25

A ber wie geht es ihr denn nun?«, fragte ich. »Fenella meine ich.«

»Sie kommt durch.«

Wir fuhren nach Bishop’s Lacey zurück. Der Morris des Doktors summte wie eine Nähmaschine auf Urlaub fröhlich zwischen den Hecken hindurch.

»Schädelbruch«, fuhr er fort, als ich nichts mehr sagte. »Impressionsfraktur des Condylus occipitalis, wie wir Quacksalber das nennen. Hört sich ziemlich schlimm an, was? Dank deines Eingreifens ist es uns zum Glück rechtzeitig gelungen, das gebrochene Stück einigermaßen wieder zurechtzurücken. Es ist durchaus möglich, dass sie wieder ganz gesund wird, aber das muss man abwarten. Wie geht es dir eigentlich?«

Ihm war nicht entgangen, dass ich die Morgenluft in tiefen Atemzügen einsog, weil ich den Zigarettenqualm und den Krankenhausgeruch loswerden wollte. Das Formalin aus der Leichenhalle hatte mich nicht gestört, im Gegenteil, aber von dem Kohlsuppengestank wäre sogar einer Hyäne übel geworden.

»Danke, ganz gut.« Ich lächelte matt.

»Dein Vater ist doch bestimmt sehr stolz auf dich«, fuhr er fort.

»Bitte, erzählen Sie ihm nichts davon! Versprochen?«

Der Doktor sah mich verdutzt an.

»Wissen Sie, Vater hat schon genug Sorgen wegen …«

Vaters finanzielle Notlage war wie gesagt kein Geheimnis in Bishop’s Lacey, schon gar nicht für seine Freunde, zu denen Dr. Darby zählte (der Vikar war der andere).

»Verstehe«, sagte der Doktor. »Von mir erfährt er nichts.«

»Es dürfte sich trotzdem herumsprechen«, setzte er belustigt hinzu.

Mir fiel dazu nichts Besseres ein, als das Thema zu wechseln.

»Eines bereitet mir noch Kopfzerbrechen«, sagte ich. »Die Polizei hat doch Fenellas Enkelin Porcelain ins Krankenhaus mitgenommen. Porcelain hat behauptet, Fenella habe gesagt, ich hätte sie überfallen.«

»Ja, warst du es denn nicht?«, fragte der Doktor schmunzelnd.

Ich ging nicht auf die Frotzelei ein. »Später hat mir der Herr Vikar erzählt, dass er auch im Krankenhaus war, aber Fenella habe das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt. Wer von beiden sagt denn jetzt die Wahrheit?«

»Der Vikar ist ein guter Mensch«, antwortete Dr. Darby. »Ein sehr guter Mensch. Er bringt mir ab und zu Blumen aus seinem Garten, damit ich meine Praxis damit schmücke. Aber manchmal muss man ihn ein bisschen anflunkern. Harmlose Notlügen – zum Wohle der Patienten. Das verstehst du sicherlich. «

Und ob! Mit Notlügen oder gezielten Halbinformationen kannte ich mich aus wie keine zweite. In dieser Kunst war ich eine wahre Großmeisterin.

Darum nickte ich bescheiden. »Der Herr Vikar geht wirklich sehr in seiner Arbeit auf.«

»Zufällig war ich gerade vor Ort, als sowohl die Enkelin der alten Dame als auch der Vikar ins Krankenhaus kamen. Der Vikar ist zwar nicht zu ihr vorgedrungen, aber Mrs Faa war zu diesem Zeitpunkt bei vollem Bewusstsein.«

»Und Porcelain?«

»Als Porcelain bei ihrer Oma war, war Mrs Faa wieder weggedämmert. Patienten mit Schädelverletzungen wechseln oft so rasch zwischen Wachzustand und Bewusstlosigkeit, wie unsereiner von einem Zimmer ins nächste tritt. Ein sehr interessantes Phänomen.«

Aber ich hörte schon nicht mehr richtig zu. Porcelain hatte mich tatsächlich angelogen.

Diese Hexe!

Lügner können es nicht ausstehen, selber belogen zu werden.

»Aber warum hat Porcelain ausgerechnet mich beschuldigt? «

Ich hatte nicht etwa laut gedacht – es war mir versehentlich herausgerutscht.

»Ach …«, sagte Dr. Darby. »›Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, Horatio, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt.‹ Soll heißen, dass der Mensch sich unter großer Anspannung oft merkwürdig verhält. Deine Freundin Porcelain ist eine komplizierte junge Dame.«

»Sie ist nicht meine Freundin!«, erwiderte ich schroff.

»Du hast sie mit zu dir nach Hause genommen und sie bewirtet«, sagte Dr. Darby belustigt, »oder habe ich da etwas falsch verstanden?«

»Sie hat mir leidgetan.«

»Aha. Sonst nichts?«

»Ich wollte sie gern nett finden.«

»Warum das denn?«

Weil ich gern eine Freundin gehabt hätte, natürlich, aber das konnte ich ja wohl schlecht zugeben.

»Wir möchten die Empfänger unserer Wohltätigkeit auch immer nach Möglichkeit gern haben«, sagte der Doktor und bezwang eine scharfe Kurve mit einer überraschenden Demonstration seiner Fahrkünste, »aber eine Voraussetzung ist das nicht. Manchmal ist es sogar ausgeschlossen.«

Plötzlich wünschte ich inständig, ich könnte mich dem guten Mann anvertrauen und ihm alles erzählen. Aber ich brachte es nicht über mich.

Wenn man spürt, dass einem grundlos die Tränen kommen, schneidet man am besten ein anderes Thema an.

»Haben Sie schon mal vom Roten Bullen gehört?«

»Vom Roten Bullen?« Der Doktor wich einem Terrier aus, der plötzlich von irgendwoher kläffend auf die Straße flitzte. »Welchen Roten Bullen meinst du denn?«

»Gibt es denn mehr als einen?«

»Nun ja – der erste, der mir einfällt, wäre der Rote Bulle in St. Elfrieda.«

Er lächelte versonnen, als erinnerte er sich an einen schönen Abend bei Bier und Dartspiel.

»Und welcher noch?«

»Also … es gibt den Roten Bullen auf der grünen Wiese aus Kim, das war der Gott der neunhundert Teufel … den roten Bullen oder Stier der Borgias, das war ein Banner, aber mit goldenem, nicht grünem Grund … das berüchtigte Schauspielhaus Zum Roten Bullen, das 1666 beim großen Brand von London zerstört wurde … den Roten Bullen von England aus der Sage, der dem Schwarzen Stier von Schottland bei einem Kampf auf Leben und Tod gegenüberstand … und im Mittelalter verabreichten die geistlichen Ärzte den Epilepsiekranken das Haar eines Roten Bullen als Heilmittel. Habe ich einen vergessen?«

Ich hatte den Eindruck, als sei der »Rote Bulle«, der Fenella überfallen hatte, nicht dabei gewesen.

Der Doktor bemerkte meine Verwirrung. »Warum fragst du?«

»Nur so. Ich hab das neulich irgendwo gehört … wahrscheinlich im Radio.«

Er glaubte mir nicht, war aber höflich genug, mich nicht zu bedrängen.

»Da ist St. Tankred«, rief ich. »Sie können mich hier am Friedhof rauslassen.«

Dr. Darby bremste. »Willst du ein Gebet sprechen?«

»So ähnlich«, antwortete ich.

Eigentlich wollte ich nachdenken.

Denken und Beten sind so ziemlich dasselbe, wenn man mal drüber nachdenkt – oder? Gebete schickt man zum Himmel empor, Gedanken fliegen einem zu; ansonsten wüsste ich keinen großen Unterschied.

Ich jedenfalls dachte nach, als ich querfeldein nach Buckshaw ging. Ich dachte über Brookie Harewood nach und darüber, wer ihn umgebracht hatte und warum, und das war im Grunde nicht viel anders, als wenn ich für seine Seele gebetet hätte, fand ich.

War das etwa die lang gesuchte Verbindung zwischen christlicher Nächstenliebe und kriminalistischen Ermittlungen? Ich konnte es kaum erwarten, dem Vikar davon zu erzählen.

Nach einer Viertelmeile kam ich an das von Hecken gesäumte Sträßchen, an dem sich Porcelain versteckt hatte.

Meine Füße bogen ohne mein Zutun ab.

Wenn Porcelain klar war, dass ich ihre Oma nicht hatte erschlagen wollen, hatte auch sie von mir nichts dergleichen zu befürchten. Es musste einen anderen Grund gehabt haben, weshalb sie sich im Gebüsch versteckt hatte – einen Grund, der mir bei unserer Begegnung noch nicht eingefallen war.

Ich kletterte über den Zauntritt auf die Straße. Ungefähr hier war sie aus dem Gebüsch gekommen. Ich blieb stehen und lauschte.

»Porcelain?«, fragte ich.

Wie kam ich eigentlich auf die Idee, dass sie noch hier war?

»Porcelain?«

Keine Antwort.

Ich holte tief Luft und war mir darüber im Klaren, dass es womöglich mein letzter Atemzug war. Bei Porcelain konnte man nie sicher sein, ob sie einem nicht im nächsten Augenblick ein Messer an die Kehle setzte.

Noch ein tiefer Atemzug – vorsichtshalber –, dann schlüpfte ich in die Hecke.

Hier hielt sich niemand versteckt, das sah ich gleich. Nur das zertrampelte Unkraut erinnerte noch an Porcelains Hinterhalt.

Ich kauerte mich genauso hin wie sie und versetzte mich in sie hinein. Dabei streifte meine Hand etwas Hartes, im Unkraut Verborgenes. Ich zog es heraus.

Das Ding war schwarz und rund, hatte einen Durchmesser von ungefähr sechs Zentimetern und war aus dunklem, exotischem Holz gefertigt, vielleicht aus Ebenholz. Am Rand waren die Tierkreiszeichen eingeschnitzt. Ich fuhr mit dem Finger über zwei Fische.

Diesen Ring hatte ich zuletzt auf der Kirmes gesehen. Und zwar in Fenellas Zelt auf dem Tisch. Die Kristallkugel hatte darauf geruht.

Porcelain hatte ihn offenbar aus dem Wohnwagen ihrer Oma mitgenommen und sich damit aus dem Staub machen wollen, als ich sie überrascht hatte.

Aber warum? War der Ring ein Erinnerungsstück? Besaß er sentimentalen Wert?

Porcelain trieb mich noch in den Wahnsinn. Immer wieder verhielt sie sich völlig unberechenbar und unlogisch.

Als ich den Ring so betrachtete, fiel mir ein, dass die Kugel ganz offen und darum hervorragend versteckt zwischen meinen Laborgeräten aus Glas stand und ihrer Untersuchung harrte.

Ich hatte sie auf Fingerabdrücke untersuchen wollen, obwohl die meisten Spuren vermutlich im Fluss abgewaschen worden waren. Philip Odell, der Radiodetektiv, hatte Inspektor Hanley mal erklärt, dass die Absonderungen von Handflächen und Fingern überwiegend aus Wasser und wasserlöslichen Stoffen bestanden.

»Daraus folgt, Herr Inspektor«, hatte er gesagt, »dass es Garvin zum Verhängnis wurde, dass er sich mit der Hand durchs Haar gefahren ist. Der Friseur hatte lorbeerölhaltige Pomade verwendet, die zwar in Alkohol, aber nicht in Wasser löslich ist. Nach einer Nacht auf dem Grund des Mühlbachs erkennt man die Fingerabdrücke auf dem Messergriff deutlich genug, um den Schuft an den Galgen zu bringen.«

Ich hatte auch eigene Überlegungen zu diesem Thema angestellt. Zum Beispiel fand sich in jedem Haushalt eine gebräuchliche Substanz, mit der man alle eventuellen Spuren von Mörderhänden wunderbar nachweisen konnte. Sobald ich etwas Zeit erübrigen konnte, würde ich die Kugel untersuchen, alles niederschreiben und Inspektor Hewitt das Ergebnis auf dem Silberteller präsentieren. Er würde meine Aufzeichnungen mit nach Hause nehmen und sie seiner Frau Antigone zeigen.

Der befohlene Kinoabend, die Chorprobe und mein Krankenbesuch bei Fenella hatten mich bis jetzt davon abgehalten – aber heute Abend sollte es endlich so weit sein.

Gerade als ich aus der Hecke schlüpfen wollte, hörte ich ein Fahrzeug kommen. Ich duckte mich und wandte das Gesicht zur Seite, als der Wagen in Richtung Buckshaw vorbeibrauste. Als ich mich schließlich hervorwagte, war das Fahrzeug bereits außer Sichtweite.

 

Ich sah den blauen Vauxhall des Inspektors erst, als ich zwischen den beiden Greifen am Mulford-Tor hindurchging. Der Wagen stand unter den Kastanienbäumen geparkt, und der Inspektor lehnte in abwartender Haltung an der Kühlerhaube.

Er hatte mich schon gesehen. Also musste ich das Beste daraus machen.

»Guten Tag, Herr Inspektor«, sagte ich. »Ich hätte Sie gleich angerufen und Ihnen erzählt, was ich gefunden habe!«

Ich hörte mich an wie eine alberne Plapperliese, aber ich konnte mich nicht beherrschen und hielt ihm den Holzring unter die Nase.

»Das hier lag im Gebüsch an der Straße. Ich glaube, es gehört zu Fenellas Kristallkugel.«

Der Inspektor zog ein Seidentuch aus der Brusttasche und nahm mir den Ring ab.

»Du hättest das Beweisstück nicht anfassen dürfen«, sagte er. »Es wäre besser gewesen, du hättest den Ring dort liegen lassen.«

»Das weiß ich auch – aber ich hab ihn angefasst, bevor ich ihn gesehen habe, sozusagen aus Versehen. Er lag unter dem Unkraut. Ich bin nur mal kurz in die Büsche …«

Seine skeptische Miene verriet mir, dass die Ausrede mit dem »Ruf der Natur« diesmal nicht mehr richtig zog.

»Sie haben mich dort gesehen, stimmt’s? Sonst hätten Sie nicht hier auf mich gewartet.«

Der Inspektor ignorierte meine Schlussfolgerung.

»Steig bitte ein.« Er hielt mir die Seitentür des Vauxhall auf. »Wir müssen uns mal unterhalten.«

Auf dem Beifahrersitz drehte sich Sergeant Graves um, aber seine Miene war ernst. Mir wurde rasch klar, dass ich böse in der Tinte saß.

Dann fuhren wir schweigend bis zum Vordereingang von Buckshaw.

 

Es war meine zweite umfassende Beichte in ebenso vielen Tagen.

Wir saßen im Salon. Das heißt, alle saßen, nur Vater nicht. Er stand am Fenster und schaute zu dem künstlichen See hinüber, als fände dort gerade das spannendste Schauspiel der Welt statt.

Er hatte darauf bestanden, dass auch die anderen dazukamen, weshalb jetzt Feely und Daffy sittsam nebeneinander auf dem geblümten Sofa saßen wie zwei Kröten bei einer Teegesellschaft.

»Es ist äußerst bedauerlich«, sagte Inspektor Hewitt gerade, »dass unsere Ermittlungen derart erschwert werden. Tatorte wurden durcheinandergebracht … an Beweisstücken wurde herumgepfuscht … wichtige Hinweise wurden zurückgehalten … Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.«

Er sprach von mir. Von wem sonst?

»Ich habe versucht, Ihre Tochter zur Vernunft zu bringen, aber es ist mir leider nicht gelungen. Darum muss ich Sie leider bitten, Colonel de Luce, dafür zu sorgen, dass Flavia Buckshaw nicht mehr verlässt, bis unsere Ermittlungen abgeschlossen sind.«

Ich hatte mich wohl verhört! Buckshaw nicht verlassen? Warum verbannte er mich nicht gleich nach Australien und Schluss?

So viel zum Thema Chorproben und künftige Kinoabende im trauten Familienkreis.

Vater brummelte etwas und ließ den Blick vom See zu den fernen Hügeln schweifen.

»Nachdem das erledigt wäre«, fuhr der Inspektor fort, »komme ich zum eigentlichen Grund meines Besuchs.«

Der eigentliche Grund? Mir rutschte das Herz in die Hose.

Der Inspektor zog sein Notizbuch hervor. »Wir haben hier eine Aussage von einer Miss Ursula Vipond. Sie bezeugt, dass sie beobachtet hat, wie jemand etwas aus dem Fluss geholt hat, nämlich eine …«, er blätterte ein paar Seiten um, »… eine Glaskugel.«

Ich riss die Augen auf.

»Der betreffende Jemand war ein Kind, das Miss Vipond als Flavia de Luce identifiziert hat.«

Der Teufel sollte diese Ursula holen! Ich hatte ja gewusst, dass die Wasserhexe dieselbe Frau gewesen war, die auch in Vanetta Harewoods Cottage in Malden Fenwick herumspukte. Die grässliche Person stand auch schon in meinem eigenen Notizbuch; ich hatte nur noch nicht gewusst, wie sie mit Nachnamen hieß.

»Nun, Flavia?«

Der Ton des Inspektors verriet leise Ungeduld.

»Ich wollte Ihnen die Kugel ja bringen«, sagte ich.

»Wo ist sie jetzt?«

»In meinem Labor. Ich kann sie gern holen und …«

»Du bleibst, wo du bist. Sergeant Graves kümmert sich darum. «

Der verdutzte Sergeant löste den Blick von Feely und sprang auf.

»Ich komme mit und zeigen Ihnen den Weg, Sergeant«, sagte Feely.

Diese Verräterin! Dieses kleine Biest! Selbst wenn ihre kleine Schwester in Schwierigkeiten steckte, hatte Ophelia nichts anderes im Kopf als herumzuturteln.

»Das Labor ist abgeschlossen«, warf ich ein. »Ich muss erst den Schlüssel holen.«

Schon war ich an Feely und dem Sergeant vorbei zur Tür hinausgelaufen und hatte die Eingangshalle halb durchquert.

Dabei hatte ich den Schlüssel in der Tasche, aber das würde nie jemand erfahren, es sei denn, man stellte mich auf den Kopf.

Ich flitzte die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal, als wären mir alle Teufel der Hölle auf den Fersen. Ich bog in den Ostflügel ab und rannte den Flur entlang.

Vor meinem Labor hielt ich an und wollte aufschließen, aber der Schlüssel ließ sich nicht richtig drehen, als ob …

Ich drehte den Schlüssel energisch um, die Tür flog auf, und ich torkelte in die Arme von … Porcelain!