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Jetzt war ich wirklich allein.

Oder doch nicht?

Kein Blatt regte sich. Im Fluss machte es Plopp, und ich hielt den Atem an. Ein Otter? Oder etwas Schlimmeres?

Hielt sich der Täter womöglich noch in der Nähe auf? Versteckte er sich zwischen den Bäumen und beobachtete mich?

Unsinn. Ich hatte schon als kleines Kind festgestellt, dass unser Verstand sich nur zu gern mit absurden Geschichten erschreckt, als wären unsere Gehirnwindungen ein Trupp pummeliger Pfadfinderinnen, die im finsteren Schädelinneren ängstlich ums Lagerfeuer sitzen.

Trotzdem erschauerte ich, als der Mond wieder hinter einer Wolke verschwand. Als ich mit der alten Frau hierher gefahren war, war es frisch gewesen, und empfindlich kühl, als ich auf Gry ins Dorf geritten war, um Dr. Darby zu holen. Inzwischen war es schweinekalt.

Aus dem Wohnwagen fiel ein einladender rötlicher Lichtschein in die bläuliche Dunkelheit. Hätte sich aus dem Blechschornstein noch eine Rauchfahne himmelwärts gekräuselt, hätte das Ganze wie einer dieser Kunstdrucke zum Heraustrennen und Einrahmen in den Wochenzeitschriften ausgesehen. Überschrift: Zigeunermond oder so ähnlich.

Dr. Darby hatte die Lampe brennen lassen. Ob ich reingehen und sie löschen sollte?

Unausgegorene Überlegungen von wegen »Petroleum sparen« gingen mir durch den Kopf und noch unausgegorenere Überlegungen von wegen »Bürgerpflicht« und so weiter.

Heiliges Kanonenrohr! Ich suchte doch bloß einen Vorwand, um den Wagen zu betreten und mich in Ruhe am Tatort umzusehen. Warum es nicht zugeben?

»Nichts anfassen«, hatte Dr. Darby gesagt. Gut – dann würde ich eben die Hände in den Taschen lassen.

Meine Fußspuren waren ohnehin schon überall im Wagen verteilt, ein paar zusätzliche machten den Kohl auch nicht fett. Ob die Polizei wohl feststellen konnte, dass die blutverschmierten Abdrücke im Abstand von mehreren Stunden entstanden waren? Mal sehen, dachte ich.

Jedenfalls musste ich mich beeilen. Dr. Darby würde gleich nach seiner Ankunft in Hinley die Polizei anrufen oder jemanden darum bitten.

Ich hatte keine Sekunde zu verlieren.

Die Wahrsagerin führte ein sehr bescheidenes Leben. Ich konnte keine persönlichen Schriftstücke oder Dokumente entdecken, weder Briefe noch Bücher – nicht einmal eine Bibel. Sie hatte sich aber bekreuzigt, weshalb es mir seltsam vorkam, dass kein Exemplar der Heiligen Schrift Platz in ihrem fahrenden Zuhause haben sollte.

In einem Korb neben dem Ofen lag etwas Gemüse, das den Eindruck machte, als hätte sie es von einem Feld aufgeklaubt und nicht auf dem Markt gekauft: Kartoffeln, Steckrüben, Zwiebeln, alles durcheinander.

Ich griff hinein und tastete auf dem Korbboden umher. Nichts. Nur lehmverschmiertes Gemüse.

Dabei wusste ich nicht, wonach ich eigentlich suchte; aber ich würde es erkennen, wenn ich es gefunden hatte. Wenn ich eine Zigeunerin wäre, dachte ich, wäre der Gemüsekorb bestimmt mein Lieblingsversteck.

Jetzt waren meine Hände nicht nur mit Blut, sondern auch mit Erde verschmiert. Ich wischte sie an einem schmuddeligen Handtuch ab, das an einem Nagel hing, aber das half nicht viel. Darum trat ich vor die blecherne Waschschüssel, nahm einen mit Rosenranken bemalten Krug vom Wandregal und goss mir Wasser über die Hände, erst über die eine, dann über die andere. Die Erdklümpchen und das angetrocknete Blut färbten das Wasser schlammig rot.

Unwillkürlich überlief es mich kalt. Rote Blutzellen, das wusste ich von meinen Chemieexperimenten, waren im Grunde nichts anderes als ein Gemisch aus Wasser, Natrium, Kalium, Chlorid und Phosphor. Im richtigen Verhältnis bilden diese Zutaten eine zähe, klebrige Flüssigkeit, ein scharlachrotes Gelee mit geheimnisvollen, teils edlen, teils tückischen Eigenschaften.

Ich trocknete mir die Hände ab, aber als ich den Inhalt der Schüssel eben auf die Wiese kippen wollte, hatte ich zum Glück eine Eingebung: Sei nicht blöd, Flavia! Damit hinterlässt du eine Spur, die so unmittelbar ins Auge springt wie eine Anzeige auf einer Reklametafel!

Inspektor Hewitt würde einen Anfall bekommen. Und ich hegte nicht den geringsten Zweifel, dass mein alter Bekannter derjenige sein würde – vier Uhr morgens hin oder her –, den Dr. Darbys Anruf erreichen würde.

Dr. Darby würde bei einer eventuellen späteren Befragung garantiert aussagen, dass ich mir in seiner Anwesenheit nicht die Hände gewaschen hatte. Und selbst wenn mich das Waschwasser nicht verriet, mochte ich auf keinen Fall zugeben, dass ich gegen seine Anweisung verstoßen und den Wagen betreten hatte.

Darum ging ich zum Flussufer, setzte die Schüssel ab und zog die Schuhe aus. Wenn ich noch ein Paar Schuhe ruinierte, würde Vater durchdrehen.

Das Wasser war eiskalt. Ich wollte die Schüssel in der Mitte ausgießen, wo die träge Strömung kräftiger strudelte, denn in Ufernähe könnten verräterische Spuren im Gras haften bleiben. Zum ersten Mal in meinem Leben dankte ich den höheren Mächten für die Vorzüge eines kurzen Kleides.

Erst als ich knietief im Wasser stand, kippte ich die Schüssel aus und vertraute die verräterische Flüssigkeit der Strömung an. Ich atmete auf. Zumindest dieser Teil der belastenden Spuren war jetzt für Inspektor Hewitt unauffindbar.

Auf dem Rückweg zum Ufer stieß ich mir den großen Zeh an einem unter Wasser liegenden Stein. Beinahe wäre ich kopfüber in den Fluss gefallen, aber ich ruderte wild mit den Armen und fing mich wieder. Zum Glück diente auch die Waschschüssel als Gegengewicht, und ich erreichte – außer Atem, aber aufrecht – das Flussufer.

Halt! Das Handtuch! Daran befanden sich noch die Abdrücke meiner schmutzigen, blutverschmierten Hände!

Ich flitzte wieder zum Wohnwagen. Tatsächlich: Das Tuch war mit deutlichen Abdrücken Flavia-großer Hände verziert. Zum Glück hatte ich noch daran gedacht!

Abermals ging’s zum Fluss, abermals watete ich ins eiskalte Wasser, wo ich das Tuch mehrmals auswusch, rubbelte und wieder auswusch, bevor ich es so fest wie möglich auswrang. Erst als das heraustropfende Wasser im Mondschein ganz klar aussah, stapfte ich wieder ans Ufer.

Ich hängte das Handtuch an seinen Nagel und beruhigte mich wieder. Selbst wenn die Beamten das Baumwollgewebe analysieren würden, dürften sie nichts Verdächtiges mehr finden. Uff!

Ich führe mich auf wie eine Verbrecherin, dachte ich. Dabei würde der Inspektor nie auf die Idee kommen, ich hätte die alte Frau überfallen – oder doch?

Ich war die letzte Person, die in Begleitung der Alten gesehen worden war. Unsere Abfahrt von der Kirmes war ungefähr so unauffällig gewesen wie eine Zirkusparade. Dazu kam der Streit mit Mrs Bull, die vermutlich nur allzu gern ein Mitglied der Familie de Luce belasten würde.

Was hatte Mrs Bull noch gleich gesagt? »Du bist doch eins von den de-Luce-Mädels aus Buckshaw!« Ich hatte immer noch ihre heisere Stimme im Ohr. »Diese kalten blauen Augen erkenn ich überall.«

Nicht eben freundlich. Was hatte sie eigentlich gegen uns?

Ein Geräusch ließ mich herumfahren: das Rumpeln eines Autos, das mit dem Unterboden auf einem ausgefahrenen steinigen Weg aufsetzt, gefolgt von einem mechanischen Knirschen, als hätte jemand einen niedrigeren Gang reingerammt.

Die Polizei!

Ich sprang vom Kutschbock und sauste zur Brücke, um die Haltung eines verlässlichen Wachpostens einzunehmen. Ich kletterte auf die Brüstung und posierte, als säße ich für eine Statue von Wendy aus Peter Pan Modell: in der Hüfte abgewinkelt, beide Hände aufgestützt, den Kopf lauschend schief gelegt, die Stirn konzentriert gerunzelt. Hoffentlich wirkte es nicht allzu übertrieben.

Keine Sekunde zu früh. Schon blinkten die Scheinwerfer zwischen den Bäumen auf, und kurz darauf hielt ein blauer Vauxhall vor der Brücke.

Der grelle Lichtschein erfasste mich. Ich drehte langsam den Kopf und hob gleichzeitig lässig die Hand, als wollte ich meine Augen vor dem brutalen, erbarmungslosen Licht schützen. Ich stellte mir unweigerlich vor, wie dieser Anblick auf den Inspektor wirken musste.

Eine spannungsgeladene Pause entstand, so wie wenn im Theater das Licht ausgeht, das Orchester die Ouvertüre aber noch nicht angestimmt hat.

Eine Autotür schlug zu, und Inspektor Hewitt schlenderte dorthin, wo sich die Scheinwerferkegel trafen.

»Flavia de Luce«, sagte er ausdruckslos – so ausdruckslos, dass ich nicht heraushören konnte, ob er eher begeistert oder verärgert darüber war, ausgerechnet mich an einem Tatort anzutreffen.

»Guten Morgen, Herr Inspektor. Ich freue mich sehr, dass wir uns wiedersehen.«

Ich hoffte einen Augenblick lang, er würde das Kompliment erwidern, aber den Gefallen erwies er mir nicht. Ich hatte ihm vor einiger Zeit geholfen, mehrere rätselhafte Fälle zu lösen. Von Rechts wegen hätte er vor Dankbarkeit übersprudeln müssen – aber weit gefehlt!

Der Inspektor schlenderte bis zum Scheitelpunkt der Brücke und schaute zu dem Wäldchen hinüber, in dem der Wohnwagen abgestellt war.

»Du hast im Tau Spuren hinterlassen«, sagte er.

Ich folgte seinem Blick, und tatsächlich: Im tiefstehenden Licht des Vauxhall waren die frischen Abdrücke meiner Schritte dunkel im nassen, silbrigen Gras der Lichtung zu sehen. Sie unterschieden sich deutlich von Dr. Darbys helleren Fußstapfen und den Reifenspuren seines Wagens und führten vom Wohnwageneingang bis zur Brücke.

»Ich musste mal für kleine Mädchen«, sagte ich rasch. Die klassische weibliche Ausrede, die im Laufe der bekannten Menschheitsgeschichte noch kein Mann je angezweifelt hat.

»Ach so«, sagte der Inspektor und ließ es dabei bewenden.

Vorsichtshalber würde ich nachher mal hinter den Wohnwagen pinkeln, wenn gerade keiner auf mich achtete.

Wir schwiegen beide. Es kam mir vor, als ob wir einander belauerten. Es war wie ein Spiel: Wer als Erster etwas sagt, hat verloren.

In diesem Fall war Inspektor Hewitt der Verlierer.

»Du hast eine Gänsehaut. Setz dich lieber ins Auto.«

Er hatte die Brücke schon fast überquert, als er sich noch einmal umdrehte. »Im Kofferraum liegt eine Decke.« Dann verschwand er zwischen den Bäumen.

Mich packte die Wut. Dieser Mann – ein Mann im gewöhnlichen Anzug, ohne irgendeinen Dienstgrad auf der Schulter – schickte mich von einem Tatort weg, den ich inzwischen als den meinen betrachtete! Wer war zuerst hier gewesen – er oder ich?

Hatte man Marie Curie vielleicht weggeschickt, als sie das Polonium entdeckt hatte? Oder das Radium? Hatte ihr jemand gesagt, sie solle sich ins Auto setzen?

Das war einfach ungerecht!

Natürlich war der Tatort nicht unbedingt eine atombewegende Entdeckung, aber der Inspektor hätte trotzdem wenigstens »Danke schön« sagen können. Schließlich war die Wahrsagerin auf dem Stammsitz meiner Familie überfallen worden! Und meine nächtliche Expedition hoch zu Pferde hatte ihr höchstwahrscheinlich das Leben gerettet!

Er hätte mir wenigstens anerkennend zunicken können! Aber nein …

»Setz dich ins Auto«, hatte er gesagt, und als ich nun bedauernd feststellen musste, dass die Obrigkeit die Bedeutung des Wörtchens »Dankbarkeit« nicht kannte, ballte ich unwillkürlich die Fäuste.

So war es dem Inspektor schon kurz nach seiner Ankunft gelungen, mit wenigen Worten eine Mauer zwischen uns zu errichten. Falls er von Flavia de Luce auch nur den Ansatz einer Zusammenarbeit erwartete, würde er sich jetzt ganz schön ins Zeug legen müssen – jawohl!