27.
Eiszeit

Ich hatte einen Traum,
und es war nicht nur ein Traum.
Die helle Sonne war erloschen,
und die Sterne Zogen verglimmend
im ewigen Raum dahin.

Byron, »Finsternis«

Im Jahr 1815 flog auf der indonesischen Insel Sumbawa ein hübscher, seit langem ruhender Berg namens Tambora in die Luft. Durch die Explosion und die nachfolgenden Flutwellen kamen 100.000 Menschen ums Leben. Es war der größte Vulkanausbruch seit 10.000 Jahren: Er hatte die 150-fache Gewalt des St.-Helens-Ausbruches, das ist gleichbedeutend mit 60.000 Hiroshima-Atombomben.

Nachrichten verbreiteten sich zu jener Zeit nicht übermäßig schnell. Die Londoner Times brachte sieben Monate nach dem Ereignis einen kleinen Bericht – es war eigentlich der Brief eines Kaufmanns.1 Bis dahin waren die Auswirkungen des Ausbruchs aber bereits zu spüren. Über 150 Kubikkilometer Rauch, Asche und grober Sand hatten sich in der Atmosphäre verteilt, verdunkelten die Sonne und sorgten auf der Erde für eine Abkühlung. Die Sonnenuntergänge sahen ungewöhnlich aus, waren aber von verschwommener Farbenpracht, ein Effekt, den der Künstler William Turner auf denkwürdige Weise festhielt. Der Maler war höchst zufrieden, aber die ganze Welt lag unter einem bedrückenden, dunklen Leichentuch. Diese tödliche Dämmerung inspirierte Byron zu den oben zitierten Zeilen.

Der Frühling blieb aus, und es wurde überhaupt nicht mehr warm.2 1816 wurde als »Jahr ohne Sommer« bekannt. Überall gab es Missernten. In Irland starben 65.000 Menschen durch eine Hungersnot und die damit einhergehende Typhusepidemie. In Neuengland bezeichnete man das Jahr allgemein als »Achtzehnhundert-Frier-dich-tot«. Noch im Juni herrschte morgens Frost, und fast nirgendwo keimten die Pflanzensamen. Das Vieh starb durch den Futtermangel oder musste vorzeitig geschlachtet werden. Es war in jeder Hinsicht ein entsetzliches Jahr – für die Bauern dürfte es mit ziemlicher Sicherheit das schlimmste der gesamten Neuzeit gewesen sein. Und doch sank die Temperatur weltweit nur um ungefähr ein Grad. Wie die Wissenschaftler noch erfahren sollten, ist der Thermostat der Erde ein äußerst empfindliches Instrument.

Das 19. Jahrhundert war ohnehin eine Kälteperiode. Schon seit rund 200 Jahren erlebten insbesondere Europa und Nordamerika eine »kleine Eiszeit«, wie sie genannt wurde, und das führte zu allen möglichen winterlichen Ereignissen, die heute meist nicht mehr möglich sind, wie Frostfeste auf der Themse oder Schlittschuhrennen auf holländischen Kanälen. Mit anderen Worten: Die Menschen waren innerlich auf die Kälte eingestellt. Deshalb sollte man es den Geologen des 19. Jahrhunderts vielleicht nachsehen, dass sie erst so spät erkannten, wie warm ihre Welt im Vergleich zu früheren Erdzeitaltern war und wie die Landschaft um sie herum ihre Form gewaltigen Gletschern verdankte, die selbst ein Frostfest vereitelt hätten.

Dass die Vergangenheit irgendetwas Seltsames hatte, wusste man. In Europa fand man überall unerklärliche Anomalien, beispielsweise Rentierknochen im warmen Südfrankreich oder riesige Felsblöcke, die an den unwahrscheinlichsten Stellen liegen geblieben waren. Häufig dachte man sich dafür fantasievolle, aber nicht unbedingt plausible Begründungen aus. So wollte der französische Naturforscher de Luc erklären, wieso Granitblöcke im Juragebirge hoch oben auf Kalksteinfelsen lagen: Vielleicht, so seine Vermutung, seien sie ja durch komprimierte Luft aus Höhlen dorthin geschleudert worden wie die Pfropfen aus einem Luftgewehr.3 Man kann solche Felsen auch als Irrläufer bezeichnen, aber dieser Begriff traf im 19. Jahrhundert eher auf die Theorien zu als auf die Steine selbst.

Nach einer Vermutung des großen britischen Geologen Arthur Hallam hätte James Hutton, der Vater der Geologie, nur in die Schweiz reisen müssen, dann hätte er sofort erkannt, was die charakteristischen Geländemerkmale bedeuten – die ausgehöhlten Täler, die glatt geschliffenen Streifen im Gestein, die auffälligen Schürflinien an Stellen, wo Blöcke abgestürzt waren, und all die anderen Spuren früherer Eisbedeckung.4 Leider reiste Hutton jedoch kaum. Aber obwohl ihm nur Berichte aus zweiter Hand zur Verfügung standen, lehnte er den Gedanken, Überschwemmungen könnten riesige Felsblöcke in 1000 Meter Höhe transportiert haben, rundweg ab – er betonte, schließlich könne alles Wasser der Welt einen Felsen nicht zum Schwimmen bringen. Stattdessen vertrat er als einer der Ersten die Ansicht, es müsse eine großflächige Vereisung gegeben haben. Leider entgingen seine Gedanken der allgemeinen Aufmerksamkeit, und die Naturforscher beharrten noch ein weiteres halbes Jahrhundert auf der Vorstellung, man könne die Kerben in den Felsen auf vorüberfahrende Pferdegespanne oder sogar auf Tritte mit Nagelstiefeln zurückführen.

Die örtlichen Bauern, die nicht durch wissenschaftliche Lehrmeinungen verdorben waren, wussten es besser. Der Naturforscher Jean de Charpentier berichtet, wie er 1834 mit einem Schweizer Holzfäller über Land wanderte. Die beiden unterhielten sich über die Felsen am Wegesrand.5 Der Holzfäller erklärte lakonisch, die Blöcke stammten vom Grimsel, einer Granitformation, die ein Stück entfernt war. Als ich ihn fragte, wie die Blöcke nach seiner Meinung an ihren jetzigen Ort gelangt seien, erwiderte er ohne Zögern: »Der Grimsel-Gletscher hat sie auf beiden Talseiten transportiert, denn dieser Gletscher erstreckte sich früher bis zu der Stadt Bern.«

Charpentier war entzückt. Er war selbst bereits zu der gleichen Einsicht gelangt, aber als er seine Gedanken bei wissenschaftlichen Tagungen äußerte, wurden sie als unsinnig abgetan. Zu Charpentiers engsten Freunden zählte Louis Agassiz, ein weiterer Schweizer Naturforscher, der sich die Theorie nach anfänglicher Skepsis ebenfalls zu Eigen machte und sie schließlich sogar fast für sich allein vereinnahmte.

Agassiz hatte in Paris bei Cuvier studiert und war jetzt Professor für Naturgeschichte an der Hochschule im schweizerischen Neuchâtel. Ein anderer Freund von Agassiz, der Botaniker Karl Schimper, prägte 1837 als Erster den Begriff »Eiszeit« und vertrat die Ansicht, es gebe stichhaltige Indizien, dass das Eis früher in einer dicken Schicht nicht nur die Schweizer Alpen bedeckt habe, sondern auch große Teile Europas, Asiens und Nordamerikas. Es war ein radikaler Gedanke. Schimper lieh Agassiz seine Notizen – was er sehr bald bereuen sollte, denn Agassiz heimste zunehmend das Verdienst für eine Theorie ein, die Schimper durchaus zu Recht für seine eigene hielt.6 Auch Charpentier wurde am Ende zu einem erbitterten Feind seines früheren Freundes. Alexander von Humboldt, ein weiterer Bekannter, dürfte Agassiz im Sinn gehabt haben, als er sagte, es gebe bei wissenschaftlichen Entdeckungen drei Stadien: Erst leugnen die anderen, dass es stimmt; dann leugnen sie, dass es wichtig ist; und schließlich schreiben sie das Verdienst dem Falschen zu.7

Jedenfalls machte Agassiz das Fachgebiet zu seiner Domäne. Um den Ablauf der Vereisung kennen zu lernen, begab er sich an alle möglichen Orte, tief in gefährliche Gletscherspalten und auf zerklüftete Alpengipfel; offensichtlich war ihm dabei in vielen Fällen nicht bewusst, dass er und seine Begleiter eine Erstbesteigung unternahmen.8 Aber mit seiner Theorie stieß Agassiz fast überall auf Ablehnung. Humboldt drängte ihn, zu den fossilen Fischen zurückzukehren, dem Arbeitsgebiet, auf dem er sich wirklich auskannte, und die verrückte Leidenschaft für das Eis aufzugeben. Aber Agassiz war in seine Idee vernarrt.

Noch weniger Unterstützung fand Agassiz mit seinen Vorstellungen in Großbritannien; dort hatten die meisten Naturforscher noch nie in ihrem Leben einen Gletscher gesehen, und deshalb begriffen sie vielfach überhaupt nicht, welche Zerstörungskraft eine große Eismasse besitzt. »Können Kerben und angeschliffene Flächen allein durch Eis entstehen?«, fragte Roderick Murchison auf einer Tagung mit ironischem Unterton – er stellte sich offensichtlich vor, die Felsen seien mit einer Art dünnem, glasartigem Raureif überzogen. Bis zu seinem Tod bekannte er sich offen zu seinem Unglauben gegenüber den »eisverrückten« Geologen, nach deren Ansicht Gletscher so viel bewirkt haben könnten. Die gleiche Meinung vertrat auch William Hopkins, Professor in Cambridge und führendes Mitglied der Geological Society: Er argumentierte, die Vorstellung vom Gesteinstransport durch Gletscher enthalte »so viele mechanische Absurditäten«, dass sie der Aufmerksamkeit seiner gelehrten Gesellschaft nicht wert sei.9

Aber Agassiz ließ sich nicht abschrecken: Er reiste unermüdlich herum und warb für seine Theorie. Im Jahr 1840 las er die Niederschrift eines Vortrages, den der große Charles Lyell in Glasgow bei einer Tagung der British Association for the Advancement of Science gehalten hatte; darin wurde Agassiz ganz offen angegriffen. Ein Jahr später verabschiedete die Geological Society of Edinburgh eine Resolution, in der sie einräumte, die Theorie habe zwar vielleicht etwas für sich, aber sie treffe sicherlich in keinem Punkt auf Schottland zu.

Lyell ließ sich am Ende bekehren. Die Erleuchtung kam ihm mit der Erkenntnis, dass eine Moräne – das heißt eine Reihe von Felsen –, an der er nicht weit vom Anwesen seiner Familie in Schottland schon 100-mal vorübergekommen war, sich eigentlich nur mit der Annahme erklären ließ, dass ein Gletscher die Blöcke dort zurückgelassen hatte. Aber nach dieser Einsicht verlor Lyell die Nerven: Er setzte sich öffentlich nicht für die Eiszeittheorie ein. Für Agassiz war es eine frustrierende Zeit. Seine Ehe ging in die Brüche, Schimper beschuldigte ihn nachdrücklich des geistigen Diebstahls, Charpentier sprach nicht mehr mit ihm, und der größte Geologe seiner Zeit bot nur halbherzige, Ungewisse Unterstützung.

Im Jahr 1846 reiste Agassiz zu einer Vortragsreihe nach Amerika, und dort fand er endlich die gesuchte Anerkennung. Die Harvard University bot ihm eine Professorenstelle an und richtete ihm das erstklassige Museum für Vergleichende Zoologie ein. Dabei war es zweifellos von Nutzen, dass er sich in Neuengland ansiedelte, wo die langen Winter den Gedanken von einer unendlichen Kälteperiode plausibler erscheinen ließen. Außerdem half der Bericht, den die erste Grönlandexpedition sechs Jahre nach seinem Eintreffen veröffentlichte: Danach ist die ganze Rieseninsel von einem Eispanzer bedeckt, wie Agassiz ihn in seiner Theorie auch für die Vorgeschichte postulierte. Ganz allmählich fanden seine Ideen immer mehr Anhänger. Die Theorie hatte nur eine wichtige Schwäche: Sie benannte keine Ursache für die Eiszeiten. In dieser Frage sollte aus einer ganz unerwarteten Richtung Hilfe kommen.

In den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts reichte ein gewisser James Croll von der Anderson’s University in Glasgow bei wissenschaftlichen Zeitschriften in Großbritannien eine ganze Reihe von Aufsätzen über Hydrostatik, Elektrizität und andere Themen ein. Einer davon – er behandelte die Frage, wie Abweichungen in der Umlaufbahn der Erde die Eiszeiten ausgelöst haben könnten – erschien 1864 im Philosophical Magazine und wurde sofort als Arbeit von allerhöchster Qualität anerkannt. Deshalb waren alle überrascht und vielleicht auch ein wenig peinlich berührt, als sich herausstellte, dass Croll an der Universität nicht als Wissenschaftler beschäftigt war, sondern als Pförtner.

Croll wurde 1821 geboren, wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf und ging nur bis zum 13. Lebensjahr zur Schule. Dann arbeitete er in verschiedenen Berufen – als Zimmermann, Versicherungsvertreter, Kellner in einer alkoholfreien Gaststätte –, bevor er schließlich die Stelle als Pförtner an der Anderson’s University (der heutigen University of Strathclyde) in Glasgow bekam. Irgendwie veranlasste er seinen Bruder, die Arbeit zum größten Teil für ihn zu übernehmen, sodass er viele ruhige Abende in der Universitätsbibliothek verbringen konnte und sich in Physik, Mechanik, Astronomie, Hydrostatik und anderen Modefächern seiner Zeit weiterbildete. Irgendwann fing er an, eine Reihe von Abhandlungen zu schreiben; besonders interessierte er sich für die Bewegungen der Erde und ihre Auswirkungen auf das Klima.

Croll äußerte als Erster die Vermutung, zyklische Veränderungen der Erdumlaufbahn von einer Ellipse (das heißt einem leichten Oval) zu einer fast kreisförmigen Bahn und wieder zurück zur Ellipse, könnten die Erklärung für Anfang und Ende der Eiszeiten darstellen. Auf die Idee, Schwankungen der Wetterbedingungen auf der Erde könnten astronomische Ursachen haben, war zuvor noch niemand gekommen. Fast ausschließlich durch Crolls überzeugende Argumentation stand man nun in Großbritannien der Idee, die Erde könnte sich zu früheren Zeiten im Griff des Eises befunden haben, aufgeschlossener gegenüber. Als man Crolls Intelligenz und Begabung erkannt hatte, erhielt er einen Posten bei der Geological Survey of Scotland und zahlreiche Ehrungen: Unter anderem wurde er Mitglied der Londoner Royal Society und der Academy of Sciences in New York, und die Universität St. Andrew verlieh ihm die Ehrendoktorwürde.

Aber gerade als Agassiz’ Theorie auch in Europa immer mehr Anhänger fand, versuchte ihr Urheber in Amerika ein noch exotischeres Revier zu erobern. Er fand jetzt überall Spuren von Gletschern, sogar in der Nähe des Äquators.10 Am Ende war er überzeugt davon, das Eis habe früher die ganze Erde bedeckt und alles Leben ausgelöscht, und dann habe Gott es neu erschaffen.11 Von den Befunden, die Agassiz anführte, sprach kein Einziger für eine solche Idee. Dennoch gewann er in seiner Wahlheimat immer mehr an Ansehen, bis er schließlich einen fast göttlichen Ruf genoss. Als er 1873 starb, hielt die Harvard University es für nötig, drei Professoren als Nachfolger zu ernennen.12

Aber wie es manchmal so geht: Agassiz’ Theorie kam schnell aus der Mode. Noch nicht einmal zehn Jahre nach seinem Tod schrieb sein Nachfolger auf dem Geologie-Lehrstuhl in Harvard: »Die so genannte Vereisungsepoche … die noch vor wenigen Jahren bei den Geologen so beliebt war, kann man jetzt ohne Zögern verneinen.«13

Das Problem bestand unter anderem darin, dass die letzte Eiszeit nach Crolls Berechnungen rund 80000 Jahre zurücklag, während geologische Befunde zunehmend darauf hindeuteten, dass die Erde in viel jüngerer Zeit erhebliche Turbulenzen erlebt hatte. Ohne plausible Erklärung für den Auslöser der Eiszeit stand die ganze Theorie auf tönernen Füßen. Das wäre vielleicht auch noch geraume Zeit so geblieben, hätte nicht Anfang des 20. Jahrhunderts der serbische Wissenschaftler Milutin Milankovic, der keinerlei Vorkenntnisse über die Bewegungen von Himmelskörpern besaß – er war ausgebildeter Maschinenbauer –, ein unerwartet starkes Interesse für das Thema entwickelt. Milankovic erkannte, wo der Schwachpunkt in Crolls Theorie lag: Sie war nicht falsch, sondern zu einfach.

Während die Erde durch den Weltraum wandert, unterliegen nicht nur Länge und Form ihrer Umlaufbahn gewissen Schwankungen, sondern auch der Winkel, den sie zur Sonne bildet, ändert sich in einem bestimmten Rhythmus. Diese Kipp- und Wackelbewegungen bestimmen mit darüber, wie lange und intensiv das Sonnenlicht auf einen Abschnitt der Erdoberfläche einwirkt. Wichtig sind vor allem drei Positionsveränderungen, die in der Fachsprache als Schiefe, Präzession und Exzentrizität bezeichnet werden. Milankovic stellte sich die Frage, ob diese komplizierten Kreisläufe mit dem Kommen und Gehen der Eiszeiten im Zusammenhang stehen. Problematisch war dabei, dass die Kreisläufe sehr unterschiedlich lang sind – ungefähr 20.000, 40.000 und 100.000 Jahre, in allen Fällen aber mit Abweichungen von bis zu ein paar 1.000 Jahren. Wenn man feststellen wollte, wann sie sich über sehr lange Zeiträume hinweg überschneiden, musste man also fast endlose komplizierte Berechnungen anstellen. Letztlich musste Milankovic Winkel und Dauer des Strahlungseinfalls für jeden Breitengrad der Erde zu allen Jahreszeiten in einer Million Jahren berechnen und jeweils nach den drei ständig wechselnden Variablen ausrichten.

Aber das war genau die immer gleiche Plackerei, die Milankovics Temperament entsprach. Während der nächsten 20 Jahre war er unermüdlich und sogar im Urlaub damit beschäftigt, mit Bleistift und Rechenschieber Tabellen für seine Zyklen aufzustellen – eine Arbeit, die ein Computer heute in einem oder zwei Tagen erledigen würde.14 Er musste alle Berechnungen in seiner Freizeit vornehmen, aber davon hatte Milankovic 1914 plötzlich eine ganze Menge: Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde er wegen seiner Stellung als Reservist der serbischen Armee inhaftiert. Die folgenden vier Jahre verbrachte er größtenteils unter lockerem Hausarrest in Budapest, wo er sich nur ein- bis zweimal in der Woche bei der Polizei melden musste. Während der restlichen Zeit arbeitete er in der Bibliothek der ungarischen Wissenschaftsakademie. Vermutlich war er der glücklichste Kriegsgefangene aller Zeiten.

Als Ergebnis seiner sorgfältigen Kritzelei erschien 1930 das Buch Mathematische Klimalehre und astronomische Theorie der Klimaschwankungen. Mit seiner Annahme, dass zwischen den Eiszeiten und dem Wackeln der Erde ein Zusammenhang besteht, hatte Milankovic Recht, aber wie die meisten anderen ging er davon aus, dass die Winter allmählich immer strenger wurden und so die langen Kälteperioden verursachten. Der russisch-deutsche Meteorologe Wladimir Köppen – Schwiegervater unseres alten Freundes und Plattentektonik-Entdeckers Alfred Wegener – erkannte jedoch, dass das Ganze noch komplizierter und nervtötender ist.

Köppen gelangte zu dem Schluss, die Ursache der Eiszeiten könne nicht in den harten Wintern liegen, sondern nur in den kühlen Sommern.15 Wenn es im Sommer so kalt ist, dass in einem Gebiet nicht der gesamte Schnee schmelzen kann, wirft die reflektierende Oberfläche mehr Sonnenlicht zurück, was den Kühleffekt verstärkt und weiteren Schneefall begünstigt. Auf diese Weise gewinnt der Vorgang eine eigene Dynamik. Der Schnee wird zu einer Eiskappe zusammengepresst, in der Region wird es noch kühler, und das führt wiederum zur Anhäufung von noch mehr Eis. Die Gletscherexpertin Gwen Schultz meint dazu: »Dass Eiskappen entstehen, liegt nicht unbedingt an der Schneemenge, sondern daran, dass der Schnee – auch wenn es nur wenig ist – liegen bleibt.«16 Heute geht man davon aus, dass eine Eiszeit mit einem einzigen Sommer beginnen kann, der für die Jahreszeit zu kühl ist. Der verbliebene Schnee reflektiert die Wärme und verstärkt die Kühlwirkung. »Der Vorgang verstärkt sich selbst und ist nicht aufzuhalten. Und wenn das Eis erst einmal wächst, bewegt es sich auch«, sagt McPhee.17 Dann haben wir vorrückende Gletscher und eine Eiszeit.

In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts war man wegen der noch sehr unvollkommenen Datierungsverfahren nicht in der Lage, die von Milankovic so sorgfältig ausgerechneten Zyklen mit den damals bekannten Zeitpunkten der Eiszeiten in Beziehung zu setzen, und das hatte zur Folge, dass Milankovic und seine Berechnungen zunehmend in Vergessenheit gerieten. Als er 1958 starb, war noch nicht bewiesen, dass seine Kreisläufe tatsächlich stimmten. John und Mary Gribbin schreiben:

»Damals hätte man sich sehr anstrengen müssen, um einen Geologen oder Meteorologen zu finden, der in dem Modell mehr sah als eine historische Kuriosität.«18 Erst in den siebziger Jahren, nachdem man ein Kalium-Argon-Verfahren zur Datierung alter Sedimente am Meeresboden ausreichend verfeinert hatte, konnte man Milankovics Theorien endlich bestätigen.

Die Milankovic-Zyklen reichen aber allein nicht aus, um den Wechsel der Eiszeiten zu erklären. Dafür spielen auch viele andere Faktoren eine Rolle, nicht zuletzt die Lage der Kontinente und insbesondere die Frage, ob Landmassen über den Polen liegen. Im Einzelnen sind diese Einflüsse bis heute nur unvollständig geklärt. Allerdings wurde vermutet, man müsse nur Nordamerika, Eurasien und Grönland 500 Kilometer weiter nach Norden verlegen, und wir würden in einer ständigen, unausweichlichen Eiszeit leben. Anscheinend haben wir großes Glück, dass überhaupt hin und wieder gutes Wetter herrscht. Noch weniger versteht man die so genannten Zwischeneiszeiten, regelmäßig wiederkehrende Phasen mit relativ milder Witterung. Es ist ein recht beunruhigender Gedanke: Möglicherweise hat alles, was man sinnvollerweise als Menschheitsgeschichte bezeichnen kann – die Entwicklung der Landwirtschaft, die Entstehung der Städte, der Aufstieg von Mathematik, Schrift und Wissenschaft sowie alles andere –, in einer sehr untypischen Schönwetterperiode stattgefunden. Frühere Zwischeneiszeiten dauerten häufig nur 8000 Jahre. Unsere eigene hat ihren 10000. Jahrestag bereits hinter sich.

Eigentlich befinden wir uns nach wie vor tief in einer Eiszeit;19 sie ist nur ein wenig geschrumpft – allerdings weniger, als vielen Menschen klar ist. Vor rund 20000 Jahren, auf dem Höhepunkt der letzten Vereisung, waren etwa 30 Prozent der Landflächen unter Eis begraben. Für zehn Prozent gilt das noch heute – und weitere 14 Prozent sind Permafrostgebiete. Auch heute sind drei Viertel des gesamten Süßwassers auf der Erde von Eis gebunden, und an beiden Polen liegen Eiskappen – eine wahrscheinlich einzigartige erdgeschichtliche Situation.20 Dass es in großen Teilen der Welt im Winter schneit und dass man selbst in gemäßigten Klimazonen wie Neuseeland dauerhafte Gletscher findet, mag uns ganz natürlich erscheinen, für die Erde als Ganzes betrachtet ist es aber sehr ungewöhnlich.

Während des größten Teils der Erdgeschichte und bis vor recht kurzer Zeit war Hitze rund um den Globus der Normalfall. Dauerhafte Vereisung gab es nicht. Die derzeitige Eiszeit – sie ist eigentlich eine Eisepoche – begann vor rund 40 Millionen Jahren, und in dieser Zeit reichte das Spektrum von entsetzlichem bis zu sehr angenehmem Klima. In der Regel beseitigt jede Eiszeit die Spuren früherer Eiszeiten, und deshalb wird das Bild umso unklarer, je weiter wir uns in die Vergangenheit begeben. Offensichtlich gab es aber in den letzten 2,5 Millionen Jahren – der Zeit, die den Aufstieg des Homo erectus und anschließend des Jetzt-Menschen in Afrika erlebte – mindestens 17 Perioden der starken Vereisung.21 Als Ursachen werden häufig der Aufstieg des Himalaya und die Entstehung der Landenge von Panama genannt – das Gebirge störte die Luftbewegungen, die Landbrücke veränderte die Meeresströmungen. Indien, das früher eine Insel war, wurde im Laufe der letzten 45 Millionen Jahre 2.000 Kilometer weit in die asiatische Landmasse gedrückt, und dabei stieg nicht nur der Himalaya in die Höhe, sondern auch dahinter die riesige tibetanische Hochebene. Die Hypothese besagt, dass die höher gelegene Landschaft nicht nur kühler war, sondern auch den Wind so ablenkte, dass er nach Norden und in Richtung Nordamerika strömte, was dort eine langfristige Abkühlung begünstigte. Dann, vor etwa fünf Millionen Jahren, stieg Panama aus dem Meer und schloss die Lücke zwischen Nord- und Südamerika, sodass die warmen Meeresströmungen zwischen Pazifik und Atlantik unterbrochen wurden, was wiederum mindestens auf der halben Erdoberfläche zu einer veränderten Niederschlagsverteilung führte. Dies hatte unter anderem zur Folge, dass Afrika austrocknete, sodass die Affen von den Bäumen steigen und sich in den wachsenden Savannen eine neue Lebensweise zu Eigen machen mussten.

Wie dem auch sei: Bei der heutigen Anordnung der Ozeane und Kontinente wird das Eis uns offensichtlich auch in Zukunft noch auf lange Sicht begleiten. Nach Angaben von John McPhee können wir mit etwa 50 weiteren Vereisungsperioden rechnen, die jeweils ungefähr 100000 Jahre dauern; erst danach können wir auf ausgedehntes Tauwetter hoffen.22

Vor mehr als 50 Millionen Jahren gab es auf der Erde keine regelmäßigen Eiszeiten, aber wenn sie gelegentlich auftraten, hatten sie meist gewaltige Ausmaße.23 Eine riesige Vereisungsperiode gab es vor etwa 2,2 Milliarden Jahren, und dann folgten eine Milliarde Jahre mit warmem Klima. Anschließend gab es wiederum eine Eiszeit, die noch größer war als die erste – manche Wissenschaftler bezeichnen sie mittlerweile als Cryogenium oder Supereiszeit.24 Sie wurde auch als »Schneeball Erde« bekannt.

Aber das Wort »Schneeball« gibt die mörderischen Bedingungen, die damals herrschten, kaum angemessen wieder. Nach der heutigen Theorie ging die Sonnenstrahlung damals um rund sechs Prozent zurück, und gleichzeitig wurden weniger Treibhausgase produziert (oder festgehalten); dies hatte zur Folge, dass die Erde ihre Fähigkeit, Wärme festzuhalten, im Wesentlichen verlor. Sie wurde zu einer Art globaler Antarktis. Die Temperaturen sanken um bis zu 45 Grad, und wahrscheinlich war die gesamte Erdoberfläche eingefroren. Die Ozeane waren in höheren Breiten mit einer bis zu 800 Meter dicken Eisschicht bedeckt, und selbst in den Tropen maß sie noch mehrere Dutzend Meter.25

Diese Vorstellung ist allerdings mit einer schwerwiegenden Schwierigkeit behaftet: Während die geologischen Befunde darauf hindeuten, dass die Erde überall – auch am Äquator – vereist war, weisen biologische Indizien ebenso überzeugend darauf hin, dass es irgendwo offenes Wasser gegeben haben muss. Erstens überlebten die Cyanobakterien das Ereignis, und diese Organismen betreiben Photosynthese. Dazu brauchten sie Sonnenlicht, aber Eis ist schon in geringer Dicke undurchsichtig und lässt nach wenigen Metern überhaupt kein Licht mehr durch – das weiß jeder, der schon einmal versucht hat, hindurchzusehen. Für den Widerspruch wurden zwei Lösungen vorgeschlagen. Nach der einen blieb ein wenig Meerwasser frei (vielleicht weil es irgendwo zu einer lokalen Erwärmung kam); die andere besagt, das Eis habe sich vielleicht so gebildet, dass es durchsichtig blieb – ein Zustand, der in der Natur tatsächlich manchmal vorkommt.

Wenn die Erde tatsächlich völlig gefroren war, erhebt sich eine sehr schwierige Frage: Wie konnte sie sich jemals wieder erwärmen? Ein vereister Planet reflektiert so viel Wärme, dass er eigentlich für alle Zeiten eisig bleiben muss. Die Rettung kam offensichtlich aus dem geschmolzenen Erdinneren. Wieder einmal haben wir es wahrscheinlich der Plattentektonik zu verdanken, dass es uns überhaupt gibt. Nach dieser Vorstellung stießen Vulkane durch die eisbedeckte Oberfläche und stießen riesige Mengen von Wärme und Gasen aus, sodass der Schnee schmolz und die Atmosphäre sich neu bildete. Interessanterweise ist das Ende dieser Super-Kälteperiode durch die kambrische Explosion gekennzeichnet, gewissermaßen das Frühlingserwachen in der Geschichte des Lebendigen. In Wirklichkeit dürfte das alles durchaus nicht ruhig abgelaufen sein. Als die Erde sich erwärmte, herrschten vermutlich die wildesten Wetterbedingungen aller Zeiten, mit Wirbelstürmen, welche die Meereswellen bis zur Höhe von Wolkenkratzern auftürmten, und mit unvorstellbar heftigem Regen.26

Während dieser ganzen Zeit lebten die Röhrenwürmer, Muscheln und anderen Lebensformen an den Tiefseeschloten zweifellos weiter, als wäre nichts geschehen, aber alle anderen Lebewesen auf der Erde waren dem Untergang vermutlich so nahe wie nie zuvor. Das alles liegt lange zurück, und derzeit wissen wir nichts Genaueres darüber.

Im Vergleich mit dem Cryogenium wirken die Eiszeiten der jüngeren Vergangenheit recht klein, aber natürlich waren auch sie im Vergleich zu allem, was wir heute auf der Erde finden, von ungeheuer großem Umfang. Die Eisschicht, die große Teile Europas und Nordamerika bedeckte, war an manchen Stellen über drei Kilometer dick und schob sich mit rund 120 Metern pro Jahr vorwärts. Sie muss einen unglaublichen Anblick geboten haben. Selbst an ihrer Vorderkante könnte die Eisdecke fast 800 Meter dick gewesen sein. Stellen wir uns nur vor, wir stünden einer Eismauer gegenüber, die sich einen halben Kilometer über uns erhebt. Dahinter befindet sich auf vielen Millionen Quadratkilometern nichts als Eis, aus dem nur die höchsten Berggipfel hervorragen. Unter seinem Gewicht versinken ganze Kontinente, und selbst heute, 12000 Jahre nach dem Rückzug der Gletscher, ist ihr Wiederaufstieg in die alte Lage noch nicht abgeschlossen. Die Eismassen brachten bei ihrem langsamen Vordringen nicht nur Felsbrocken und lange Kiesmoränen mit, sondern auch ganze Landgebiete wie Long Island, Cape Cod, Nantucket und andere. Da ist es kein Wunder, dass die Geologen vor Agassiz nicht recht begriffen, zu welch gewaltiger Umgestaltung der Landschaft das Eis in der Lage ist.

Würden die Eismassen heute erneut vorrücken, hätten wir ihnen nichts entgegenzusetzen. Im Prince William Sound in Alaska wurde eines der größten Gletschergebiete Nordamerikas 1964 von dem stärksten Erdbeben erschüttert, das jemals auf dem Kontinent aufgezeichnet wurde. Es erreichte einen Wert von 9,2 auf der Richter-Skala. An der Bruchkante hob sich das Gelände um bis zu sechs Meter. Das Beben war so heftig, dass es noch in Texas das Wasser aus den Pfützen spritzen ließ. Und welche Auswirkungen hatten diese beispiellosen Erschütterungen auf die Gletscher des Prince William Sound? Überhaupt keine. Sie schluckten es einfach und wanderten weiter.

Lange Zeit glaubte man, wir würden uns ganz allmählich, über Hunderttausende von Jahren hinweg, in Richtung der Eiszeiten und wieder von ihnen wegbewegen, aber heute wissen wir, dass das nicht stimmt. Durch die Untersuchung von Eisbohrkernen aus Grönland können wir ein genaues Bild des Klimas aus etwas mehr als den letzten 100.000 Jahren zeichnen, und was man dabei findet, ist alles andere als tröstlich. Es stellt sich heraus, dass die Erde während des größten Teils ihrer jüngeren Geschichte keineswegs der stabile, ruhige Ort war, den die zivilisierten Menschen kennen gelernt haben, sondern sie erlebte rapide Wechsel zwischen Phasen der Wärme und der brutalen Kälte.

Gegen Ende der letzten großen Vereisung, vor rund 12.000 Jahren, erwärmte sich die Erde sehr schnell, aber dann herrschte ganz abrupt wiederum etwa 1.000 Jahre lang bittere Kälte, ein Ereignis, das in der Wissenschaft als jüngere Dryas bekannt ist.27 (Der Name kommt von der arktischen Silberwurz, einer Pflanze, die mit wissenschaftlichem Namen Dryas heißt. Sie gehört zu den Ersten, die das Land nach dem Rückzug einer Eiskappe wieder besiedeln. Es gab auch eine ältere Dryas, diese Phase ist aber nicht so scharf abgegrenzt.) Am Ende des tausendjährigen Martyriums stiegen die Durchschnittstemperaturen in nur 20 Jahren um vier Grad an – auf den ersten Blick nicht viel, aber es entspricht dem Wechsel zwischen dem Klima Skandinaviens und dem der Mittelmeerregion, und das in nur zwei Jahrzehnten. An einzelnen Orten war die Veränderung noch wesentlich dramatischer. Die Eisbohrkerne aus Grönland zeigen, dass die Temperaturen sich dort in zehn Jahren um bis zu acht Grad änderten, was auch zu einem tief greifenden Wandel bei Niederschlag und Pflanzenwachstum führte. Der ganze Vorgang muss für die Menschen schon auf dem dünn besiedelten Planeten äußerst beunruhigend gewesen sein. Heute könnte man sich die Folgen überhaupt nicht vorstellen.

Am schlimmsten ist, dass wir keine – wirklich keine – Ahnung haben, welche Mechanismen das Thermometer der Erde so schnell durcheinander bringen können. Elizabeth Kolbert schrieb in der Zeitschrift New Yorker: »Keine bekannte äußere Kraft, ja nicht einmal ein hypothetischer Einfluss scheint in der Lage zu sein, die Temperaturen so heftig und so häufig hin und her zu verschieben, wie es die Bohrkerne zeigen.« Und dann fügte sie hinzu, es gebe anscheinend »eine riesige, schreckliche Rückkopplungsschleife«, an der vermutlich die Ozeane und Störungen der normalen Meeresströmungen beteiligt sind, aber das alles ist noch bei weitem nicht geklärt.

Einer Theorie zufolge verminderte sich zu Beginn der jungeren Dryas durch den starken Zufluss von Schmelzwasser der Salzgehalt (und damit die Dichte) der Meere auf der nördlichen Halbkugel, sodass der Golfstrom nach Süden abbog wie ein Taucher, der einen Zusammenstoß vermeiden will. Ohne die Wärme dieser Meeresströmung kehrten in nördlichen Breiten wieder eisige Bedingungen ein. Aber damit ist nicht einmal ansatzweise erklärt, warum der Golfstrom 1000 Jahre später, als die Erde sich wieder erwärmte, nicht zu seinem alten Verlauf zurückkehrte. Stattdessen begann damals die ungewöhnlich ruhige Phase, die als Holozän bezeichnet wird und in der wir heute noch leben.

Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass diese stabile Klimaperiode noch lange dauern wird. Manche Fachleute glauben sogar, dass uns Schlimmeres bevorsteht als je zuvor. Es ist eine nahe liegende Annahme, dass die globale Erwärmung ein nützliches Gegengewicht zur Neigung der Erde darstellen könnte, in eiszeitliche Bedingungen zurückzufallen. Aber wie Kolbert ausdrücklich betont, würde man sich angesichts eines schwankenden, unvorhersehbaren Klimas »als Allerletztes wünschen, damit ein großes, unkontrolliertes Experiment anzustellen«.28 Man hat sogar mit einer plausibleren Begründung, als es auf den ersten Blick scheint, die Vermutung geäußert, ein Temperaturanstieg könne eine Eiszeit auslösen. Dahinter steht der Gedanke, dass eine geringfügige Erwärmung die Verdunstung verstärkt, was die Wolkendecke wachsen lässt und in höheren Breiten zu einer vermehrten Anhäufung von Schnee führt.29 Tatsächlich könnte die globale Erwärmung den paradoxen Effekt haben, dass es in Nordamerika und Nordeuropa zu einer örtlich begrenzten, starken Abkühlung kommt.

Für das Klima sind so viele Faktoren verantwortlich – steigender und sinkender Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre, Verschiebung der Kontinente, Aktivität der Sonne, die imposanten Schwankungen der Milankovic-Zyklen –, dass die Aufklärung vergangener Vorgänge ebenso schwierig ist wie Voraussagen für die Zukunft. Vieles übersteigt schlicht und einfach unsere Fähigkeiten. Ein gutes Beispiel ist die Antarktis. Nachdem dieser Kontinent sich über den Südpol geschoben hatte, war er mindestens 20 Millionen Jahre lang von Pflanzen bedeckt und eisfrei. Eigentlich ist so etwas überhaupt nicht möglich.

Nicht weniger verblüffend sind die bekannten Verbreitungsgebiete mancher späten Dinosaurierarten.30 Nach Angaben des britischen Geologen Stephen Drury beherbergten die Wälder der nördlichsten zehn Breitengrade große Tiere wie den Tyrannosaurus rex. »Das ist völlig bizarr, denn in derart hohen Breiten ist es drei Monate im Jahr ununterbrochen dunkel«, schreibt er. Außerdem gibt es mittlerweile Anhaltspunkte, dass so weit nördlich sehr strenge Winter herrschten. Untersuchungen an Sauerstoffisotopen lassen darauf schließen, dass das Klima in der Gegend von Fairbanks in Alaska während der späten Kreidezeit ganz ähnlich war wie heute. Was hatte Tyrannosaurus rex dort zu suchen? Entweder wanderte er zu bestimmten Jahreszeiten über riesige Entfernungen oder er verbrachte große Teile des Jahres im Dunkeln und in Schneeverwehungen. In Australien – das zu jener Zeit stärker in Richtung des Pols orientiert war – konnten die Tiere sich nicht in wärmeres Klima zurückziehen.31 Wie es die Dinosaurier schafften, unter solchen Bedingungen zu überleben, kann man nur vermuten.

An eines muss man dabei denken: Wenn heute aus irgendwelchen Gründen die Neubildung von Eisschichten beginnen sollte, könnten sie dieses Mal aus wesentlich größeren Wasservorräten schöpfen.32 Die großen nordamerikanischen Seen, die Hudson Bay, die unzähligen Seen in Kanada standen als Antriebskraft zu Beginn der letzten Eiszeit noch nicht zur Verfügung: Sie wurden durch diese Vereisung erst geschaffen.

Andererseits könnten wir erleben, dass das Eis in der nächsten Phase unserer Geschichte nicht neu entsteht, sondern in großem Umfang taut. Würden alle Eiskappen schmelzen, käme es zu einem Anstieg des Meeresspiegels von rund 60 Metern – die Höhe eines zwanzigstöckigen Gebäudes –, sodass alle Küstenstädte der Welt überflutet wären. Wahrscheinlicher ist zumindest auf kurze Sicht, dass die Eisschicht der westlichen Antarktis verschwindet. Das Meerwasser in ihrer Umgebung hat sich während der letzten 50 Jahre um 2,5 Grad erwärmt, und entsprechend dramatisch war der Eisverlust. Wegen der geologischen Verhältnisse in dem Gebiet rückt ein umfangreicher Zusammenbruch damit in den Bereich des Möglichen. Sollte es dazu kommen, wird der Meeresspiegel weltweit recht schnell um durchschnittlich fünf bis sechs Meter ansteigen.33

Erstaunlicherweise haben wir keine Ahnung, was für die Zukunft wahrscheinlicher ist: ein Zeitalter der tödlichen Kälte oder ebenso lange Zeiträume der glühenden Hitze. Nur eines ist sicher: Wir leben auf Messers Schneide.

Nebenbei bemerkt: Auf lange Sicht sind Eiszeiten für die Erde durchaus nichts Schlechtes. Sie zermalmen das Gestein, lassen neuen Erdboden von üppiger Fruchtbarkeit zurück und graben Süßwasserseen, die Hunderten von biologischen Arten üppige Nahrung bieten. Sie lösen Wanderungsbewegungen aus und halten die Dynamik unseres Planeten aufrecht. Tim Flannery meint dazu: »Wenn man etwas über das Schicksal der Menschen auf einem Kontinent erfahren will, muss man nur fragen: ‹Hattest du eine gute Eiszeit?›«34 Vor diesem Hintergrund ist es jetzt an der Zeit, uns mit einer Spezies von Menschenaffen zu beschäftigen, für die das wirklich zutraf.