12

Porcelain schlief wie eine Tote. Ich hatte mir ganz umsonst Sorgen gemacht.

Ich stand vor dem Bett und betrachtete sie. Sie lag noch genauso da, wie ich sie verlassen hatte. Die dunklen Ringe unter ihren Augen schienen zu verblassen, ihr Atem ging fast unhörbar.

Doch plötzlich sprang sie auf wie ein Schachtelteufel und drückte mich aufs Bett. Ihre Daumen bohrten sich in meine Luftröhre.

»Satan!«, glaubte ich sie fauchen zu hören.

Ich wollte sie abschütteln, konnte mich aber nicht bewegen. Weil ich keine Luft bekam, sah ich lauter kleine Sternchen. Verzweifelt zerrte ich an ihren Händen.

Aber sie war größer und stärker als ich, und meine Lebensgeister schwanden rasch. Wie leicht es doch wäre, einfach aufzugeben …

Nein!

Ich ließ ihre Hände los, nahm ihre Nase zwischen Daumen und Zeigefinger und drehte sie mit allerletzter Kraft herum.

»Flavia!«

Sie schien ganz erstaunt, mich zu sehen – als wären wir alte Freunde, die sich ganz unerwartet vor einem herrlichen Vermeer in der Nationalgalerie getroffen haben.

Sie löste die Hände von meinem Hals, aber ich bekam immer noch nicht richtig Luft. Ich rollte vom Bett auf den Boden und krümmte mich in einem Hustenanfall.

»Was machst du denn?«, fragte sie und sah sich verwirrt um.

»Was machst du denn?«, krächzte ich. »Du hast mir die Luftröhre zerquetscht!«

»O Gott – das wollte ich nicht! Ich hab geträumt, dass ich in Fenellas Wohnwagen bin, und dann kam ein … Ungeheuer und beugte sich über mich. Ich glaube, es war…«

»Ja?«

Sie wandte den Blick ab. »Ich … das kann ich dir leider nicht sagen.«

»Ich erzähl’s auch nicht weiter. Ehrenwort.«

»Nein, ich kann nicht.«

»Dann eben nicht. Ich verbiete dir sogar, es mir zu sagen.«

»Flavia …«

»Ich will’s nicht wissen.« Das meinte ich ehrlich. »Reden wir über etwas anderes.«

Ich musste nur ein wenig Geduld haben – irgendwann würde mir Porcelains Geheimnis schon entgegenquellen wie Hackfleisch aus Mrs Mullets Fleischwolf.

Was mich daran erinnerte, dass ich schon ewig nichts mehr gegessen hatte.

»Hast du Hunger?«, fragte ich.

»Hast du nicht gehört, wie mein Magen knurrt?«

Das hatte ich zwar nicht gehört, aber ich nickte vielsagend.

»Bleib hier. Ich besorge uns was aus der Küche.«

 

Nach zehn Minuten kam ich mit einer Schüssel voller Diebesgut zurück.

»Komm, wir gehen nach nebenan.«

Als wir mein Labor betraten, machte Porcelain große Augen. »Wo sind wir hier? Dürfen wir hier überhaupt rein?«

»Klar. Hier führe ich meine Versuche durch.«

»Zauberst du?« Sie deutete auf die Glasbehälter.

»So ähnlich. Halt mal.«

Sie erschrak, als ich ein Streichholz an den Bunsenbrenner hielt und es leise Popp machte.

»Einfach über die Flamme halten.« Ich gab ihr zwei Würstchen und zwei vernickelte Reagenzglasklemmen. »Aber nicht zu dicht drüber – die Flamme ist sehr heiß.«

Ich schlug sechs Eier in eine Verdunstungsschale aus Borosilikatglas und verrührte das Ganze über einem zweiten Brenner mit einem Glasstab. Im Nu war das Labor von köstlichen Düften erfüllt.

»Jetzt noch Toast«, sagte ich. »Mit den Klemmen kannst du zwei Scheiben auf einmal rösten. Aber schön auf beiden Seiten.«

Die Not hatte aus mir eine fähige Laborköchin gemacht. Erst kürzlich hatte mir Vater Stubenarrest aufgebrummt, und ich hatte mir einen Rindertalgpudding mit Rosinen zubereitet, indem ich Nierenfett aus der Speisekammer in einem weithalsigen Erlenmeyerkolben gekocht hatte. Weil Wasser schon bei 100 Grad Celsius kocht, Nylon aber erst bei 214 Grad schmilzt, hatte sich meine Hypothese bestätigt, dass Feelys kostbare Strümpfe ideale Kochbeutel abgaben.

Es gibt kaum etwas Köstlicheres als ein über dem Bunsenbrenner gebratenes Würstchen – höchstens die Sorglosigkeit, mit der man das Würstchen mit den Fingern isst und das Fett auf den Boden tropfen lässt. Porcelain und ich hauten rein wie zwei Kannibalen nach einem Missionarsengpass und verputzten alles bis auf den letzten Krümel.

Ich setzte in einem Glasbecher Wasser auf und nahm ein Apothekerglas vom Regal, wo es alphabetisch korrekt zwischen Arsen und Cyanid stand. Die Aufschrift lautete: Camellia sinensis.

»Keine Bange«, sagte ich. »Das ist bloß Tee.«

Zwischen uns entstand ein Schweigen, wie es eintritt, wenn sich zwei Leute allmählich besser kennenlernen – noch kein freundschaftliches Schweigen, aber auch kein misstrauisches mehr.

»Wie es deiner Oma wohl geht?«, sagte ich schließlich.

»Ach, bestimmt schon viel besser. Oma ist ein harter Knochen. «Ihre Antwort erstaunte mich.

»Du meinst, sie ist zäh.«

»Nein, hart.«

Sie ließ das Reagenzglas los, mit dem sie gespielt hatte, sodass es auf dem Boden zersprang.

»Aber Oma wird nicht daran zerbrechen«, sagte sie.

Ich verkniff mir eine Entgegnung. Porcelain hatte ihre Großmutter nicht so erlebt, wie ich sie gesehen hatte – der Länge nach auf dem Boden in ihrem eigenen Blut liegend.

»Was einen nicht umbringt, macht einen härter, sagt Oma immer.«

»Du hast sie bestimmt sehr gern gehabt.« Ich biss mir auf die Zunge, denn das klang, als sei Fenella schon gestorben.

»Manchmal schon«, erwiderte Porcelain versonnen, »und manchmal gar nicht.«

Als sie mein verwundertes Gesicht sah, setzte sie hinzu: »Die Liebe ist kein breiter Fluss, der gleichmäßig dahinströmt. Falls du das glaubst, bist du ganz schön naiv. So ein Fluss kann auch irgendwo aufgestaut werden, bis nur noch ein Rinnsal übrig ist …«

»Oder er versiegt ganz«, sagte ich.

Porcelain schwieg.

Ich schaute aus dem Fenster, ließ den Blick über den Visto schweifen und dachte über die Varianten von Liebe nach, die ich kannte. Viele waren es nicht. Dann fiel mir Brookie Harewood ein. Wer hatte ihn so sehr gehasst, dass er ihn umgebracht und auf Poseidons Dreizack gespießt hatte? Oder war nicht Hass, sondern vielmehr Furcht der Auslöser für die Tat gewesen?

Wie auch immer, Brookie dürfte inzwischen auf einem Metalltisch in Hinley liegen, und jemand – ein Verwandter vermutlich – würde die Leiche identifizieren müssen.

Ein weißbekittelter Angestellter würde das Laken von seinem Gesicht ziehen. Eine Frau würde näher treten, nach Luft schnappen, ein Taschentuch vor den Mund halten und sich abwenden.

Das hatte ich alles schon im Kino gesehen.

Und wenn ich mich nicht irrte, würde es sich bei der Frau um Brookies Mutter handeln, die Malerin aus Malden Fenwick.

Aber vielleicht blieb der Mutter dieser Kummer auch erspart. Vielleicht war die Frau, die an den Tisch trat, ja eine Freundin von Brookie. Allerdings war Brookie meiner Meinung nach nicht der Typ, der Freundinnen hatte. Welche Frau fand es schon reizvoll, nachts in Gummistiefeln durch die Gegend zu schleichen und mit toten Fischen zu hantieren?

Ich war so in Gedanken versunken, dass ich nicht gleich mitbekam, dass Porcelain weiterredete.

»… aber nie im Sommer. Im Sommer ließ sie alles stehen und liegen und zog mit Johnny Faa über die Landstraßen, ohne einen Penny in der Tasche. Keiner von beiden hatte Geld, aber sie waren wie ein frisch verliebtes Pärchen. Als Johnny jung war, arbeitete er als Kesselflicker, aber das hatte er aufgegeben, warum, weiß ich nicht. Er fand immer im Nu Freunde, und seine Geige ersetzte ihm jede Fremdsprache. Sie lebten von dem, was Fenella mit Wahrsagen verdiente. Leichtgläubige Menschen gibt es überall.«

»Zum Beispiel ich«, sagte ich.

»Zum Beispiel du«, bestätigte Porcelain nicht eben zartfühlend.

»Haben sie dich mitgenommen?«, fragte ich.

»Ein-, zweimal, als ich noch klein war. Lunita sah es nicht gern, dass ich bei ihnen war.«

»Lunita?«

»Meine Mutter. Sie war Fenellas einziges Kind. Die meisten von uns haben große Familien, aber Lunita war ein Einzelkind und ihr Augenstern. Als sie mit einem Gadjo durchbrannte, einem Engländer aus Tunbridge Wells, brach es Fenella und Johnny das Herz.«

»War das dein Vater?«

Porcelain nickte bekümmert. »Mama hat mir immer erzählt, mein Vater sei ein Prinz und würde auf einem schneeweißen Schimmel, schnell wie der Wind, durch die Lande reiten. Seine Jacke sei aus Goldfäden gewebt, die Ärmel aus feinster Seide genäht. Er könne mit den Vögeln sprechen und sich sogar unsichtbar machen. Ein Teil davon stimmte sogar. Unsichtbar machen konnte er sich wirklich sehr gut.«

Während ich Porcelain zuhörte, kam mir ein Gedanke, so unvermittelt wie eine Sternschnuppe am Nachthimmel: Würde ich meinen Vater gegen ihren eintauschen wollen?

Ich verdrängte den Gedanken rasch wieder.

»Erzähl mir von deiner Mutter«, sagte ich rasch.

»Von der gibt’s nicht viel zu erzählen. Sie musste sich allein durchschlagen. Sie konnte nicht mehr nach Hause, falls man das so nennen kann, weil Fenella und Johnny – vor allem Fenella – sie verstoßen hatten. Meine Mutter hatte nur mich, sie hatte keine Freunde.«

»Schrecklich«, sagte ich. »Wie ist sie damit zurechtgekommen? «

»Sie tat das Einzige, was sie konnte: anderen Leuten die Karten legen. Wenn es ganz knapp wurde, schickte sie mich eine Weile zu Fenella und Johnny. Die kümmerten sich zwar um mich, aber sie fragten nie nach Lunita.«

»Und du hast ihnen auch nichts erzählt?«

»Nein. Dann kam der Krieg, und alles wurde anders. Wir wohnten in einem grässlichen möblierten Zimmer in Moorgate. Lunita hat hinter einem durchs Zimmer gespannten Bettlaken wahrgesagt. Ich war erst vier, deswegen erinnere ich mich nicht mehr richtig. Ich weiß nur noch, dass im Bad eine Spinne in einem Loch in der Wand wohnte.

Wir blieben vier Jahre dort. Ich war acht, als im Fenster des leerstehenden Hauses nebenan eines Tages ein Schild hing. Die Vermieterin erzählte Lunita, dass in dem Haus ein Soldatenkasino eingerichtet würde.

Auf einmal verdiente Lunita mehr Geld, als sie ausgeben konnte. Ich glaube, sie hatte ein schlechtes Gewissen wegen der vielen Kanadier, Amerikaner, Neuseeländer und Australier – sogar wegen der Polen –, die vor unserem Zimmer Schlange standen und sich wahrsagen lassen wollten. Lunita wollte nicht den Eindruck erwecken, sie würde Profit aus dem Krieg schlagen. Ich werde nie vergessen, wie ich sie weinend im Bad fand. ›Die armen Jungs!‹, schluchzte sie. ›Alle wollen nur eines wissen: Komme ich lebendig wieder nach Hause?‹«

»Und was hat sie den Soldaten erzählt?«

»›Du kehrst ruhmreicher zurück, als du gegangen bist‹, war ihr Standardspruch für eine halbe Krone pro Mann.«

»Wie traurig«, sagte ich.

»Traurig? Nein, das waren damals die schönsten Tage unseres Lebens. Wir wussten es bloß nicht. Im Kasino trieb sich ein Offizier herum, ein großer Kerl mit einem kleinen blonden Schnurrbart. Ich habe ihn auf der Straße gesehen, wenn er kam oder ging. Er hat nie viel gesagt, aber er hatte etwas Lauerndes. Eines Tages lud ihn Lunita aus Jux ein und legte ihm die Karten. Es war Sonntag, deshalb verlangte sie kein Geld von ihm.

Ein paar Tage darauf arbeitete sie für M-I-Irgendwas. Was sie auch in den Karten gesehen hatte, sie hatte wohl den Nagel auf den Kopf getroffen. Irgendjemand im Ministerium, der herausfinden wollte, was Hitler als Nächstes plante, hatte von der Zigeunerin erfahren, die in Moorgate Karten legte.

Lunita wurde zum Mittagessen ins Savoy eingeladen. Anfangs war es wohl eher ein Spiel, vielleicht sollte sich ja herumsprechen, dass sich die Engländer aus lauter Verzweiflung auf eine Wahrsagerin verließen.

Aber wieder kam das, was sie ihnen erzählte, der streng geheimen Wahrheit so nahe, dass die Männer ihren Ohren nicht trauten. Sie vermuteten, Lunita sei eine Spionin und ließen extra einen Fachmann aus Bletchley Park nach London kommen, um sie zu vernehmen. Sie sagte dem Mann auf den Kopf zu, dass er großes Glück hätte, dass er noch am Leben war, und dass eine Krankheit ihn gerettet hätte.

Genau so war es gewesen. Er war den Amerikanern gerade als Verbindungsoffizier zugeteilt worden, als ihn eine Blinddarmentzündung daran hinderte, an einer Übung für die Landung in der Normandie teilzunehmen. »Manöver Tiger« hieß das damals. Das Ganze war schlecht vorbereitet – Hunderte von Soldaten kamen dabei um. Die Geschichte wurde selbstverständlich totgeschwiegen. Der Offizier war völlig von den Socken. Lunita bestand den Test mit Glanz und Gloria, und bald darauf – beziehungsweise nach ein paar Stunden – saßen wir in einer schicken neuen Wohnung in Bloomsbury.

»Deine Mutter besitzt offenbar erstaunliche Fähigkeiten«, sagte ich.

Porcelain sank in sich zusammen. »Besaß«, erwiderte sie tonlos. »Sie starb einen Monat danach. Eine VI-Rakete schlug auf der Straße vor dem Luftfahrtministerium ein. Das war vor sechs Jahren. Im Juni.«

»Mein Beileid«, sagte ich. Porcelain und ich hatten etwas gemeinsam, und sei es auch nur, dass unsere Mütter viel zu früh gestorben waren und uns allein gelassen hatten.

Wie gern hätte ich ihr von Harriet erzählt – aber ich brachte es nicht über mich. Es hätte ausgesehen, als wollte ich meinen Kummer mit ihrem messen.

Stattdessen machte ich mich daran, die Reagenzglasscherben aufzusammeln.

»Lass mich das aufheben«, sagte sie.

»Schon gut«, erwiderte ich. »So was passiert mir öfter.«

Ich mag keine Ausreden, aber ich konnte ihr wohl kaum die Wahrheit sagen: dass ich die Dinge lieber eigenhändig in Ordnung brachte.

Ist das ein Vorgeschmack darauf, wie es ist, eine Frau zu sein?, überlegte ich.

Ich hoffte es … und auch wieder nicht.

 

Wir saßen auf meinem Bett. Porcelain lehnte sich an das Kopfteil, ich hockte im Schneidersitz am Fußende.

»Bestimmt willst du deine Oma bald wieder besuchen«, sagte ich.

Porcelain zuckte die Achseln, was ich irgendwie verstehen konnte.

»Die Polizei weiß noch nicht, dass du hier bist. Es ist wohl besser, wenn wir ihnen Bescheid geben.«

»Wahrscheinlich.«

»Wir können aber auch bis morgen früh damit warten. Ich bin jetzt zu müde zum Nachdenken.«

Ich konnte die Augen kaum noch offen halten, war einfach zu erschöpft, um mich noch weiter mit irgendwelchen Problemen zu befassen. Das allergrößte Problem war, Porcelains Anwesenheit in unserem Haus geheim zu halten. Es wäre wirklich das Letzte gewesen, wenn Vater auch noch die Enkelin von Fenella und Johnny Faa fortjagte.

Fenella lag im Krankenhaus von Hinley und konnte ebenso gut längst tot sein. Wenn ich herausbekommen wollte, was es mit dem Überfall auf sie – und mit dem Mord an Brookie Harewood – auf sich hatte, musste ich mich bedeckt halten.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis Inspektor Hewitt vor der Tür stehen und sich erkundigen würde, unter welchen Umständen ich Brookies Leiche entdeckt hatte. Ich musste mir gut überlegen, wie viel ich ihm verraten wollte.

Mir schwirrte der Kopf. Wie lustig ist doch das Leben von Flavia de Luce, dachte ich mit einem Anflug von bitterem Humor.

Dann war es auf einmal Morgen, und die Sonne flutete durch die Fenster.