23.
Die Reichlichkeit des Seins
Im Londoner Natural History Museum, in Nischen entlang der schwach beleuchteten Korridore oder zwischen Vitrinen mit Mineralien, Straußeneiern und anderem lehrreichen Material aus 100 Jahren, gibt es Geheimtüren – ein letztes Geheimnis insofern, als nichts an ihnen ist, was die Aufmerksamkeit der Besucher wecken würde. Gelegentlich sieht man jemanden mit dem zerstreuten Betragen und der eigenwilligen Frisur eines Gelehrten aus einer dieser Türen kommen und einen Flur entlangeilen, vermutlich um ein Stück weiter durch eine ähnliche Tür wieder zu verschwinden. Aber das kommt nur selten vor. Meist bleiben die Türen geschlossen und liefern keinerlei Anhaltspunkte, dass hinter ihnen noch ein anderes, paralleles Natural History Museum liegt. Es ist ebenso riesig und in vielerlei Hinsicht noch großartiger als jenes, das die Öffentlichkeit kennt und bewundert.
Das Natural History Museum besitzt rund 70 Millionen Objekte aus allen Bereichen des Lebendigen und allen Winkeln der Erde, und jedes Jahr wächst die Sammlung um etwa 100000 weitere Stücke. Eigentlich bekommt man aber nur hinter den Kulissen einen Eindruck davon, was für ein Schatzhaus das Museum ist. In Schränken, Vitrinen und langen Sälen voller Regale stehen dicht bei dicht Zehntausende von konservierten Tieren in Flaschen, Millionen Insekten sind mit Nadeln auf Kartonquadrate aufgespießt, in Schubladen liegen hübsche Weichtiere, Dinosaurierknochen, Schädel von Frühmenschen, unzählige Ordner mit säuberlich gepressten Pflanzen. Ein wenig hat man das Gefühl, durch Darwins Gehirn zu wandern. In einem Raum steht auf fast 25 Regalkilometern Flasche neben Flasche mit Tieren, die in Methylalkohol konserviert sind.1
Hier befinden sich Objekte, die von Joseph Banks in Australien, Alexander von Humboldt im Amazonas-Urwald oder Charles Darwin auf seiner Reise mit der Beagle gesammelt wurden, aber auch vieles andere, das entweder sehr selten oder historisch bedeutsam ist. Viele Menschen würden diese Dinge gern in die Hand bekommen, und einigen ist es tatsächlich gelungen. Im Jahr 1954 erwarb das Museum eine außergewöhnliche ornithologische Sammlung aus dem Nachlass des engagierten Sammlers Richard Meinertzhagen, der neben anderen Fachbüchern das Werk Bird of Arabia verfasst hatte. Meinertzhagen war ein treuer Museumsbesucher – er kam fast jeden Tag, um sich Notizen für seine Bücher und Aufsätze zu machen. Als die Kisten mit seinen Besitztümern eintrafen, öffneten die Kuratoren sie eilig – alle waren gespannt, was er ihnen hinterlassen hatte. Sie erlebten, gelinde gesagt, eine Überraschung: Zahlreiche Stücke trugen die Etiketten des Museums. Wie sich herausstellte, hatte Meinertzhagen sich jahrelang in den Sammlungen bedient. Damit war auch erklärt, warum er selbst bei warmem Wetter stets einen langen Mantel trug.
Einige Jahre später ertappte man einen liebenswürdigen Stammgast der Weichtierabteilung – mir wurde berichtet, er sei »ein angesehener Gentleman« gewesen –, wie er wertvolle Muschelschalen in den hohlen Beinen seiner Gehhilfe verstaute.
»Ich glaube, hier gäbe es für jedes Stück einen Liebhaber«, sagt Richard Fortey mit nachdenklicher Miene, während er mich durch diese zauberhafte Welt hinter den Kulissen des Museums führt. Wir wandern durch eine verwirrende Fülle von Sälen, wo Menschen an großen Tischen sitzen und konzentrierte Untersuchungen an Gliederfüßern, Palmwedeln oder vergilbten Knochen vornehmen. Überall herrscht eine Atmosphäre der gemächlichen Gründlichkeit – das gigantische Vorhaben, an dem diese Menschen sich beteiligen, ist nie zu Ende und verträgt keine Eile. Wie ich gelesen habe, veröffentlichte das Museum 1967 seinen Bericht über die John-Murray-Expedition, eine Studie über den Indischen Ozean, deren Teilnehmer 44 Jahre zuvor wieder nach Hause gekommen waren.2 Es ist eine Welt mit eigenem Rhythmus. In einem winzigen Aufzug stehe ich mit Fortey und einem älteren Mann, der wie ein Wissenschaftler wirkt. Entspannt und freundschaftlich unterhält sich mein Begleiter mit ihm, während wir ungefähr mit der Geschwindigkeit, die Sedimente bei der Ablagerung erreichen, aufwärts getragen werden.
Als der Mann sich verabschiedet hat, sagt Fortey zu mir: »Das war ein sehr netter Bursche, Er heißt Norman und untersucht schon seit 42 Jahren eine einzige Pflanzenart, das Johanniskraut. Seit 1989 ist er pensioniert, aber er kommt immer noch einmal in der Woche.«
»Wie kann man sich 42 Jahre mit einer einzigen Pflanze beschäftigen?«, will ich wissen.
»Das ist schon bemerkenswert, nicht?«, pflichtet Fortey mir bei. Dann denkt er einen Augenblick nach.
»Offensichtlich ist er sehr gründlich.« Die Aufzugtür öffnet sich und gibt den Blick auf eine zugemauerte Öffnung frei. Fortey ist verblüfft. »Sehr seltsam«, sagt er, »früher war hier die Abteilung für Botanik.« Er drückt den Knopf für ein anderes Stockwerk, und wir suchen uns den Weg zur Botanik über Hintertreppen sowie mit diskreter Durchquerung anderer Abteilungen, wo weitere Wissenschaftler sich liebevoll mit einstmals lebenden Objekten befassen. So kam es, dass ich Len Ellis und die lautlose Welt der Bryophyten kennen lernte – für uns normale Sterbliche sind das die Moose.
Als Emerson mit poetischen Worten feststellte, dass Moose die Nordseite der Bäume bevorzugen (»Das Moos auf jedes Baumes Haut/im Dunkeln zum Polarstern schaut«), meinte er in Wirklichkeit die Flechten, denn im 19. Jahrhundert wurde nicht zwischen Flechten und Moosen unterschieden. Echte Moose sind nicht sonderlich wählerisch, was den Ort ihres Wachstums angeht, und deshalb eignen sie sich nicht als natürlicher Kompass. Eigentlich sind Moose sogar für so gut wie gar nichts zu gebrauchen. »Für vielleicht keine andere große Pflanzengruppe gibt es so wenige kommerzielle oder wirtschaftliche Anwendungsmöglichkeiten wie für die Moose«, schreibt Henry S. Conard mit einem Anflug von Bedauern in seinem 1956 erschienenen Buch How to Know the Mosses and Liverworts, das sich noch heute in vielen Bibliotheksregalen findet – es war wohl der einzige Versuch, das Thema populärwissenschaftlich aufzubereiten.3
Aber sie sind sehr fruchtbar. Selbst wenn man die Flechten ausklammert, ist im Bereich der Bryophyten eine Menge los: 700 Gattungen umfassen insgesamt über 10000 Arten. Das dicke, ansehnliche Werk Moss Flora of Britain and Ireland von A. J. E. Smith ist 700 Seiten stark, obwohl Großbritannien und Irland keineswegs besonders stark bemooste Gebiete sind. »Die eigentliche Vielfalt findet man in den Tropen«, erklärt mir Len Ellis.4 Der ruhige, hagere Mann arbeitet seit 27 Jahren am Natural History Museum und leitet seit 1990 diese Abteilung.
»Wenn man sich beispielsweise in Malaysia in den Regenwald begibt, findet man relativ leicht neue Formen. Ich selbst habe das vor nicht allzu langer Zeit getan. Ein Blick auf den Boden, und schon hatte ich eine Art gefunden, die noch nicht beschrieben war.«
»Dann wissen wir also nicht, wie viele Arten noch unentdeckt sind?«
»O nein. Keine Ahnung.«
Eigentlich sollte man nicht glauben, dass es auf der Welt eine nennenswerte Zahl von Menschen gibt, die ihr ganzes Leben der Untersuchung derart bescheidener Gewächse widmen, aber in Wirklichkeit gibt es Hunderte von Moosexperten, und die sind in ihrem Fachgebiet sehr engagiert. »Oh ja, auf Tagungen geht es manchmal recht lebhaft zu«, erzählt mir Ellis.
Ich frage nach einem Beispiel für eine solche Meinungsverschiedenheit.
»Nun ja, eine wurde uns beispielsweise von einem Ihrer Landsleute aufgezwungen«, erwidert er mit einem Anflug von Lächeln. Dann schlägt er ein dickes Buch auf und zeigt mir Abbildungen von Moosen, an denen mir vor allem eines auffällt: Für das ungeübte Auge sehen sie sich alle unglaublich ähnlich.
»Das hier«, sagt er und zeigt auf ein Moos, »war früher eine Gattung namens Drepanocladus. Heute wird sie in drei Gattungen unterteilt: Drepanocladus, Wamstorfia und Hamatacoulis. «
»Und das hat zu Auseinandersetzungen geführt?«, frage ich mit schwacher Hoffnung.
»Nun ja, es war sinnvoll. Es war sogar sehr sinnvoll. Aber es bedeutete, dass man in den Sammlungen eine Menge Dinge neu ordnen musste, und eine Zeit lang waren alle Bücher veraltet. Deshalb wurde ein wenig gemurrt, wissen Sie.«
Weiter erklärt er mir, dass die Moose auch Geheimnisse bergen. Ein berühmter Fall – berühmt jedenfalls unter Moosexperten – betraf eine unauffällige Art namens Hyophila stanfordensis. Sie wurde auf dem Gelände der Stanford University in Kalifornien entdeckt, und später fand man sie auch neben einem Fußweg in Cornwall am südwestlichen Ende Englands, aber zwischen diesen beiden Orten begegnete man ihr nie. Wie sie an zwei so weit auseinander liegenden Stellen gedeihen kann, ist für alle ein Rätsel. »Heute wird sie als Hennediella stanfordensis bezeichnet. Auch das war eine Umwälzung«, sagt Ellis.
Wir nicken nachdenklich.
Wenn ein neues Moos entdeckt wird, muss man es mit allen anderen Moosen vergleichen – nur so kann man gewährleisten, dass es nicht bereits bekannt ist. Anschließend muss man eine formelle Beschreibung verfassen, Zeichnungen anfertigen und die Ergebnisse in einer angesehenen Fachzeitschrift veröffentlichen. Das Ganze dauert meist nicht länger als ein halbes Jahr. Insgesamt war das 20. Jahrhundert für die Systematik der Moose nicht gerade eine Blütezeit. In den ganzen Jahren konzentrierten sich die Arbeiten vorwiegend darauf, die Verwirrungen und doppelten Beschreibungen zu beseitigen, die das 19. Jahrhundert hinterlassen hatte.
Damals erlebte das Moossammeln sein goldenes Zeitalter. (Wie bereits erwähnt wurde, war auch der Vater von Charles Lyell ein großer Moosexperte.) Ein Engländer namens George Hunt machte seinem Namen alle Ehre: Er ging so energisch auf die Jagd nach britischen Moosen, dass er vermutlich zur Ausrottung mehrerer Arten beitrug. Aber dank solcher Bemühungen ist die Sammlung von Len Ellis eine der umfassendsten auf der ganzen Welt. Alle 780.000 Exemplare sind zwischen großen, schweren Papierblättern gepresst, manche davon sehr alt und mit verschnörkelter viktorianischer Handschrift bedeckt. Einige davon befanden sich nach heutiger Kenntnis vermutlich im Besitz des großen Botanikers Robert Brown, der in viktorianischer Zeit die Brown’sche Molekularbewegung und den Zellkern entdeckte. Brown gründete die botanische Abteilung des Museums und leitete sie dann 31 Jahre lang, bevor er 1858 starb. Alle Sammlungsstücke werden in blank polierten alten Mahagonischränken aufbewahrt, die so fein gearbeitet sind, dass ich eine Bemerkung darüber fallen lasse.
»Ach, die sind von Sir Joseph Banks, aus seinem Haus am Soho Square«, erklärt Ellis beiläufig, als spräche er über eine Neuerwerbung von Ikea. »Er ließ sie bauen, um darin seine Funde von der Reise mit der Endeavour unterzubringen.« Nachdenklich betrachtet er die Schränke, als sähe er sie seit langer Zeit zum ersten Mal. Dann fügt er hinzu: »Wie sie zu uns in die Moosabteilung gekommen sind, weiß ich nicht.«
Ein verblüffendes Eingeständnis. Joseph Banks war der größte Botaniker Englands, und die Reise mit der Endeavour – es war die gleiche, auf der Captain Cook 1769 neben vielem anderen auch den Venusdurchgang aufzeichnete und Australien für die britische Krone in Besitz nahm – war die größte botanische Expedition aller Zeiten. Banks zahlte 10000 englische Pfund – nach heutiger Kaufkraft rund 900000 Euro –, um mit neun Begleitern – einem Naturforscher, einem Sekretär, drei Künstlern und vier Dienern – an der dreijährigen, abenteuerlichen Weltumrundung teilzunehmen. Was der vierschrötige Captain Cook mit einer derart empfindsamen, verwöhnten Reisegruppe anfing, weiß niemand so ganz genau, aber anscheinend mochte er Banks recht gern und konnte seine Bewunderung über dessen Talent als Botaniker nicht verhehlen – ein Eindruck, den auch die Nachwelt teilt.
Niemals zuvor und auch zu keinem späteren Zeitpunkt feierte eine botanische Expedition größere Triumphe. Zum Teil lag es daran, dass die Reise zu so vielen neuen oder wenig bekannten Zielen führte – Feuerland, Tahiti, Neuseeland, Australien, Neuguinea –, vor allem aber war es Banks zu verdanken, einem höchst scharfsinnigen, fantasievollen Sammler. Selbst in Rio de Janeiro, wo sie wegen Quarantänebestimmungen nicht an Land gehen durften, stöberte er in einem Ballen Futter, der für die Tiere des Schiffes an Bord gebracht wurde, und machte dabei neue Entdeckungen.5 Anscheinend entging nichts seiner Aufmerksamkeit. Insgesamt brachte er 30000 Exemplare von Pflanzen nach Hause, darunter 1400, die zuvor noch nie jemand gesehen hatte – genug, um die Gesamtzahl der weltweit bekannten Arten um ein Viertel ansteigen zu lassen.
Aber auch Banks’ große Sammlung war nur ein kleiner Teil der Gesamtausbeute in einem Zeitalter der fast absurden Sammelwut. Das Sammeln von Pflanzen wurde im 18. Jahrhundert zu einer Art internationalen
Besessenheit. Ruhm und Reichtum warteten auf jeden, der neue Arten entdeckte, und sowohl Botaniker als auch Abenteurer nahmen fast unglaubliche Strapazen auf sich, um die Gier der Welt nach neuem Grünzeug zu befriedigen. Thomas Nuttall, der die Wisteria nach Caspar Wistar auf ihren Namen taufte, kam als ungebildeter Drucker nach Amerika. Kurz darauf entdeckte er jedoch seine Leidenschaft für Pflanzen, und nun wanderte er kreuz und quer durch das halbe Land, wobei er Hunderte von Gewächsen einsammelte, die noch niemand kannte. John Fraser, Namenspatron der Fraser-Balsamtanne, sammelte jahrelang in der Wildnis Pflanzen im Auftrag von Katharina der Großen, und als er schließlich in die Zivilisation zurückkehrte, hatte Russland einen neuen Zaren, der ihn für verrückt erklärte und den Vertrag nicht erfüllen wollte. Daraufhin brachte Fraser seine Funde nach Chelsea, eröffnete eine Baumschule und verdiente sich einen hübschen Lebensunterhalt, indem er Rhododendren, Azaleen, Magnolien, Wilden Wein, Astern und andere exotische Pflanzen aus den Kolonien an eine begeisterte englische Schickeria verkaufte.
Mit den richtigen Funden konnte man gewaltige Summen verdienen. Der Amateurbotaniker John Lyon verbrachte zwei harte, gefährliche Jahre mit dem Sammeln von Pflanzen, seine Mühen wurden ihm aber nach heutiger Kaufkraft mit rund 180.000 Euro belohnt. Für viele andere jedoch war die Liebe zur Botanik das einzige Motiv. Nuttall stiftete fast alle seine Funde dem botanischen Garten von Liverpool. Am Ende wurde er Direktor des botanischen Gartens der Harvard University und verfasste das große Nachschlagewerk Genera of North American Plants (das er nicht nur schrieb, sondern größtenteils auch selbst setzte).
Und neben den Pflanzen gab es ja noch die ganze Tierwelt der neuen Kontinente: Kängurus, Kiwis, Waschbären, Rotluchse, Moskitos und andere seltsame Geschöpfe, von denen sich niemand etwas hätte träumen lassen. Die Erkenntnis, dass das Leben auf der Erde offensichtlich von unendlicher Vielfalt war, fasste Jonathan Swift in seine berühmten Zeilen:
Denn jeder Floh, sagt der Zoolog,
Dient kleinern Flöhn als Futtertrog,
Und wieder kleinern dienen diese –
Ad infinitum, die Devise.
Und all diese neuen Erkenntnisse mussten aufgezeichnet, geordnet und mit dem bereits Bekannten verglichen werden. Die Welt brauchte dringend ein funktionierendes Klassifikationssystem. Glücklicherweise stand in Schweden jemand bereit, der es liefern sollte.
Er hieß Carl Linné (aus dem er später mit königlicher Erlaubnis das adlige von Linné machte), ist aber heute auch unter seinem latinisierten Namen Carolus Linnaeus bekannt. Linné wurde 1707 in dem südschwedischen Dorf Råshult als Sohn eines armen, aber ehrgeizigen lutheranischen Hilfsgeistlichen geboren und war in der Schule so faul, dass sein verärgerter Vater ihn als Lehrling zu einem Flickschuster schickte (oder dies manchen Berichten zufolge fast getan hätte). Aber die Aussicht, sein Leben lang Nägel in Leder zu klopfen, war dem jungen Linné derart zuwider, dass er um eine zweite Chance bettelte. Sie wurde ihm gewährt, und von nun an ließ er nicht mehr von seinen akademischen Bemühungen ab. Er studierte in Schweden und Holland Medizin, aber seine Leidenschaft galt der Natur. Anfang der dreißiger Jahre des 18. Jahrhunderts, als er erst knapp über 20 war, stellte er bereits Kataloge der Pflanzen- und Tierarten der Erde auf; dabei bediente er sich eines von ihm selbst entwickelten Systems, und allmählich wuchs sein Ruhm.
Kaum ein anderer ging so unbefangen mit seinem Ruf um wie Linné. Seine Freizeit verwendete er größtenteils darauf, lange, schmeichelhafte Berichte über sich selbst zu verfassen. Darin erklärte er, es habe »nie einen größeren Botaniker oder Zoologen gegeben«, und sein Klassifikationssystem sei »die größte Leistung in der Domäne der Wissenschaft«. In aller Bescheidenheit schlug er vor, sein Grabstein solle die Inschrift Princeps Botanicorum tragen – »Fürst der Botaniker«. Seine großzügige Selbsteinschätzung in Frage zu stellen, war unklug. Wer es tat, fand seinen Namen später in einem Unkraut wieder.
Linnés zweite auffallende Eigenschaft war eine ständige und manchmal sogar geradezu fieberhafte Sexbesessenheit. Insbesondere faszinierte ihn die Ähnlichkeit zwischen bestimmten Muscheln und den weiblichen Geschlechtsorganen. Den Körperteilen einer Muschelart gab er die Namen vulva, labia, pubes, anus und hymen.6 Er ordnete die Pflanzen nach dem Bau ihrer Fortpflanzungsorgane und schrieb ihnen ein auffallend menschliches Liebesbedürmis zu. In seinen Beschreibungen über Blüten und ihr Verhalten finden sich immer wieder Ausdrücke wie »promiskuitiver Verkehr«, »unfruchtbare Konkubinen« oder »Brautbett«. Im Frühjahr schrieb er in einem häufig zitierten Absatz:
Sogar die Pflanzen werden von Liebe erfasst … Männer und Frauen … vollziehen die Ehe …. zeigen durch ihre Geschlechtsorgane, wer männlich und wer weiblich ist. Die Blütenblätter dienen als Brautbett, welches der Schöpfer so großartig angeordnet hat, so üppig geschmückt mit edlen Bettvorhängen, parfümiert mit so süßen Düften, dass der Bräutigam und die Braut hier ihre Hochzeitsnacht mit umso größerer Erhabenheit feiern können. Ist das Bett auf diese Weise bereitet, wird es Zeit für den Bräutigam, seine geliebte Braut zu umfangen und sich ihr hinzugeben.7
Eine Pflanzengattung taufte er auf den Namen Clitoria. Wie nicht anders zu erwarten, hielten ihn viele für einen seltsamen Kauz. Aber sein Klassifikationssystem hatte einen unwiderstehlichen Reiz. Vor Linné gab man den Pflanzen umständliche, beschreibende Namen – die Judenkirsche hieß beispielsweise Physalis amno ramosissime ramis angulosis glabris foliis dentoserratis. Linné stutzte die Bezeichnung auf Physalis angulata zurück, und diesen Namen trägt die Pflanze noch heute.8 Außerdem sorgten uneinheitliche Benennungen in der Pflanzenwelt für Unordnung. Ein Botaniker konnte nicht mit Sicherheit wissen, ob Rosa sylvestris alba cum rubore, folio glabro die Gleiche war, die andere als Rosa sylvestris inodora seu canina bezeichneten. Linné nannte sie einfach Rosa canina und machte so dem Durcheinander ein Ende. Aber damit die Verkürzung nützlich war und allgemein anerkannt wurde, reichte Entscheidungsfreude allein nicht aus. Die herausragenden Eigenschaften einer Art zu erkennen, erforderte den richtigen Instinkt, eigentlich sogar ein Genie.
Linnés System setzte sich so allgemein durch, dass wir uns heute kaum noch etwas anderes vorstellen können. Bevor es existierte, bediente man sich häufig sehr sonderbarer Klassifikationssysteme. Tiere teilte man danach ein, ob sie wild lebten oder domestiziert waren, ob sie ihr Dasein an Land oder im Wasser fristeten, ob sie groß oder klein waren, ja sogar danach, ob man sie für hübsch und edel oder unbedeutend hielt. Buffon klassifizierte die Tiere auf Grund ihrer Nützlichkeit für den Menschen. Dagegen spielten anatomische Überlegungen kaum eine Rolle. Linné machte es sich zur Lebensaufgabe, diesen Mangel zu beseitigen; dazu teilte er alle Lebewesen nach ihren körperlichen Merkmalen ein. Die biologische Systematik – das heißt die Wissenschaft der Klassifikation von Lebewesen – hat es nie bereut.
Das alles erforderte natürlich viel Zeit. Die erste Auflage von Linnés großem Werk Systema Naturae, die 1735 erschien, umfasste nur 14 Seiten.9 Aber es wuchs und wuchs, und bis zur 12. Auflage – der letzten, die Linné noch zu Gesicht bekam – War es bereits auf drei Bände und 2300 Seiten angewachsen. Am Ende hatte er darin 13000 Pflanzen- und Tierarten aufgeführt und benannt. Andere Werke waren umfangreicher – die dreibändige Historia Generalis Plantarum aus England, die John Ray eine Generation zuvor vollendet hatte, verzeichnete nicht weniger als 18625 Pflanzenarten10 –, aber Linné hatte weit stärker als alle anderen für Einheitlichkeit, Ordnung, Einfachheit und Zeitlosigkeit gesorgt. Obwohl sein Werk schon in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts erschien, wurde es in England erst nach 1760 allgemein bekannt, gerade noch rechtzeitig, damit Linné für die britischen Naturforscher zu einer Art Vaterfigur werden konnte.11 Nirgendwo wurde sein System mit größerer Begeisterung aufgenommen (das ist unter anderem auch der Grund, warum die Linnean Society ihren Sitz nicht in Stockholm, sondern in London hat).
Aber auch Linné machte Fehler. Er ließ Platz für Fabelwesen und »monströse Menschen«, deren Beschreibungen er arglos von Seeleuten und anderen fantasievollen Reisenden übernahm.12 Darunter war beispielsweise ein wilder Mensch namens Homo ferus, der auf allen vieren ging und die Kunst der Sprache noch nicht beherrschte, sowie Homo caudatus, der »Mensch mit einem Schwanz«. Dabei darf man allerdings nicht vergessen, dass es allgemein ein leichtgläubiges Zeitalter war. Selbst der große Joseph Banks interessierte sich noch Ende des 18. Jahrhunderts brennend und völlig ernsthaft für eine Reihe von Berichten über die angebliche Entdeckung von Meerjungfrauen vor der schottischen Küste. Linnés Schwächen wurden jedoch in den meisten Fällen durch eine stichhaltige, häufig höchst scharfsinnige systematische Einordnung wettgemacht. Neben anderen Leistungen erkannte er als Erster, dass die Wale zusammen mit Kühen, Mäusen und anderen allgemein bekannten Landtieren zur Ordnung der Vierbeiner oder Quadrupedia gehören (aus der später die Säugetiere oder Mammalia wurden).13
Anfangs wollte Linné jeder Pflanze einen Gattungsnamen und eine Zahl geben – Convolvulus 1, Convolvulus 2 und so weiter. Wenig später wurde ihm jedoch klar, dass ein solches System unbefriedigend war, und dann erdachte er die Binominalnomenklatur, die bis heute das Kernstück der biologischen Systematik darstellt. Ursprünglich hatte er vor, das System der zwei Namen auf alles Mögliche anzuwenden – auf Gesteine, Mineralien, Krankheiten, Winde, schlicht auf alles, was es in der Natur gab. Die neue Methode stieß nicht überall auf Gegenliebe. Viele Gelehrte machten sich Sorgen, es könne der Unanständigkeit Vorschub leisten – was nicht der Ironie entbehrt, denn vor Linné waren die Trivialnamen vieler Pflanzen und Tiere von vulgärer Deftigkeit. Der Löwenzahn war in England wegen seiner angeblich Wasser treibenden Wirkung lange Zeit als »Pissnelke« bekannt, und die alltäglichen Namen für andere Pflanzen lauteten unter anderem »Stutenfurz«, »nackte Damen«, »zuckender Hoden«, »Hundepisse«, »offener Arsch« oder »Hinternputzer«.14 Die eine oder andere derart deftige Bezeichnung hat bis heute überlebt. Das Frauenhaarmoos (Polytrichum commune) zum Beispiel ist nicht nach den Haaren auf dem Kopf einer Frau benannt. Insgesamt hatte man jedoch schon lange den Wunsch, der Naturwissenschaft durch eine kräftige Dosis klassischer Namen etwas mehr Würde zu verleihen, und deshalb machte sich ein gewisses Entsetzen breit, als man feststellte, dass der selbst ernannte Fürst der Botanik seine Schriften mit Namen wie Clitoria, Fornicata und Vulva gewürzt hatte.
Im Laufe der Jahre ließ man viele dieser Bezeichnungen stillschweigend fallen (allerdings nicht alle: Die in Amerika sehr verbreitete Pantoffelschnecke hört bei offiziellen Gelegenheiten noch heute auf den Namen Crepidula fornicata), und als die Naturwissenschaften sich immer stärker spezialisierten, kamen viele weitere Verfeinerungen hinzu. Insbesondere wurde das System durch Einführung zusätzlicher Hierarchiestufen ausgebaut. Die Kategorien der Gattung (Genus, Plural Genera) und der Art (Spezies) hatten die Naturwissenschaftler schon vor Linné seit rund 100 Jahren benutzt; Ordnung, Klasse und Familie im biologischen Sinn wurden in den fünfziger und sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts gebräuchlich. Den Begriff Stamm (Phylum) jedoch prägte der deutsche Naturforscher Ernst Haeckel erst 1876, und Familie und Ordnung hatten bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts die gleiche Bedeutung. Eine Zeit lang sprachen Zoologen von der Familie, wo Botaniker den Begriff Ordnung verwendeten, was fast immer zu großer Verwirrung führte.*
Linné hatte die Tierwelt in sechs Kategorien unterteilt: die Säugetiere, Reptilien, Vögel, Fische, Insekten und schließlich die vermes oder Würmer für alle anderen, die nicht in die ersten fünf Gruppen passten. Es lag von Anfang an auf der Hand, dass es unbefriedigend war, Hummer und Krabben in die gleiche Kategorie einzuordnen wie die Würmer, und so schuf man verschiedene neue Kategorien wie Weichtiere (Mollusca) und Krebse (Crustacea), Leider wurden diese neuen Einheiten aber nicht in allen Ländern einheitlich angewandt. In dem Bestreben, die Ordnung wiederherzustellen, verkündeten die Briten 1842 ein neues Regelwerk, das sie als Strickland-Kodex bezeichneten, aber die Franzosen hielten das für anmaßend, und ihre Société Zoologique setzte ihm eigene, widersprechende Regeln entgegen. Zur gleichen Zeit entschloss sich die amerikanische Ornithological Society aus rätselhaften Gründen, die Auflage des Systema Naturae von 1758 als Grundlage für ihre Namensgebung zu verwenden, während anderswo die Auflage von 1766 in Gebrauch war. Das hatte zur Folge, dass viele amerikanische Vögel während des gesamten 19. Jahrhunderts in anderen Gattungen eingesperrt waren als ihre europäischen Vettern. Erst 1902, bei einer der ersten Tagungen des Internationalen Zoologischen Kongresses, waren die Naturforscher endlich kompromissbereit und verabschiedeten ein allgemein anerkanntes Regelwerk.
Die biologische Systematik wird manchmal als Wissenschaft, manchmal auch als Kunst bezeichnet, aber in Wirklichkeit ist sie ein Schlachtfeld. Selbst heute ist das System weniger geordnet, als man meist annimmt. Ein gutes Beispiel ist die Kategorie der Stämme, jener Gruppen, die den verschiedenen Grundbauplänen aller Lebewesen entsprechen. Manche Stämme sind allgemein bekannt, beispielsweise die Weichtiere oder Mollusken (zu denen Muscheln und Schnecken gehören), die Gliederfüßer (Insekten und Krebse) und die Chordatiere (alle Tiere mit einer Wirbelsäule oder einem Wirbelsäulen-Vorläufer einschließlich des Menschen). Darüber hinaus jedoch bewegen wir uns sehr schnell in Richtung des Unbekannten. In diesem Bereich können wir beispielsweise die Kiefermündchen oder Gnathostomulida nennen (eine Gruppe von Meereswürmern), aber auch die Nesseltiere oder Cnidaria (Quallen, Seeanemonen und Korallen) und die empfindlichen Priapswürmer oder Priapulida. Ob sie uns vertraut sind oder nicht – es handelt sich um grundlegende Unterscheidungen. Dennoch besteht bei den Fachleuten erstaunlich wenig Einigkeit darüber, wie viele Tierstämme es gibt oder geben sollte. Die meisten Biologen nennen eine Gesamtzahl von ungefähr 30, einige verlegen sie aber auch in den Bereich knapp über 20; andererseits geht Edward O. Wilson in seinem Buch Der Wert der Vielfalt von ansehnlichen 89 Stämmen aus.15 Es hängt davon ab, wo man die Grenzen zieht, ob man »in einen Topf wirft« oder »splittet«, wie die Biologen in ihrer Umgangssprache sagen.
Auf der eher alltäglichen Ebene der biologischen Art bieten sich sogar noch größere Möglichkeiten für Meinungsverschiedenheiten. Die Frage, ob man eine Grasart als Aegilops incurva, Aegilops incurvata oder Aegilops ovata bezeichnen soll, mag bei Nichtbotanikern vielleicht keine Leidenschaften wecken, aber in den richtigen Kreisen kann sie zum Gegenstand hitziger Debatten werden. Das Problem besteht darin, dass es 5.000 Grasarten gibt, von denen viele selbst für Grasexperten schrecklich ähnlich aussehen. Deshalb wurden manche Arten mindestens 20-mal entdeckt und benannt, und anscheinend gibt es kaum eine, die nicht mindestens zweimal unabhängig nachgewiesen wurde. In dem zweibändigen Handbuch Manual of the Grasses of the United States sind 200 eng bedruckte Seiten dem Versuch gewidmet, alle Mehrfachbenennungen aufzuklären, denn die biologische Wissenschaft bezieht sich immer wieder auf diese unabsichtlichen, aber recht häufigen Doppelungen. Und das sind nur die Gräser eines einzigen Landes.
Für Meinungsverschiedenheiten weltweiten Maßstabs ist eine Institution zuständig, die als Internationale Vereinigung für Pflanzen-Taxonomie (International Association for Plant Taxonomy, IAPT) bezeichnet wird. Sie gibt von Zeit zu Zeit Verlautbarungen heraus und erklärt darin, Zauschneria californica (eine verbreitete Steingartenpflanze) solle zukünftig Epilobium canum heißen, oder Aglaothamnion tenuissimum sei von nun an als die gleiche Art zu betrachten wie Aglaothamnion byssoides, es sei aber nicht identisch mit Aglaothamnion pseudobyssoides. Normalerweise sind das kleine Aufräumungsarbeiten, die kaum Aufmerksamkeit erregen, aber wenn davon beliebte Gartenpflanzen betroffen sind, folgt regelmäßig ein empörter Aufschrei. Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts wurde die allgemein bekannte Chrysantheme (offensichtlich aus stichhaltigen wissenschaftlichen Gründen) aus der Gattung gleichen Namens herausgenommen und der vergleichsweise langweiligen, unattraktiven Gattung Dendranthema zugeordnet.
Die Chrysanthemenzüchter sind eine große, selbstbewusste Branche, und sie protestierten beim Komitee für Spermatophyten – das es tatsächlich gibt, auch wenn es unwahrscheinlich klingt. (Ebenso existieren unter anderem Komitees für Pteridophyten, Bryophyten und Pilze; sie alle sind einer Instanz namens Rapporteur-Général unterstellt, einer Institution, die man wirklich hoch schätzen sollte.) Auch wenn die Nomenklaturregeln angeblich strikt angewandt werden, bleiben die Botaniker nicht unempfindlich für Gefühlsregungen, und 1995 wurde die Entscheidung rückgängig gemacht. Durch ähnliche Beschlüssse rettete man auch Petunien, Pfaffenhütchen und eine beliebte Narzissenart vor der Degradierung, nicht aber mehrere Geranienarten, die vor einigen Jahren trotz allen Protestgeheuls der Gattung Pelargonium zugeschlagen wurden.16 Einen unterhaltsamen Überblick über die Auseinandersetzungen gibt Charles Elliott in The Potting-Shed Papers.
Ganz ähnliche Diskussionen und Neuzuordnungen gibt es auch in allen anderen Gruppen der Lebewesen, und stets auf dem Laufenden zu bleiben, ist nicht so einfach, wie man es sich vielleicht vorstellt. Daraus ergibt sich eine verblüffende Folge: Wir haben nicht die leiseste Ahnung – »nicht einmal eine annähernde Größenordnung«, wie Edward O. Wilson es ausdrückt –, wie viele Arten von Lebewesen auf unserem Planeten zu Hause sind. Die Schätzungen reichen von drei Millionen bis 200 Millionen.17 Und noch erstaunlicher ist, dass nach einem Bericht der Zeitschrift Economist bis zu 97 Prozent der Tier- und Pflanzenarten auf der Erde noch ihrer Entdeckung harren.18
Von den Arten, die wir bereits kennen, sind über 99 Prozent nur skizzenhaft beschrieben – nach Wilsons Worten beschränken sich unsere Kenntnisse meist auf einen wissenschaftlichen Namen, eine Hand voll Exemplare in einem Museum und ein paar bruchstückhafte Beschreibungen in wissenschaftlichen Zeitschriften. In seinem Buch Der Wert der Vielfalt schätzt Wilson die Gesamtzahl der bekannten biologischen Arten – Pflanzen, Insekten, Mikroorganismen, Algen und alle anderen – auf l,4 Millionen, aber er fügt sofort hinzu, dies sei nur eine Vermutung.19 Andere Fachleute setzen die Zahl der bekannten Arten ein wenig höher bei rund 1,5 bis 1,8 Millionen an,20 aber ein zentrales Register gibt es nicht, und deshalb lassen sich die Angaben nicht überprüfen. Kurz gesagt, befinden wir uns in einer eigenartigen Lage: Eigentlich wissen wir nicht, was wir eigentlich wissen.
Im Prinzip sollte es möglich sein, Fachleute für die einzelnen Spezialgebiete zu befragen, wie viele Arten es in ihrem Bereich jeweils gibt, und dann die Zahlen zusammenzuzählen. Das haben tatsächlich viele Autoren getan, aber dabei kamen nur in den seltensten Fällen übereinstimmende Angaben heraus. Manche Quellen geben eine Zahl von 70.000 bekannten Pilzarten an, andere sprechen von 100.000, fast anderthalbmal so viel. Man hört die selbstbewusste Behauptung, die Zahl der bekannten Regenwürmer betrage 4.000, und ebenso selbstbewusst nennen andere eine Zahl von 12000. Bei den Insekten reichen die Angaben von 750.000 bis zu 950.000 Arten. Wohlgemerkt: Das ist jeweils nur die Zahl der angeblich bekannten Arten. Bei Pflanzen liegen die allgemein anerkannten Zahlen zwischen 248.000 und 265.000. Das mag sich nach einem geringen Unterschied anhören, aber allein die Differenz ist zwanzigmal so groß wie die Zahl aller Blütenpflanzenarten in Nordamerika.
Ebenso ist es alles andere als einfach, Ordnung in die Sache zu bringen. Anfang der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts machte sich Colin Groves von der Australian National University an eine systematische Übersichtsuntersuchung der mehr als 250 bekannten Primatenarten. Dabei stellte sich in vielen Fällen heraus, dass die gleiche Art zweimal oder sogar mehrere Male beschrieben worden war, und in allen Fällen hatten die Entdecker nicht erkannt, dass das Tier, mit dem sie es zu tun hatten, der Wissenschaft bereits bekannt war. Vier Jahrzehnte brauchte Groves, um alle Zusammenhänge zu entwirren, und das in einer vergleichsweise kleinen Gruppe von Tieren, die leicht zu unterscheiden sind und um die es in der Regel keine Meinungsverschiedenheiten gibt.21 Was die Folgen wären, wenn jemand sich auf ähnliche Weise mit den schätzungsweise 20000 Flechtenarten der Erde, den 50.000 Weichtieren oder den mehr als 400.000 Käfern befassen würde, weiß niemand.
Nur eines ist sicher: Es gibt eine ungeheure Fülle von Lebensformen. Wie viele es aber tatsächlich sind, kann man nur schätzen, und solche Schätzungen stützen sich auf – manchmal sehr gewagte – Hochrechnungen. Eine Untersuchung, die recht bekannt wurde, unternahm Terry Erwin von der Smithsonian Institution in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts: Er sprühte im Regenwald von Panama eine Gruppe von 19 Bäumen reichlich mit einem Insektizid ein und sammelte alles, was aus den Baumkronen in seine Netze fiel. Zu seinem Fang (in Wirklichkeit waren es mehrere Fänge, denn er wiederholte das Experiment zu verschiedenen Jahreszeiten, um auch wandernde Tierarten zu erfassen) gehörten 1.200 Käferarten. Gestützt auf Kenntnisse über die Verteilung von Käfern in anderen Gebieten, die Zahl der Baumarten in dem Wald, die Zahl der Wälder auf der Erde, die Zahl anderer Insektenarten und zahlreicher weiterer Variablen gelangte er für die ganze Welt zu einer Schätzung von 30 Millionen Insektenarten – eine Zahl, die er später als zu vorsichtig bezeichnete. Andere gingen von den gleichen oder ähnlichen Daten aus und nannten Zahlen von 13 Millionen, 80 Millionen oder 100 Millionen Insektenarten; damit bestätigten sie wieder einmal die Erkenntnis, dass solche Zahlen, so sorgfältig man sie auch ermittelt, sich zwangsläufig ebenso sehr auf Vermutungen stützen wie auf handfeste wissenschaftliche Arbeit.
Nach Angaben des Wall Street Journal gibt es auf der Welt rund 10.000 aktive biologische Systematiker, keine große Zahl, wenn man bedenkt, was es alles aufzuzeichnen gilt. Aber wie das Journal hinzufügt, werden wegen der hohen Kosten (fast 2.000 Euro je Art) und des notwendigen Papierkrieges jedes Jahr insgesamt nur rund 15.000 neue Arten registriert.22
»Wir haben keine Krise der biologischen Vielfalt, sondern eine Krise der biologischen Systematik!«, schimpft der aus Belgien stammende Koen Maes, Leiter der Abteilung für wirbellose Tiere am kenianischen Nationalmuseum in Nairobi, mit dem ich im Herbst 2002 auf einer Reise in das Land kurz zusammentreffe.23 Wie er mir erklärt, gibt es in ganz Afrika keine Fachleute für biologische Systematik. »An der Elfenbeinküste lebte früher einer, aber ich glaube, der ist pensioniert«, sagt er. Die Ausbildung eines Systematikers dauert acht bis zehn Jahre, aber in Afrika gibt es keinen Nachwuchs. »Das sind echte Fossilien«, fügt Maes hinzu. Wie er mir berichtet, wird er selbst Ende des Jahres entlassen. Nach sieben Jahren in Kenia wird sein Vertrag nicht verlängert. »Kein Geld da«, erklärt Maes.
Wie der britische Biologe G. H. Godfray letztes Jahr in der Fachzeitschrift Nature feststellte, leiden die biolo gischen Systematiker überall unter einem chronischen Mangel an Ansehen und Finanzmitteln. Deshalb »werden viele Arten in abgelegenen Zeitschriften schlecht beschrieben, ohne dass der Versuch unternommen wird, ein neues Taxon** mit den bereits bekannten Arten und ihrer Klassifikation in Verbindung zu bringen«.24 Außerdem verbringen Systematiker den größten Teil ihrer Zeit nicht mit der Beschreibung neuer Arten, sondern damit, Ordnung in die bereits vorhandenen Beschreibungen zu bringen. Nach Godfrays Angaben »verwenden viele fast ihre gesamte Berufslaufbahn darauf, die Arbeiten der Systematiker aus dem 19. Jahrhundert zu interpretieren: Sie nehmen die häufig unzureichenden veröffentlichten Beschreibungen auseinander und suchen in den Museen der ganzen Welt nach Belegmaterial, das dann häufig in sehr schlechtem Zustand ist.« Insbesondere weist Godfray darauf hin, wie wenig Aufmerksamkeit man den Möglichkeiten schenkt, die das Internet für die systematische Erfassung der Lebewesen bietet. Die biologische Systematik ist noch heute im Großen und Ganzen eine altmodische Papierwissenschaft.
Einen Versuch, die Dinge in die moderne Zeit zu versetzen, unternahm Kevin Kelly, Mitbegründer der Zeitschrift Wired, im Jahr 2001: Er setzte ein Unternehmen namens All Species Foundation in Gang. Das Ziel: alle Lebewesen zu finden und in einer Datenbank aufzunehmen.25 Die Kosten für ein solches Projekt liegen nach verschiedenen Schätzungen irgendwo zwischen zwei Milliarden und 50 Milliarden US-Dollar. Im Frühjahr 2002 verfügte die Stiftung aber erst über 1,2 Millionen Dollar und vier Vollzeitbeschäftigte. Wenn es stimmt, dass noch bis zu 100 Millionen Insektenarten zu entdecken bleiben und wenn die Entdeckungen sich mit der bisherigen Geschwindigkeit fortsetzen, haben wir erst in etwas mehr als 15000 Jahren endgültig alle Insektenarten erfasst. Für das übrige Tierreich dürfte es noch ein wenig länger dauern.
Warum wissen wir eigentlich so wenig? Die Zahl der Gründe ist fast ebenso groß wie die der Tiere, die noch zu zählen bleiben, aber einige der wichtigsten möchte ich nennen:
Die meisten Lebewesen sind klein und leicht zu übersehen. Unter praktischen Gesichtspunkten ist das häufig gar nicht so schlecht. Wir würden wahrscheinlich weniger ruhig schlafen, wenn wir wahrnehmen würden, dass unsere Matratze etwa zwei Millionen mikroskopisch kleine Milben beherbergt.26 Sie kommen zu nächtlicher Stunde heraus, schlagen sich mit unserem Hauttalg den Bauch voll und tun sich an den leckeren, knusprigen Hautschuppen gütlich, die wir abwerfen, während wir uns im Schlummer herumwälzen. Allein im Kissen leben vielleicht 40000 von ihnen. (Unser Kopf ist für sie ein fetter Leckerbissen.) Und man sollte nicht denken, dass ein sauberer Kissenbezug daran etwas ändert. Für ein Lebewesen von der Größe einer Bettmilbe sieht noch das dichteste Gewebe der Menschen aus wie die Takelung eines Segelschiffes. Wenn das Kissen sechs Jahre alt ist – offenbar das Durchschnittsalter für einen solchen Gegenstand –, besteht sein Gewicht nach Schätzungen zu rund einem Zehntel aus »abgeschilferter Haut, toten Milben und Milbenexkrementen«, so Dr. John Maunder vom British Medical Entomology Center, der entsprechende Untersuchungen angestellt hat.27 (Aber wenigstens sind es unsere Milben. Man denke nur daran, was wir alles aufschnappen, wenn wir in ein Hotelbett steigen.)*** Die Milben begleiten uns seit undenklichen Zeiten, aber entdeckt wurden sie erst 1965.28
Wenn Lebewesen, die so eng mit uns zusammenleben wie die Bettmilben, unserer Aufmerksamkeit bis ins Zeitalter des Farbfernsehens entgehen konnten, ist es eigentlich kein Wunder, dass wir über die Welt des Allerkleinsten auch sonst kaum etwas wissen. Man braucht nur in den Wald zu gehen – in irgendeinen Wald, egal wo – und eine Hand voll Boden aufzuheben. Immer hält man dann bis zu zehn Milliarden Bakterien in der Hand, von denen die meisten der Wissenschaft nicht bekannt sind. Außerdem enthält die Bodenprobe vielleicht eine Million dicke Hefezellen, rund 200.000 behaarte kleine Schimmelpilze, 10000 Protozoen (das bekannteste Lebewesen aus dieser Gruppe ist die Amöbe) sowie eine Vielzahl von Rädertierchen, Plattwürmern, Fadenwürmern und anderen mikroskopisch kleinen Tieren, die zusammenfassend als Kryptozoa bezeichnet werden.29 Auch sie sind größtenteils unbekannt.
Bergey’s Manual of Systematic Bacteriology, das umfassendste Nachschlagewerk über Mikroorganismen, führt rund 4.000 Bakterienarten auf. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts holten sich die beiden norwegischen Wissenschaftler Jostein Goksøyr und Vigdis Torsvik ein Gramm ganz gewöhnlichen Erdboden aus einem Buchenwald in der Nähe ihres Labors in Bergen und analysierten sehr sorgfältig seinen Bakteriengehalt. Nach ihren Feststellungen enthielt allein diese kleine Bodenprobe zwischen 4.000 und 5.000 verschiedene Bakterienarten, mehr als im gesamten Bergey’s Manual verzeichnet sind. Anschließend fuhren sie wenige Kilometer zu einer Stelle an der Küste, holten dort wiederum ein Gramm Erde und stellten fest, dass sie 4.000 bis 5.000 andere Arten enthielt. Edward O. Wilson formuliert es so: »Wenn in zwei winzigen Substratproben von zwei Orten in Norwegen bereits 10000 Mikrobentypen nachzuweisen sind, wie viele mehr harren dann ihrer Entdeckung in anderen, grundverschiedenen Habitaten?«30 Nun, nach einer Schätzung könnten es bis zu 400 Millionen sein.31
Wir suchen nicht an den richtigen Stellen. In seinem Buch Der Wert der Vielfalt schildert Wilson, wie ein Botaniker einige Tage lang auf Borneo durch ein zehn Hektar großes Dschungelgebiet streifte und dabei 1000 neue Arten von Blütenpflanzen entdeckte32 – mehr, als in ganz Nordamerika heimisch sind. Die Pflanzen zu finden, war nicht schwer – in der betreffenden Region hatte einfach noch nie jemand gesucht. Koen Maes vom kenianischen Nationalmuseum erzählte mir von einem Ausflug in den Nebelwald, wie die Bergwälder in Kenia genannt werden. Dort fand er in einer halben Stunde »ohne besonders angestrengtes Suchen« vier neue Tausendfüßerarten, von denen drei sogar neue Gattungen repräsentierten, und eine neue Baumart. »Einen großen Baum«, fügte er hinzu und streckte die Arme aus, als wollte er mit einer sehr großen Partnerin tanzen. Die Nebelwälder gedeihen in Hochebenen und sind in manchen Fällen schon seit Jahrmillionen von anderen Lebensräumen abgeschnitten. »Sie bieten das ideale Klima für biologische Forschungen und sind bisher kaum untersucht«, sagt er.
Die tropischen Regenwälder bedecken insgesamt nur rund sechs Prozent der Erdoberfläche, beherbergen aber mehr als die Hälfte aller Tierarten und etwa zwei Drittel der Blütenpflanzen.33 Der größte Teil dieser Lebensformen ist uns nach wie vor unbekannt, weil nur wenige Wissenschaftler sich in solchen Gebieten aufhalten. Dabei ist es durchaus nicht ohne Bedeutung, dass ein großer Teil der Vielfalt sehr wertvoll sein dürfte. Mindestens 99 Prozent der Blütenpflanzen wurden nie auf einen möglichen medizinischen Nutzen untersucht. Da Pflanzen vor natürlichen Feinden nicht davonlaufen können, mussten sie chemische Abwehrmechanismen entwickeln, und deshalb sind sie besonders reich an interessanten Inhaltsstoffen. Noch heute wird fast ein Viertel aller verschriebenen Medikamente aus nur 40 Pflanzen gewonnen, und weitere 16 Prozent stammen von Tieren oder Mikroorganismen. Mit jedem Hektar abgeholzten Regenwaldes wächst also die Gefahr, dass lebenswichtige medizinische Potenziale vernichtet werden. Eine Methode namens kombinatorische Chemie erlaubt es den Wissenschaftlern, im Labor bis zu 40000 Verbindungen gleichzeitig herzustellen, aber diese Substanzen sind Zufallsprodukte und in aller Regel nutzlos; jedes natürliche Molekül dagegen »hat bereits das bestmögliche Testprogramm hinter sich: mehr als dreieinhalb Milliarden Jahre der Evolution«, wie die Zeitschrift Economist es formuliert.34
Aber um Unbekanntes zu finden, braucht man nicht einmal in abgelegene, weit entfernte Gegenden zu reisen. Richard Fortey berichtet in seinem Buch Leben. Eine Biographie, wie man ein urtümliches Bakterium in der Toilette einer Landgaststätte fand, wo die Männer seit Generationen an eine Wand pinkelten35 – eine Entdeckung, für die neben selten großem Glück und Engagement möglicherweise auch andere, nicht näher benannte Aspekte eine Rolle spielten.
Es gibt nicht genügend Experten. Die Zahl der Dinge, die noch zu entdecken, zu untersuchen und aufzuzeichnen bleiben, ist um ein Vielfaches größer als die Kapazität der Wissenschaftler, die für solche Tätigkeiten zur Verfügung stehen. Ein gutes Beispiel sind die widerstandsfähigen, kaum erforschten Bdelloidea, mikroskopisch kleine Tiere aus der Gruppe der Rotifera oder Rädertierchen, die unter fast allen Bedingungen überleben können. Sind die Lebensumstände ungünstig, rollen sie sich zu einer kompakten Form zusammen, schalten ihren Stoffwechsel ab und warten auf bessere Zeiten. In diesem Zustand kann man sie in kochendes Wasser fallen lassen oder fast bis zum absoluten Nullpunkt – das ist die Temperatur, bei der selbst die Atome zum Stillstand kommen – einfrieren; sobald die Tortur vorüber ist und sie sich wieder in einer angenehmeren Umgebung befinden, rollen sie sich auseinander und leben weiter, als wäre nichts geschehen. Bisher wurden 500 Tiere aus dieser Gruppe identifiziert36 (andere Quellen sprechen allerdings nur von 360), aber niemand hat auch nur entfernt eine Ahnung, wie viele von ihnen es insgesamt gibt. Jahrelang verdankten wir unsere Kenntnisse über sie fast ausschließlich der Arbeit des Londoner Büroangestellten David Bryce, eines engagierten Liebhabers, der sich in seiner Freizeit mit ihnen beschäftigte. Man findet die Bdelloidea überall, und doch könnte man alle Experten für diese Tiergruppe aus der ganzen Welt zum Abendessen einladen, ohne dass man sich Teller von den Nachbarn leihen müsste.
Selbst eine so wichtige, allgegenwärtige Gruppe wie die Pilze zieht relativ wenig Aufmerksamkeit auf sich. Pilze gibt es überall und in vielerlei Formen – Großpilze, Schimmelpilze, Rostpilze und Hefepilze, um nur eine kleine Auswahl zu benennen –, und ihre Biomasse ist größer, als man gemeinhin annimmt. Alle Pilze von einem typischen Hektar Wiese würden zusammen rund 2500 Kilo wiegen.37 Sie sind also durchaus keine nebensächliche Gruppe von Lebewesen. Ohne Pilze gäbe es keine Kartoffelfäule, keine Ulmenkrankheit und keinen Fußpilz, aber auch keinen Joghurt, kein Bier und keinen Käse. Insgesamt wurden rund 70000 Pilzarten nachgewiesen, ihre Gesamtzahl wird aber auf bis zu 1,8 Millionen geschätzt.38 Viele Pilzforscher arbeiten in der Industrie an der Produktion von Käse, Joghurt und Ähnlichem; deshalb ist schwer zu sagen, wie viele von ihnen aktive Forschung betreiben, aber man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass es noch mehr unentdeckte Pilzarten als potenzielle Entdecker gibt.
Die Welt ist groß. Flugverkehr und andere Formen der ommunikation erwecken heute häufig den falschen Eindruck, die Welt sei in Wirklichkeit nicht besonders groß. Unten am Boden jedoch, wo die Wissenschaftler arbeiten müssen, ist sie in Wirklichkeit riesig – so riesig, dass sie voller Überraschungen steckt. Das Okapi, der nächste noch lebende Verwandte der Giraffe, lebt nach heutiger Kenntnis in beträchtlicher Zahl im Regenwald von Zaire – der Gesamtbestand wird auf rund 30000 Tiere geschätzt –, und doch ahnte bis ins 20. Jahrhundert hinein niemand, dass diese Spezies existiert. Der Takahe, ein großer, flugunfähiger Vogel in Neuseeland, galt seit 200 Jahren als ausgestorben, aber dann fand man ihn lebendig in einer zerklüfteten Gegend auf der Südinsel des Landes.39 Als sich eine Gruppe französischer und britischer Wissenschaftler 1995 während eines Schneesturms in einem abgelegenen Tal in Tibet verirrte, stieß sie auf eine Pferderasse namens Riwoche, die man bis dahin nur aus prähistorischen Höhlenmalereien kannte. Die Bewohner des Tales staunten, als sie erfuhren, dass diese Pferde in der Außenwelt als Rarität galten.40
Manche Fachleute sind sogar der Ansicht, dass uns noch größere Überraschungen bevorstehen. »Ein führender britischer Ethnobiologe ist davon überzeugt, dass in den Schlupfwinkeln des Amazonasbeckens ein Megatherium lebt, eine Art Riesenfaultier von der Größe einer Giraffe …«, schrieb der Economist 1995.41 Vielleicht ist es bezeichnend, dass der Name des Ethnobiologen nicht genannt wurde; und noch bezeichnender dürfte es sein, dass man sowohl von ihm als auch von seinem Riesenfaultier nie wieder etwas hörte. Aber andererseits kann niemand definitiv behaupten, so etwas gebe es nicht, solange man nicht jede Lichtung im Dschungel untersucht hat – und davon sind wir weit entfernt.
Aber selbst wenn wir Tausende von Freilandforschern rekrutieren und in die abgelegensten Winkel der Erde schicken würden, wären unsere Bemühungen zu gering: Wo Leben existieren kann, existiert es auch. Die außerordentliche Fruchtbarkeit des Lebendigen ist verblüffend und beruhigend, sie birgt aber auch ihre Probleme. Um uns einen Gesamtüberblick zu verschaffen, müssten wir jeden Stein umdrehen, das Laub auf jedem Waldboden durchstöbern, unvorstellbare Mengen von Sand und Erde durchsieben, in jede Baumkrone klettern und viel effizientere Methoden zur Erforschung der Meere entwickeln. Und selbst dann würden wir noch ganze Ökosysteme übersehen. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts drangen Hobby-Höhlenforscher in Rumänien in einen unterirdischen Hohlraum ein, der über einen langen, aber unbekannten Zeitraum von der Außenwelt abgeschnitten gewesen war. Sie fanden dort 33 Arten von Insekten und anderen kleinen Tieren – Spinnen, Hundertfüßer, Läuse –, alle blind, farblos und in der Wissenschaft bis dahin völlig unbekannt. Sie ernährten sich von den Mikroorganismen im Schaum auf der Oberfläche von Wassertümpeln, und die wiederum bezogen ihre Nährstoffe aus dem Schwefelwasserstoff heißer Quellen.
Auf den ersten Blick mag uns die Tatsache, dass wir nicht alles bis ins Letzte verfolgen können, frustrierend, entmutigend oder sogar widerwärtig erscheinen, aber man kann darin ebenso gut auch etwas fast unerträglich Spannendes sehen. Wir leben auf einem Planeten mit dem mehr oder weniger unendlichen Potenzial, uns immer wieder zu überraschen. Welcher vernünftige Mensch könnte sich etwas Schöneres vorstellen?
Das Faszinierendste bei jedem Streifzug durch die vielfältigen Fachgebiete der modernen Naturwissenschaft ist fast immer die Erkenntnis, wie viele Menschen bereit waren, ihr ganzes Leben den abgelegensten Fragestellungen zu widmen. Stephen Jay Gould berichtet in einem seiner Essays über den von ihm besonders verehrten Henry Edward Crampton, der 50 Jahre lang, von 1906 bis zu seinem Tod im Jahr 1956, in aller Stille eine polynesische Landschneckengattung namens Partula erforschte. Immer und immer wieder, Jahr für Jahr, vermaß Crampton mit äußerster Genauigkeit – bis auf die achte Stelle nach dem Komma – die Spiralen, Bögen und sanften Biegungen unzähliger Partula- Gehäuse und trug die Ergebnisse in komplizierte, detaillierte Tabellen ein. Hinter einer einzigen Zeile in einem Text von Crampton standen unter Umständen wochenlange Messungen und Berechnungen.42
Kaum weniger engagiert und sicher eine größere Überraschung war Alfred C. Kinsey, der in den vierziger und fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts mit seinen Untersuchungen zum Sexualverhalten der Menschen berühmt wurde. Aber bevor ihn der Sex gewissermaßen völlig in Anspruch nahm, war Kinsey Insektenforscher, und zwar ein besonders hartnäckiger. Auf einer Expedition, die sich über zwei Jahre hinzog, wanderte er 4000 Kilometer und fing dabei insgesamt 300.000 Wespen.43 Wie viele Stiche er sich unterwegs einfing, ist leider nicht überliefert.
Für mich war es ein besonderes Rätsel, wie man in einem derart abgelegenen Fachgebiet für eine ununterbrochene Kette von Nachfolgern sorgen kann. Es gibt auf der Welt sicherlich nicht sonderlich viele Institutionen, die darauf aus sind oder auch nur bereit wären, Spezialisten für Rankenfußkrebse oder Pazifikschnecken finanziell zu fördern. Als ich mich am Londoner Natural History Museum von Richard Fortey verabschiede, frage ich ihn, wie in der Wissenschaft gewährleistet wird, dass eine Person nach ihrem Abgang stets durch eine andere ersetzt wird.
Er muss über meine Naivität herzlich lachen. »Ich fürchte, wir haben keine Ersatzspieler, die irgendwo auf der Bank sitzen und warten, bis sie eingesetzt werden. Wenn ein Spezialist pensioniert wird oder – noch unglücklicher – stirbt, geht es in seinem Fachgebiet vielfach nicht mehr weiter, und zwar manchmal für lange Zeit.«
»Und ich nehme an, genau deshalb haben Sie so große Hochachtung vor jemandem, der 42 Jahre lang eine einzige Pflanzenart untersucht, selbst wenn dabei nichts aufregend Neues herauskommt?«
»Genau«, erwidert er. »Ganz genau.« Ich habe den Eindruck, er meint es ernst.
* Ein Beispiel: Der Mensch gehört zur Domäne Eucarya, zum Reich der Tiere (Animalia), zum Stamm der Chordatiere (Cordata), zum Unterstamm der Wirbeltiere (Vertebrata), zur Klasse der Säugetiere (Mammalia), zur Ordnung der Herrentiere (Primates), zur Familie der Hominiden (Hominidae), zur Gattung Homo und zur Art sapiens. (Wie ich erfahren habe, ist es üblich, Gattungs- und Artname kursiv zu schreiben, die Namen der höheren Kategorie jedoch nicht.) Manche Systematiker nehmen weitere Unterteilungen vor: Tribus, Unterordnung, Infraordnung, Kleinordnung und so weiter. zurück
** Der Fachausdruck für zoologische Kategorien wie Stamm oder Gattung. Mehrzahl ist Taxa. zurück
*** In manchen Hygienefragen verschlechtern sich die Verhältnisse sogar. Nach Ansicht von Dr. Maunders hat der Trend zu Niedrigtemperatur-Waschmitteln die Vermehrung des Ungeziefers begünstigt. Er formuliert es so: »Wenn man verlauste Kleidung bei niedrigen Temperaturen wäscht, bekommt man nur saubere Läuse.« zurück