13

Träge blinzelnd wälzte ich mich auf die Seite. Ich hatte quer über dem Fußende des Bettes gelegen und den Kopf beim Schlafen unbequem abgewinkelt. Am Kopfende schmiegte sich Porcelain in mein Kopfkissen, hatte die Decke bis ans Kinn gezogen und schlummerte sanft wie eine morgenländische Prinzessin.

Ärger wallte in mir auf, schlug aber gleich in Mitleid um, als mir einfiel, was sie mir am Abend zuvor erzählt hatte.

Mit einem Blick auf die Uhr stellte ich erschrocken fest, dass ich verschlafen hatte. Ich kam zu spät zum Frühstück. Vater bestand darauf, dass die Mahlzeiten gemeinsam eingenommen wurden, pünktlich und mit militärischer Präzision.

Ich ließ Porcelain schlafen, zog mich rasch um, fuhr mir mit der Bürste durchs Haar und schlich nach unten.

Vater war wie üblich in die neueste Ausgabe des British Philatelist versunken und nahm meine Ankunft kaum zur Kenntnis, ein untrügliches Zeichen dafür, dass schon bald die nächste Briefmarkenauktion stattfand. Wenn unsere Finanzlage wirklich so heikel war, wie er behauptete, musste er sich über die aktuellen Preise informieren. Beim Essen machte er sich mit einem Bleistiftstummel Notizen auf einer Serviette und weilte ansonsten in seiner eigenen Welt.

Als ich mich auf meinen Stuhl schob, bedachte mich Feely mit dem eiskalten Blick, den sie sich in den Kino-Wochenschauen von Königin Mary abgeschaut hatte und mittlerweile vollendet beherrschte.

»Du hast einen Pickel im Gesicht«, stellte ich sachlich fest und goss Milch auf mein Weetabix.

Sie tat so, als hätte sie mich nicht gehört, aber im nächsten Augenblick beobachtete ich voller Genugtuung, wie sie ihre Wange betastete. Es war, als würde man in einem Kulturfilm einer Krabbe dabei zusehen, wie sie träge über den Meeresgrund kroch. Diese Filme waren oft in Farbe und hießen Wundersames Leben im Ozean oder so ähnlich.

»Pass auf, Feely!«, sagte ich warnend. »Gleich platzt er.«

Daffy schaute von ihrem Buch auf, der Ausgabe von Ein Spiegel für London und ganz Engelland, die ich auf der Kirmes entdeckt hatte. Die hinterhältige Kröte hatte es für sich gekauft!

Ich nahm mir vor, es ihr irgendwann zu stibitzen.

»Was bedeutet eigentlich die Redensart: ›wie ein Hering ohne Senf‹?«, fragte ich.

Daffy biss sofort an. Sie ließ keine Gelegenheit aus, sich mit ihrem überlegenen Wissen zu brüsten.

In Gedanken war ich bereits alles durchgegangen, was ich über Senf wusste. Viel war es nicht. Senf enthielt unter anderem Ölsäure, Erucasäure, Behensäure und Stearinsäure. Stearinsäure war auch ein Bestandteil von Rinder- und Hammeltalg – ich hatte mal einen von Mrs Mullets fettigen Sonntagsbraten einer chemischen Analyse unterzogen –, und ich hatte nachgeschlagen, dass die Erucasäure ihren Namen vom griechischen Wort für »sich erbrechen« hatte.

»Hering galt im 16. und 17. Jahrhundert als minderwertiger Fisch.« Daffy musterte mich vielsagend.

Ich schielte zu Vater hinüber. Schaute er her? Nein.

»Nicholas Breton nennt Hering ›ein nahrhaftes Gericht für derbe Mägen‹.« Daffy plusterte sich stolz auf. »Er schreibt auch, Lengfisch – das ist eine Dorschart, falls du das nicht weißt – sei ›ein Blaurock ohne Emblem‹, was auf einen Lakaien anspielt, der nicht das Wappen seines Herrn trägt.«

»Bitte, Daphne …«, sagte Vater ohne aufzublicken, und sie verstummte.

Letzteres war ein Seitenhieb gegen Dogger gewesen. So wurde auf Buckshaw Krieg geführt: unsichtbar und manchmal sogar lautlos.

»Reichst du mir bitte mal den Toast?«, wandte sich Daffy so höflich an mich, als würde sie einen Fremden im A.B.C.-Teeladen ansprechen – und als hätte es die letzten elf Jahre meines Lebens nie gegeben.

»Die Fosters haben jetzt einen neuen Badminton-Platz«, verkündete Feely unvermittelt. »Auf dem alten will Sheila ihren Daimler parken.«

Vater brummte etwas Unverständliches, hörte aber schon nicht mehr richtig zu.

»Sheila ist eine eingebildete Zicke«, fuhr Feely fort. »Sie hat von Copley Erfrischungen liefern lassen, aber statt Eiskrem hat sie Schnecken serviert – Escargots! Wir haben sie roh gegessen wie Austern, so wie es die Filmstars machen. Das war vielleicht lustig.«

»Pass beim nächsten Mal lieber auf«, sagte ich. »Manchmal geraten versehentlich Blutegel unter die Schnecken. Wenn du einen Blutegel verschluckst, frisst er deinen Magen von innen ratzeputz auf.«

Aus Feelys Wangen wich alles Blut, als hätte man einen Stöpsel gezogen.

»Vor drei Wochen stand mal was darüber im Hinley-Kurier«, ergänzte ich hilfsbereit, »über einen Mann aus St. Elfrieda, was ja ganz in der Nähe liegt. Der Mann hatte einen Blutegel verschluckt und musste daraufhin …«

Aber Feely war schon aufgesprungen und davongestürzt.

»Ärgerst du schon wieder deine Schwester, Flavia?«, fragte Vater. Er schaute von seiner Zeitschrift auf, ließ aber den Zeigefinger zwischen den Seiten.

»Ich wollte nur das aktuelle Zeitgeschehen mit ihr erörtern«, antwortete ich, »aber es schien sie nicht sonderlich zu interessieren.«

»Aha.« Vater widmete sich wieder dem Artikel über die Plattenfehler der Tuppenny Blue von 1840.

Wenn Vater mit am Tisch saß, benahmen wir uns wenigstens halbwegs zivilisiert.

Ich blieb noch ein paar Anstandsminuten sitzen, und als ich aufstand, hielt mich erfreulicherweise niemand zurück.

 

Mrs Mullet stand in der Küche und malträtierte einen Hühnerleichnam mit einem Knäuel Metzgerschnur.

»Wenn man das Hühnchen nicht richtig dressiert, wird es nicht knusprig«, verkündete sie. »Hat mir Mrs Chadwick droben auf Norton Old Hall erklärt, und die muss es ja wissen. Sie hat mir alles beigebracht, was ich weiß und kann. Das war zu den Zeiten von Lady Res-Wells, da warst du noch gar nicht auf der Welt, Schatz. ›Dreimal über Kreuz dressieren‹, hat sie gesagt, ›dann musst du auch hinterher nicht den Herd auskratzen. ‹ Was ist denn daran so komisch, Fräuleinchen?«

Mir war ein hysterisches Kichern entfahren, als ich wieder vor mir sah, wie ich von meinen eigenen Schwestern gefesselt worden war.

Was mich daran erinnerte, dass ich mich noch nicht dafür gerächt hatte. Gut, ich hatte eine Bemerkung über Blutegel losgelassen, aber das war eher zum Aufwärmen gewesen, höchstens ein Vorspiel für den großen Vergeltungsschlag. Andererseits war ich auch viel zu beschäftigt mit anderen Dingen.

Als Mrs M den unglückseligen Vogel dem AGA-Herd in den Rachen schob, mopste ich rasch ein Glas Erdbeermarmelade aus der Vorratskammer.

»Dreimal über Kreuz!«, sagte ich und schnitt Mrs Mullet eine schaurige Grimasse, als handelte es sich um die Losung einer Geheimgesellschaft, deren einzige Mitglieder sie und ich waren. Mit der Rechten machte ich das Victory-Zeichen und lenkte sie erfolgreich von dem Marmeladenglas in meiner Linken ab.

Oben angekommen, öffnete ich ganz leise meine Zimmertür. Ich wollte Porcelain nicht wecken, sondern ihr nur einen Zettel hinlegen, dass ich später wiederkommen würde. Wo ich hinwollte, brauchte ich ihr ja nicht mitzuteilen.

Der Zettel war überflüssig. Das Bett war ordentlich gemacht, und Porcelain war verschwunden.

Zum Teufel mit dem Mädel!, dachte ich. Hatte sie nicht begriffen, dass sie mein Zimmer nicht verlassen durfte?

Wo steckte sie? Lustwandelte sie durch die Zimmerfluchten von Buckshaw, wo man sie bestimmt erwischen würde? Oder war sie in den Wohnwagen ihrer Oma zurückgekehrt?

Eigentlich hatte ich mit ihr aufs Polizeirevier gehen wollen, damit sie sich bei Wachtmeister Linnet meldete. Damit hätte ich nicht nur meine Bürgerpflicht getan, sondern auch gleich hören können, was die Beamten mit ihr besprechen würden. Wachtmeister Linnet würde seine Vorgesetzten in Hinley verständigen und die wiederum Inspektor Hewitt. Der Inspektor wäre mir zu großem Dank verpflichtet gewesen.

Es hätte so einfach sein können. Dieses verflixte Mädchen!

Ich marschierte wieder in die Küche, zwinkerte Mrs Mullet zu und raunte: »Dreimal über Kreuz!«

Gladys wartete an der Gartenmauer, und Dogger war im Gewächshaus beschäftigt.

Doch als ich davonradelte, spürte ich seinen Blick im Rücken.

 

Malden Fenwick lag östlich von Bishop’s Lacey, nicht weit hinter Chipford.

Obwohl ich noch nie dort gewesen war, kam mir alles seltsam bekannt vor. Kein Wunder: »Das schönste Dorf Englands«, wie es manchmal genannt wurde, war schon bis zum Erbrechen fotografiert worden. Die hübschen Cottages aus elisabethanischer und georgianischer Zeit mit ihren Reetdächern und ihrem Fachwerk, die Stockrosen und Butzenscheiben, der Ententeich und die Zehntscheune waren nicht nur in Hunderten von Büchern und Zeitschriften abgebildet, sondern hatten auch als Drehort für etliche bekannte Filme wie Honig zu verkaufen und Miss Jenks zieht in den Krieg gedient.

»Die Gartenkolonie«, nannte es Daffy immer.

In diesem Dorf wohnte Brookie Harewoods Mutter, hier hatte sie ihr Atelier. Aber welches der Cottages war ihres?

Vor dem Roten Ochsen parkte ein grüner Ausflugsbus mit offenem Dach, dessen Passagiere soeben auf die Hauptstraße strömten. Sie hatten die Fotoapparate gezückt und schwärmten schussbereit wie eine Schar Revolverhelden nach allen Richtungen aus.

Ein paar ältere Dorfbewohner, die in ihren Vorgärten werkelten, richteten ihre Frisuren und rückten die Krawatten zurecht, und schon klickten die Apparate drauflos.

Ich stellte Gladys an einer alten Ulme ab und ging um den Bus herum.

»Guten Morgen«, begrüßte ich eine Dame mit Sonnenhut, als würde ich helfen, den Imbiss zu organisieren. »Herzlich willkommen in Malden Fenwick. Woher kommen Sie denn?«

»Hör nur, Mel«, sie drehte sich nach ihrem Mann um, »hat die Kleine nicht einen bezaubernden Akzent? Wir sind aus Yonkers, meine Kleine, das liegt nördlich von New York. Aber davon hast du bestimmt noch nie gehört.«

Und ob! In Yonkers wohnte Leo Baekeland, der belgische Chemiker, der zufällig das Polyoxybenzylmethylenglycolanhydrid, besser bekannt als Bakelit, erfunden hatte, als er nach einem synthetischen Ersatz für Schellack suchte, der vor Baekelands Entdeckung aus den Ausscheidungen einer Laus gewonnen wurde.

»Doch«, sagte ich, »von Yonkers hab ich schon mal gehört, glaub ich.«

Mel war inzwischen eifrig damit beschäftigt, seine Kamera nachzuladen, während er auf ein weiß getünchtes Cottage zuschlenderte und seine schmollende Tochter hinter sich herschleifte, die von der Europareise anscheinend die Nase gestrichen voll hatte.

Ich trat von einem Fuß auf den anderen, während Mel eine weißhaarige Frau in Tweedkleidung knipste, die auf einer wackligen Leiter stand und Kletterrosen zurückschnitt.

Dann wanderte er auf der Suche nach dem nächsten Motiv davon, und ich stellte mich ans Gartentor, als würde ich die Blütenpracht bewundern.

Ich fragte mit dem besten amerikanischen Akzent, den ich zustande brachte: »Entschuldigen Sie bitte, aber steht dort nicht das Haus von Wieheißtsienochgleich?« Ich zeigte in Richtung Dorfanger. »Diese Malerin?«

»Vanetta Harewood. Glebe Cottage«, erwiderte die Frau freundlich und wedelte mit der Gartenschere. »Das letzte Haus rechts.«

Es war so leicht, dass ich mich fast schämte.

Vanetta Harewood … Der Name passte gut zu jemandem, der den Landadel und sein Viehzeug porträtierte.

Es mochte nicht unbedingt von allerbestem Geschmack zeugen, sich einer Mutter aufzudrängen, die gerade ihren Sohn verloren hatte, aber ich musste unbedingt einiges in Erfahrung bringen – und dabei der Polizei zuvorkommen. Das war ich Fenella Faa und, in gewisser Weise, meiner eigenen Familie schuldig. Zum Beispiel, was Vanetta Harewoods Sohn mitten in der Nacht – und kurz vor seiner Ermordung – im Salon von Buckshaw gewollt hatte.

Ich nahm nicht an, dass Brookies Mutter mir diese Frage beantworten konnte, aber vielleicht konnte sie mir trotzdem weiterhelfen.

Glebe Cottage war tatsächlich das letzte Haus auf der rechten Straßenseite. Es war doppelt so groß wie die anderen Häuser, als hätte man zwei Cottages wie Dominosteine aneinandergeschoben. Jede der beiden spiegelbildlichen Haushälften hatte einen eigenen Eingang, ein eigenes Bleiglasfenster und einen eigenen Schornstein.

Es gab jedoch nur ein Gartentor. Auf dem Messingschild stand eingraviert: Vanetta Harewood – Porträtmalerin.

Ich musste an einen Abend im Frühling denken, als uns Daffy bei einer der von Vater eingeführten literarischen Zusammenkünfte aus Boswells Dr. Samuel Johnson: Leben und Meinungen vorgelesen hatte. Johnson bezeichnete das Malen von Porträts als unschickliche Beschäftigung für Frauen. »Die öffentliche Ausübung von Kunst im Allgemeinen und das Begaffen von Männerantlitzen im Besonderen ist beim weiblichen Geschlecht in höchstem Maße anstößig«, hatte er behauptet.

Als ich Dr. Johnsons Porträt auf dem Bucheinband gesehen hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass irgendwer, ganz gleich ob Mann oder Frau, ihn freiwillig begaffen mochte. Der Kerl sah aus wie eine Kröte!

Hinter dem Tor erstreckte sich der Garten von Glebe Cottage wie ein stahlblaues Meer: der hohe Rittersporn in seiner zweiten Blüte schien sich hinter dem Salbei auf die Zehenspitzen zu stellen, als wetteiferten die Pflanzen darum, welche als Erste bis in den Himmel wuchs.

Von Dogger wusste ich, dass man Rittersporn zwar ein zweites Mal zum Blühen bringen konnte, indem man ihn nach der ersten Blüte energisch herunterschnitt, dass aber kein vernünftiger Gärtner so etwas tat, weil man damit den ganzen Stock schwächte.

Eine vernünftige Gärtnerin war Vanetta Harewood schon mal nicht.

Ich betätigte die Porzellanklingel, trat einen Schritt zurück, blickte himmelwärts und schürzte die Lippen, als pfiffe ich vor mich hin. Womöglich stand hinter den Vorhängen jemand auf der Lauer, und ich wollte unbedingt völlig harmlos wirken.

Ich wartete. Schließlich klingelte ich noch einmal. Drinnen polterte es, als würde eine Möbelbarrikade beiseitegeräumt.

Als die Tür urplötzlich aufging, rang ich erschrocken nach Luft. Vor mir stand eine kräftige Frau in Reithosen und lavendelfarbener Bluse. Ihr kurzgeschnittenes graues Haar lag dicht am Kopf an wie ein Aluminiumhelm.

Sie klemmte ein Schildpattmonokel ins Auge und musterte mich streng.

»Ja bitte?«

»Mrs Harewood?«

»Nein«, sagte sie und schlug mir die Tür vor der Nase zu.

Also so was!

Vater war der Ansicht, Unhöflichkeit, die nicht auf Unwissenheit beruhte, sei eine typische Eigenschaft der Aristokratie. Ich klingelte zum dritten Mal. Ich wollte nach dem Weg fragen.

Diesmal blieb die Tür zu, und aus dem Haus kam kein Laut mehr.

Aber halt! Das Cottage hatte ja zwei Haustüren. Wahrscheinlich hatte ich einfach die falsche erwischt.

Ich verpasste mir selbst eine Kopfnuss, ging zur anderen Tür und betätigte den Türklopfer.

Die Tür flog auf, und Reithose stand wieder vor mir. Sie funkelte mich bitterböse an, wenn auch ohne Monokel.

»Könnte ich wohl Mrs Harewood sprechen?«, bat ich. »Es geht um …«

»Nein! Verschwinde!«

Doch ehe sie die Tür zuschlagen konnte, rief jemand drinnen im Haus: »Wer ist da, Ursula?«

»Eine Hausiererin«, rief Reithose über die Schulter. Mich schnauzte sie an: »Wir wollen keine Kekse!«

Ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf.

»Guten Tag, Mrs Harewood!«, rief ich. »Es geht um Brookie! «

Es war, als hätte ich einen Zauberspruch aufgesagt, der die Zeit anhielt. Die Frau an der Tür stand reglos da wie eine lebensgroße Ausschneidefigur aus einem Bilderbuch. Sie atmete nicht mal.

»Bitte, Mrs Harewood! Ich bin Flavia de Luce aus Bishop’s Lacey.«

»Lass sie rein, Ursula«, rief es.

Auch als ich mich an ihr vorbeidrängte, rührte sich Ursula nicht vor der Stelle.

»Ich bin hier«, hörte ich es sagen.

Wahrscheinlich hatte ich eine verschrumpelte Miss Havisham erwartet, die hinter zugezogenen Vorhängen umgeben von muffigen Schätzen ihr Dasein fristete. Aber ich irrte mich gewaltig.

Vanetta Harewood stand in einem Streifen aus Sonnenlicht am Erkerfenster, drehte sich um und streckte mir beide Hände entgegen.

»Vielen Dank, dass du gekommen bist.«

Sie sah höchstens aus wie fünfundvierzig, dabei musste sie viel älter sein. Wie in aller Welt konnte so ein entzückendes Geschöpf die Mutter von Brookie Harewood sein?

Sie trug ein elegantes dunkles Kostüm mit Seidenkragen. Brillanten funkelten an ihren Händen.

»Ich muss mich für Ursula entschuldigen«, sagte sie und nahm meine Hand, »aber sie will mich nur beschützen, und dabei übertreibt sie es manchmal ein bisschen.«

Ich nickte benommen.

»Mein Beruf verlangt äußerste Diskretion, verstehst du, und jetzt, da …«

»Ich verstehe schon. Das mit Brookie tut mir sehr leid.«

Sie nahm eine Zigarette aus einem Silberetui, zündete sie mit einem Silberfeuerzeug an, das einem maßstabgetreuen Modell von Aladins Wunderlampe glich, und stieß eine lange Rauchfahne aus, die in der Sonne ebenfalls silbern aussah.

»Brookie war ein guter Junge«, sagte sie, »aber es ist kein guter Mann aus ihm geworden. Er besaß die verhängnisvolle Gabe, die Leute dazu zu bringen, dass sie ihm glaubten.«

Ich wusste zwar nicht recht, was sie meinte, aber ich nickte.

»Er hatte kein leichtes Leben«, sagte sie gedankenverloren. »Jedenfalls hätte es leichter sein können.«

Und dann, ganz plötzlich: »Aber jetzt erzähl doch – was führt dich her?«

Die Frage überrumpelte mich. Ja, was führte mich eigentlich zu ihr?

»Du brauchst dich nicht zu genieren, mein Kind. Wenn du hier bist, um mir euer Beileid auszusprechen, dann danke ich dir, und du darfst wieder gehen.«

»Brookie war auf Buckshaw«, platzte ich heraus. »Ich habe ihn mitten in der Nacht im Salon angetroffen.«

Ich hätte mich ohrfeigen können! Wozu erzählte ich seiner Mutter das?

Andererseits war Vanetta Harewood Geschäftsfrau. Sie würde ebenso wenig wollen, dass das mitternächtliche Treiben ihres Sohnes ans Tageslicht kam wie … wie ich.

»Ich möchte dich um einen riesengroßen Gefallen bitten, Flavia. Wenn du glaubst, du musst der Polizei unbedingt von deiner Begegnung mit Brookie erzählen, dann tu’s. Wenn es dir aber nicht auf der Seele brennt…«

Sie war wieder ans Fenster getreten, ihr Blick war abwesend. »Weißt du, Brookie hatte mit seinen … Dämonen zu kämpfen. Das geht eigentlich niemanden etwas an, aber…«

»Ich erzähle es keinem, Mrs Harewood«, sagte ich, »versprochen. «

Sie drehte sich um und schritt auf mich zu. »Du bist ein sehr kluges Mädchen, Flavia.« Sie überlegte kurz und fuhr fort: »Komm mal mit. Ich will dir etwas zeigen.«

Wir gingen eine Stufe hinunter und eine andere wieder hinauf und landeten in dem Teil des Hauses, an dem ich zuerst geläutet hatte. Mrs Harewood musste unter den niedrigen Deckenbalken den Kopf einziehen.

»Hier hat Ursula ihr Atelier.« Sie wies auf einen Raum, in dem lauter Zweige und Äste lagen.

»Körbe«, sagte Mrs Harewood. »Ursula begeistert sich für die traditionellen Handwerkskünste. Ihre Weidenkörbe haben sowohl hier als auch auf dem Kontinent schon viele Preise gewonnen.

Offen gestanden«, sie senkte die Stimme zu einem vertraulichen Flüstern, »der Chemiegestank treibt mich manchmal aus dem Haus, aber die Körbe sind alles, was sie hat, das arme Ding.«

Chemiegestank? Ich spitzte die Ohren wie ein Schlachtross beim Klang des Signalhorns.

»Ursula bleicht ihre Weidenruten mit Schwefeldampf. Das sieht wunderschön aus – wenn nur der Geruch nicht wäre!«

Gleich heute Nacht würde ich mich in Onkel Tars Handbibliothek über die Anwendungsmöglichkeiten und Eigenschaften von Salizin (C13H18O7) – das 1831 von Leroux aus Weidenrinde gewonnen wurde – und vom guten alten Schwefel (S) informieren. Aus persönlicher Erfahrung wusste ich schon, dass Weidenkätzchen, wenn man sie ein paar Wochen lang in einem geschlossenen Behältnis aufbewahrte, schauderhaft nach verfaultem Fisch mieften – eine nützliche Erkenntnis, die ich bestimmt irgendwann einmal würde brauchen können.

»Hier lang.« Mrs Harewood duckte sich unter einem besonders niedrigen Balken durch. »Pass auf deinen Kopf auf, und sieh dich vor, wo du hintrittst.«

Ihr eigenes Atelier war weitläufig und hell. Die Oberlichter gingen nach Norden, und man glaubte auf einer Waldlichtung zu stehen.

Auf einer großen Staffelei stand ein halbfertiges Porträt von Flossie, der Schwester von Feelys Freundin Sheila Foster. Flossie saß auf einem großen Polstersessel, hatte ein Bein untergeschlagen und kraulte eine riesige weiße Perserkatze, die sich auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte. Zumindest die Katze hatte menschliche Züge.

Eigentlich sah auch Flossie gar nicht so übel aus. Wir waren zwar keine Freundinnen, aber ich hatte auch nichts gegen sie. Das Porträt gab ihre gepflegte Dummheit überzeugend wieder, besser als es jeder Fotoapparat vermocht hätte.

»Was hältst du davon?«

Ich betrachtete die Farbtuben, die verschmierten Lappen und das Sortiment von Kamelhaarpinseln, die aus Büchsen, Gläsern und Flaschen ragten wie Schilfrohr aus einer winterlichen Sumpflandschaft.

»Ihr Atelier gefällt mir sehr«, sagte ich. »Wollten Sie mir das zeigen?« Ich zeigte auf Flossies Porträt.

»Um Himmels willen, nein!«

An der anderen Wand, gegenüber vom Fenster, stand noch ein Stapel ungerahmter Gemälde an die Wand gelehnt.

Vanetta (inzwischen nannte ich sie im Stillen »Vanetta« statt »Mrs Harewood«) beugte sich darüber und blätterte die Gemälde durch wie übergroße Karteikarten.

»Da ist es ja!« Sie zog eine große Leinwand zwischen den anderen hervor.

Sie trug das Gemälde zur Staffelei, nahm Flossie herunter, klemmte das andere Bild fest und drehte es zu mir um.

Dann trat sie wortlos beiseite.

Mir stockte das Herz.

Das Porträt zeigte Harriet.