stücke in den Vereinigten Staaten eine Halbwertszeit von rund 30 Jahren haben. zurück