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Wir rumpelten die Hauptstraße entlang, wo die Hufe des betagten Pferdchens laut über das Kopfsteinpflaster klapperten.

»Wie heißt es denn?«, fragte ich.

» Gry.«

»Gray?«

»Gry. Das heißt ›Pferd‹ in der Sprache der Roma.«

Ich prägte mir das Wort gut ein und freute mich darauf, es irgendwann einmal meiner ach so allwissenden Schwester Daffy um die Ohren hauen zu können. Natürlich würde sie so tun, als beherrschte sie die Romasprache fließend.

Wahrscheinlich hatte das Geklapper Miss Cool, die Postamtsvorsteherin des Dorfes, ans Fenster ihres Süßwarenladens gelockt. Als sie mich neben der Alten auf dem Kutschbock sitzen sah, machte sie große Augen und schlug die Hand vor den Mund. Trotz der dicken Schaufensterscheibe und der Entfernung konnte ich sie förmlich nach Luft schnappen hören. Der Anblick von Colonel Haviland de Luces jüngster Tochter auf einem Zigeunerwagen, so fröhlich und bunt er auch bemalt sein mochte, war für sie bestimmt ein Schock.

Ich winkte wie besessen und bedeutete ihr: »Keine Sorge – ich amüsiere mich prächtig!« Am liebsten wäre ich aufgesprungen, hätte mich in Positur gestellt und wie im Film-Musical ein Liedchen geschmettert: »Ach, wie schön ist’s auf der Walz!« oder dergleichen, aber ich beherrschte mich und grinste nur von einem Ohr zum anderen.

Die Nachricht von meiner Entführung würde im Nu kreuz und quer durch die Gegend flattern – wie ein Vogel, der sich in eine Kathedrale verirrt hat. So ist das nun mal auf dem Dorf, und Bishop’s Lacey war da keine Ausnahme.

Ein krächzendes Husten brachte mich wieder ins Hier und Jetzt zurück. Die Alte saß vornübergebeugt da und hielt sich die eingesunkene Brust.

»Haben Sie die Medizin genommen, die Ihnen der Doktor mitgegeben hat?«, fragte ich und nahm ihr die Zügel aus den Händen.

Sie schüttelte den Kopf. Ihre Augen glichen glühenden Kohlen. Je eher ich den Wagen im Gehölz abstellte und die Frau ins Bett brachte, desto besser.

Gerade kamen wir am Dreizehn Erpel und der Cow Lane vorbei. Weiter östlich bog die Straße in Richtung Doddingsley nach Süden ab. Buckshaw war noch ein gutes Stück entfernt.

Gleich hinter der letzten Reihe niedriger Häuser mündete von rechts ein schmaler Hohlweg ein, der von den Anwohnern nur »die Rinne« genannt wurde. Die Rinne führte am Westhang des Goodger Hill entlang und querfeldein zur südwestlichen Ecke von Buckshaw und dem »Gehölz« genannten Wäldchen. Ich zog am Zügel und lenkte Gry nach rechts.

Nach einer einigermaßen ebenen Viertelmeile fing der Wagen bedenklich zu schaukeln an. Wir holperten über spitze Steine, und der Hohlweg wurde immer schmaler und ausgefahrener. Doch zu beiden Seiten ragten die Böschungen, die obendrein mit einem Dickicht aus uralten Baumwurzeln bewachsen waren, so hoch auf, dass der Wagen unmöglich umkippen konnte.

Direkt vor uns neigte sich der bemooste Ast einer alten Buche wie der Hals eines großen grünen Schwans über den Weg. Es war kaum Platz, dass der Wagen darunter hindurchfahren konnte.

»Das Räubernest«, verkündete ich stolz. »Hier haben früher Wegelagerer die Postkutschen überfallen.«

Die Alte ging nicht darauf ein. Für mich dagegen war das Räubernest ein spannendes Stück Heimatkunde.

Im 18. Jahrhundert war die Rinne die einzige Verbindung zwischen Doddingsley und Bishop’s Lacey gewesen. Im Winter oft völlig zugeschneit und im Frühling und Herbst von Eisbächen überflutet, hatte sie sich den Ruf erworben, der ihr auch jetzt, zweihundert Jahre später, noch anhing: nämlich dass es sich um einen zwielichtigen, wenn nicht gar lebensgefährlichen Ort handelte, um den man am besten einen weiten Bogen machte.

»Von der Geschichte gebrandmarkt«, hatte Daffy gesagt, als sie die Stelle auf einer Karte eintrug, die sie von »Buckshaw & Umgebung« anlegte.

Damit hätte die Rinne eigentlich zu meinen Lieblingsorten gehören müssen, doch das war nicht der Fall. Nur einmal hatte ich den Hohlweg auf Gladys, meinem treuen Fahrrad, fast bis zum Ende erkundet, doch dann hatte mich ein beklemmendes Gefühl dazu bewogen, auf der Stelle umzukehren. Es war ein unfreundlicher Tag gewesen, mit kräftigen Sturmböen, kalten Regenschauern und tief dahinjagenden Wolken, ein Tag von der Sorte …

Die Alte nahm mir die Zügel wieder weg und zog energisch daran. »Brrr!«, machte sie, und das Pferd hielt jäh an.

Oben auf dem moosbewachsenen Ast hockte ein Kind und stopfte sich den Daumen in den Mund.

An dem roten Schopf erkannte ich, dass es einer der Bull-Sprösslinge sein musste.

Die Alte bekreuzigte sich und brummelte etwas, das wie »Hilda Muir« klang.

» Hüja!«, rief sie dann und ließ die Zügel schnalzen. »Hüja!«, und Gry brachte den Wagen mit einem Ruck wieder in Bewegung. Als wir langsam unter dem Ast hindurchfuhren, ließ das Kind die Beine herunterbaumeln und trampelte mit den Fersen auf das Wohnwagendach, was Geräusche verursachte, die wie unheimliche Trommelschläge klangen.

Ich hätte mich gern auf den Ast geschwungen und dem Rotzlöffel zumindest eine ordentliche Standpauke verpasst, aber ein Blick auf die Alte ließ mich innehalten. Manchmal war es besser, den Mund zu halten.

Dornenranken krallten wie gierige Hände nach dem heftig schaukelnden Wohnwagen, aber die Alte schien nichts zu bemerken.

Sie saß vorgebeugt da, den wässrigen Blick fest auf einen imaginären Horizont gerichtet, als weilte nur ihre sterbliche Hülle in diesem Jahrhundert, während alles andere längst in ein fernes, düsteres, nebliges Land entflohen war.

Der Weg wurde ein wenig breiter, kurz darauf kamen wir an einem altersschwachen Lattenzaun vorbei. Dahinter stand ein heruntergekommenes Haus, das aus ausrangierten Türen und geborstenen Fensterläden gezimmert schien. Der sandige Garten davor lag voller Müll, darunter ein ramponierter Herd, ein altmodisches Ungetüm von einem Kinderwagen, dem zwei Räder fehlten, mehrere nur noch vom Rost zusammengehaltene Automobile und bergeweise leere Konservenbüchsen. Hier und da entdeckte man verfallene, windschiefe Nebengebäude – dürftig aus verfaulten, bemoosten Brettern und einer Handvoll Nägel zusammengebastelte Schuppen.

Über Allem hing eine Wolke aus beißendem Rauch, denn der Müll schwelte stellenweise, sodass man an ein Bild der Hölle denken musste, wie man es von viktorianischen Bibelillustrationen kennt. Mitten auf dem vor Dreck starrenden Hof saß ein kleines Kind in einer Badewanne. Als es uns erblickte, brach es in ein lautes, sirenenartiges Geheul aus.

Auch die roten Haare des Kleinen schienen mit Rost bedeckt zu sein. Man hatte tatsächlich den Eindruck, ein Königreich des Zerfalls zu betreten, in dem die Oxidation regierte.

Oxidation tritt, wie ich mir gern und oft in Erinnerung rufe, dann ein, wenn Sauerstoff zum Angriff übergeht. In ebendiesem Augenblick nagte der Sauerstoff genauso an meiner Haut wie an der Haut der alten Frau, auch wenn meine Mitfahrerin deutlich angegriffener wirkte als ich.

Von meinen ersten chemischen Experimenten wusste ich, dass in manchen Fällen, etwa wenn Eisen in einer Atmosphäre reinen Sauerstoffs erhitzt wird, die Oxidation zu einem Wolf wird, der seine Beute gierig zerfetzt – so gierig, dass das Eisen Feuer fängt. »Feuer« wiederum ist in Wirklichkeit auch nichts anderes als unser alter Freund Oxidation, der auf Hochtouren arbeitet.

Wenn die Oxidation jedoch behutsamer – langsam wie eine Schildkröte – und ohne Flammen an ihrer Umgebung knabbert, dann nennen wir sie »Rost«, und meistens fällt uns gar nicht auf, wie beharrlich sie ihrem Geschäft nachgeht und alles verschlingt, von der Haarnadel bis zur Zivilisation. Ich habe mir schon oft gedacht, wenn wir die Oxidation aufhalten könnten, dann könnten wir auch die Zeit anhalten, und vielleicht würde es uns sogar gelingen …

Ein gellender Schrei ließ mich zusammenfahren.

»Zigeuner! Zigeuner!«

Eine dicke, rothaarige Frau in schweißfleckigem Baumwollkittel kam mit fuchtelnden Armen aus dem Haus gerannt. Die Ärmel ihrer Strickweste waren bis über die Ellenbogen aufgerollt, als zöge sie in die Schlacht.

»Verschwindet, ihr Zigeuner!«, keifte sie, und ihr Gesicht wurde so rot wie ihre Haare. »Komm raus, Tom! Die Zigeunerin steht vor dem Tor!«

In Bishop’s Lacey wusste jeder, dass Tom Bull schon vor Ewigkeiten die Fliege gemacht hatte und höchstwahrscheinlich nie wieder auftauchen würde. Die Frau bluffte also nur.

»Du hast mir mein Baby gestohlen – streit’s ja nich ab! Ich hab genau gesehen, dass du dich an dem Tag hier rumgetrieben hast, und das kann ich auch gern vor Gericht bezeugen! «

Als die kleine Tochter der Bulls vor etlichen Jahren verschwand, war es wochenlang das Dorfgespräch gewesen, aber der nie aufgeklärte Fall war bald von den Titelseiten der Zeitungen nach hinten in die Kurzmeldungen gewandert und schließlich in Vergessenheit geraten.

Ich schielte zu der Alten neben mir hinüber. Sie saß reglos auf dem Kutschbock und schaute stur geradeaus, als ginge die ganze Welt sie nichts an. Das brachte die Rothaarige erst recht zur Weißglut.

»Wo bleibst du denn, Tom? Bring die Axt mit!«, zeterte sie.

Bis dahin schien sie mich gar nicht wahrgenommen zu haben, doch jetzt blieb ihr Blick plötzlich an meinem hängen – mit dramatischer Wirkung.

»Ich kenn dich!«, rief sie. »Du bist eins von den de-Luce-Mädels aus Buckshaw, stimmt’s? Diese kalten blauen Augen erkenn ich überall.«

Kalte blaue Augen? Hmmm … Zwar war ich schon öfters unter Vaters eisigem Blick erstarrt, doch mir wäre nicht im Traum eingefallen, dass diese tödliche Waffe auch mir selbst zur Verfügung stand.

Mir war natürlich klar, dass unsere missliche Lage im Handumdrehen ziemlich ungemütlich werden konnte. Auf die Alte konnte ich anscheinend nicht zählen – ich war ganz auf mich gestellt.

»Da müssen Sie sich irren«, sagte ich, hob das Kinn und kniff die Augen zusammen, um den bestmöglichen Effekt zu erzielen. »Ich heiße Margaret Vole, und das hier ist meine Großtante Gilda Dickinson. Vielleicht haben Sie uns schon mal im Kino gesehen? Das kleine rote Landhaus? Die Mondkönigin? Ach, wie dumm von mir: In diesem Zigeunerkostüm und mit der dicken Schminke können Sie meine Tante ja nicht erkennen! Wie war doch gleich Ihr Name, Miss …«

»B-Bull«, stammelte die Rothaarige verdattert. »Mrs Bull.«

Sie sah uns an, als traute sie ihren Augen nicht.

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Mrs Bull. Ob Sie uns wohl behilflich sein könnten? Wir haben uns nämlich fürchterlich verfahren. Wir sollten uns schon vor Stunden mit der Film-Crew in Malden Fenwick treffen, aber wir haben beide einen ziemlich schlechten Orientierungssinn, stimmt’s, Tante Gilda? «

Die Alte zeigte keine Regung.

Die Rothaarige strich sich die Frisur glatt.

»Jedenfalls habt ihr euch blöd angestellt, wer ihr auch seid«, sagte sie. »Hier kann man nirgends wenden, der Weg ist viel zu schmal. Dann müsst ihr halt weiter bis nach Doddingsley und dann über Tench wieder zurück.«

»Verbindlichsten Dank«, sagte ich in meiner besten Dorfdeppenstimme, entwand der Alten die Zügel und ließ sie schnalzen.

»Hüaah!«, rief ich, und Gry trabte an.

Nach einer weiteren Viertelmeile fand die Zigeunerin auf einmal die Sprache wieder.

»Du lügst wie eine von uns.«

Ich war baff, und sie sah es mir an.

»Du lügst wegen einer bloßen Kleinigkeit – weil jemand auf deiner Augenfarbe rumhackt.«

»Tja«, sagte ich. »Sieht ganz so aus.«

Die Alte wurde richtig lebhaft, als hätte der Zusammenstoß mit Mrs Bull sie aufgemuntert. »Ja, du kannst wirklich lügen wie eine aus unserem Volk.«

»Ist das gut oder schlecht?«

Die Antwort ließ eine Weile auf sich warten.

»Es bedeutet, dass du ein langes Leben vor dir hast.«

Ihr Mundwinkel zuckte, als müsste sie schmunzeln, aber sie wurde gleich wieder ernst.

»Trotz des unterbrochenen Sterns auf meinem Mondberg?«

Diese Frage konnte ich mir nicht verkneifen.

Zu meiner Überraschung lachte sie heiser.

»Hokuspokus. Wahrsagerquatsch. Du hast das doch nicht geglaubt, oder?«

Vom Lachen packte sie ein neuerlicher Hustenanfall, und ich musste warten, bis sie wieder Luft bekam.

»Aber … die Frau auf dem Berg … die Frau, die nachhause will …«

»Das haben mir deine Schwestern gesteckt«, erwiderte die Alte mit matter Stimme. »Sie haben mir von eurer Mutter erzählt und mir ein paar Kröten zugesteckt, damit ich dir einen gehörigen Schreck einjage. Das ist alles.«

Mir gefror das Blut in den Adern, als hätte jemand einen Wasserhahn von heiß auf kalt gestellt. Ich starrte die Alte ungläubig an.

»Es macht dir doch hoffentlich nichts aus, oder?«, fuhr sie fort. »Ich wollte nicht, dass …«

Ich zuckte die Achseln »Nö.« Aber es machte mir sehr wohl etwas aus. Meine Gedanken überschlugen sich. »Mir fällt bestimmt was ein, wie ich es den beiden heimzahlen kann.«

»Vielleicht kann ich dir ja helfen. Rache ist meine Spezialität. «

Wollte mich die Alte auf den Arm nehmen? Sie hatte doch eben zugegeben, dass sie eine Schwindlerin war. Ich blickte ihr forschend in die schwarzen Augen.

»Sieh mich nicht so an. Da fängt mir ja das Blut an zu jucken. Ich hab doch gesagt, dass es mir leidtut. Das hab ich wirklich ernst gemeint.«

»Ach ja?«

»Jetzt schmoll nicht. Es gibt schon genug Überheblichkeit auf der Welt.«

Auch wieder wahr. Ich musste lachen, und die Alte stimmte ein.

»Da fällt mir diese Gewitterziege ein, die kurz vor dir in meinem Zelt war. Ich hab ihr gesagt, dass in ihrer Vergangenheit etwas begraben liegt, das ans Licht will. Als sie rausging, war sie weiß wie ein Laken.«

»Aber … was haben Sie denn gesehen?«

Die Alte prustete los. »Geld natürlich! Dasselbe, was ich bei allen sehe. Ein paar Scheinchen, wenn ich es schlau anstelle.«

»Und? Hat’s geklappt?«

»Pfff! Einen Shilling hat sie mir gegeben, keinen Penny mehr. Aber sie ist aus meinem Zelt gesaust, als hätte sie auf ’ner Distel gesessen!«

Wir fuhren schweigend weiter, bis das Gehölz schon fast in Sicht war.

 

Für mich war das Gehölz ein vergessenes Fleckchen Paradies. In der südöstlichsten Ecke des Buckshaw-Anwesens, unter einem Baldachin dicht belaubter Äste, vollführte der Fluss graziös wie eine Ballerina eine sanfte Schleife nach Westen, sodass eine kleine Lichtung entstand, beinahe schon eine Insel. Das Ostufer lag ein bisschen höher als das Westufer, dafür war das Westufer sumpfiger. Wenn man sich auskannte, entdeckte man noch die Bögen der kleinen Steinbrücke, die aus der Zeit des ursprünglichen Buckshaw stammte, einem Gutshaus aus der Zeit Elisabeths I. Das Gebäude selbst war im 17. Jahrhundert von aufgebrachten Dorfbewohnern niedergebrannt worden, die aus der religiösen Überzeugung unserer Familie falsche Schlüsse gezogen hatten.

Ich wollte der Alten von meiner Vorliebe für dieses Plätzchen erzählen, aber sie war offenbar eingeschlafen. Misstrauisch beobachtete ich ihre Augenlider. Sie zuckten nicht. Die Alte lehnte am Rahmen des Wagens und gab ab und zu ein leises Pfeifen von sich, woraus ich schloss, dass sie noch atmete.

Ihr Nickerchen passte mir gar nicht, denn ich hätte mich gern als Fremdenführerin betätigt und ihr einige der spannenderen Anekdoten aus der Geschichte Buckshaws erzählt. Jetzt musste ich mein kostbares Wissen eben für mich behalten.

Das sogenannte Gehölz war nämlich einer der Schlupfwinkel des alten Nicodemus Flitch gewesen, eines ehemaligen Schneiders, der im 17. Jahrhundert die religiöse Sekte der Humpler gegründet hatte. Der Name ging auf die hinkende Fortbewegungsart ihrer Mitglieder zurück, wenn sie ihre Gebete sprachen. Die Humpler glaubten, kurz gesagt, in erster Linie daran, dass der Himmel praktischerweise nicht weiter als sechs Meilen über der Erdoberfläche lag, dass Nicodemus Flitch Gottes erwählter Stellvertreter auf Erden und als solcher dazu berechtigt sei, Seelen nach Belieben bis in alle Ewigkeit zu verfluchen.

Daffy hatte mir auch erzählt, dass Flitch einmal im Gehölz gepredigt und dabei Gottes Zorn auf das Haupt eines Zwischenrufers herabbeschworen habe, der daraufhin tot umgefallen sei – und dass sie, wenn ich die Dose mit der Lakritzmischung, die mir Tante Felicity zum Geburtstag geschickt hatte, nicht sofort rüberreichte, sie den gleichen Fluch auf mich herabbeschwören würde.

»Glaub bloß nicht, dass ich das nicht kann!«, hatte sie unheilverkündend hinzugesetzt und auf das Buch getippt, das sie gerade las. »Die Anleitung steht nämlich hier drin.«

Der Tod des Zwischenrufers sei reiner Zufall gewesen, hielt ich dagegen, und höchstwahrscheinlich einem Herzinfarkt geschuldet. Der Mann wäre bestimmt auch gestorben, wenn er an dem besagten Tag zu Hause geblieben wäre.

»Verlass dich lieber nicht drauf«, hatte Daffy gegrummelt.

In späteren Jahren hatte es Flitch, nachdem man ihn mit Schimpf und Schande aus London verjagt hatte und die Humpler an Einfluss gegenüber anderen Sekten verloren hatten – den Ranters, den Shakern, den Quäkern, den Diggers, den Levellers, den Sliders, den Swadlers, den Tumblers, den Dunkers, den Tunkers, sogar gegenüber den Unkorrumpierbaren – , nach Bishop’s Lacey verschlagen, wo er dazu überging, zu seinem sonderbaren Glauben bekehrte Seelen an der Flussbiegung zu taufen.

Mrs Mullet hatte mir anvertraut – nachdem sie sich nach allen Seiten umgedreht und die Stimme zu einem Flüstern gesenkt hatte –, dass Nicodemus Flitchs Spielart der Religion im Dorf immer noch ausgeübt würde, wenn auch heutzutage hinter geschlossenen Türen und zugezogenen Vorhängen.

»Die tauchen ihre Babys bei der Taufe kopfüber ins Wasser und halten sie an den Fersen fest«, hatte sie mit aufgerissenen Augen geraunt. »Wie das mit der Achillesferse im Flusse Styx; das weiß meine Freundin Mrs Waller von ihrem Bert. Geh diesen Humplern bloß aus dem Weg – sonst machen sie Blutwurst aus dir.«

Damals hatte ich mir das Lachen verbissen, und jetzt schmunzelte ich, als ich mich an Mrs Mullets Worte erinnerte – aber ich bekam trotzdem eine Gänsehaut, als ich an das Gehölz dachte und an die Schatten zwischen den Bäumen, die allen Sonnenschein schluckten.

Zuletzt war ich im Frühling auf der Lichtung gewesen, als dort überall Löwenzahn und Schlüsselblumen wuchsen – »Himmelsschlüssel« nannte Mrs Mullet sie.

Um diese Jahreszeit lag das Wäldchen bestimmt hinter den hohen Holunderbüschen verborgen, die am Flussufer wucherten. Die duftenden Holunderdolden, die mich immer an japanische Sonnenschirme erinnerten, waren sicher längst braun geworden und im Juniregen abgefallen. Erfreulicher war die Vorstellung, dass statt ihrer bald lauter violette Beeren in Dolden von den Zweigen hängen würden wie eine Bildergalerie aus lauter Blutergüssen.

Dort unten am Gehölz war es auch gewesen, in den Tagen der ersten nummerierten königlichen Georges, wo man den Fluss Efon vorübergehend umgeleitet hatte, damit er einen künstlichen See bildete und die Brunnen speiste, deren Überreste man heute noch auf dem Gelände von Buckshaw findet. Als dieses Wunder unterirdischer Hydraulik jedoch angelegt wurde, hatte es für Zwietracht zwischen meiner Familie und den ansässigen Grundbesitzern gesorgt, weshalb einer meiner Vorfahren, Lucius de Luce, in der ganzen Grafschaft nur als »Plätscher-Lucius« bekannt war. Auf seinem Porträt in unserer Bildergalerie sieht er ziemlich gelangweilt aus, wie er so über seinen See blickt, mit der künstlichen Ruine, den Springbrunnen und dem – inzwischen längst verschwundenen – griechischen Tempel. Er legt die magere Hand auf einen Tisch, auf dem ein Kompass, eine Taschenuhr, ein Ei und ein Instrument namens Theodolit, wie es die Landvermesser brauchen, zur Schau gestellt sind. In einem Holzkäfig sitzt ein Kanarienvogel mit offenem Schnabel. Entweder zwitschert das Tier vergnügt oder es ruft um Hilfe.

Meine müßigen Tagträume wurden von bellendem Husten unterbrochen.

»Halt an«, sagte die Alte und nahm die Zügel wieder an sich. Das Schläfchen schien ihr gutgetan zu haben. Ihre Wangen hatten ein bisschen Farbe angenommen, und ihre Augen funkelten wacher denn je.

Sie schnalzte mit der Zunge und lenkte den Wohnwagen von der schmalen Straße herunter, unter einem Laubdach hindurch und über die kleine Brücke. Ganz offenkundig kannte sie sich hier aus. Bald standen wir auf der Lichtung.

Die Alte kletterte unbeholfen vom Kutschbock und schirrte Gry umständlich aus. Ich nutzte die Gelegenheit, die Umgebung in aller Ruhe auf mich wirken zu lassen.

Hier und da wuchsen Brennnesselstauden und büschelweise Mohnblumen, die in den schrägen Strahlen der Nachmittagssonne leuchteten. Das hohe Gras war mir noch nie so grün vorgekommen. Auch Gry war das nicht entgangen, denn er machte sich sofort über die saftigen Halme her.

Da ruckelte der Wohnwagen plötzlich wie von selbst, und ich hörte einen leisen Aufschrei.

Ich sprang vom Kutschbock und lief um den Wagen herum.

Ich hatte den Zustand der Alten falsch eingeschätzt. Sie war zu Boden gesunken und klammerte sich an die Speichen eines der großen Holzräder. Dann bekam sie wieder einen Hustenanfall, schlimmer als die zuvor.

»Sie sind erschöpft«, sagte ich. »Sie müssen sich hinlegen.«

Sie nuschelte etwas und schloss die Augen. Ich kletterte auf die Deichsel des Wohnwagens und öffnete die Tür.

Was ich auch erwartet haben mochte – das bestimmt nicht.

Das Innere des Wohnwagens glich einem Märchen auf Rädern. Obwohl ich nur einen flüchtigen Blick hineinwarf, fiel mir sofort der wunderschöne gusseiserne Ofen im Königin-Anne-Stil auf, darüber ein Regal mit blau gemustertem chinesischem Porzellan. Heißes Wasser und Tee, dachte ich. Das hilft in allen Lebenslagen. Vor den Fenstern hingen Spitzenvorhänge, aus denen sich im Notfall Verbände reißen ließen, und die beiden silbernen Petroleumlampen mit den roten Glasaufsätzen an der Wand würden genug Wärme und auch eine Flamme zur Sterilisierung von Nadeln liefern. Meine Ausbildung zur Pfadfinderin, so kurz sie auch gewesen sein mochte, war nicht umsonst gewesen. Hinter einem geschnitzten Paravent stand ein geräumiges Etagenbett, das fast so breit war wie der ganze Wagen.

Ich ging wieder nach draußen, half der Alten auf die Beine und legte mir ihren Arm um die Schulter.

»Ich habe die Treppe runtergeklappt. Ich bringe Sie ins Bett.«

Es gelang mir, sie auf die Vorderseite des Wagens zu führen und mittels Schieben und Ziehen durch die Tür zu bugsieren. Die Frau schien dabei wieder in ihrer eigenen Welt zu weilen und kaum wahrzunehmen, was um sie herum vorging – und mich auch nicht. Als sie dann aber lag und ich sie zugedeckt hatte, kam sie wieder einigermaßen zu sich.

»Ich hole einen Arzt«, sagte ich. Gladys stand noch hinter dem Gemeindesaal. Ich musste also von Buckshaw bis ins Dorf zu Fuß laufen.

»Bitte nicht.« Die Alte packte meine Hand. »Mach mir einen schönen Tee, und lass mich dann in Frieden. Ich brauche nur ein bisschen Schlaf.«

Sie sah meine zweifelnde Miene.

»Na schön, hol die Medizin. Ich probiere sie mal aus. Ein Löffel liegt drüben auf dem Tisch.«

Ich fischte einen Löffel aus einem Berg ramponierten Silberbestecks und füllte ihn mit dem zähen Hustensirup.

»Schnabel auf, mein Vögelchen«, sagte ich. Mit diesem Spruch zwang mich Mrs Mullet immer, die abscheulichen Mixturen zu schlucken, mit denen unser Vater seine Töchter behandelt wissen wollte. Die Alte heftete den Blick auf mich – war es Einbildung, oder schaute sie wirklich ein bisschen freundlicher drein? – und öffnete brav den Mund, sodass ich den randvollen Löffel hineinschieben konnte.

»Wohl bekomm’s!«, vollendete ich das kleine Ritual, dann wandte ich mich dem niedlichen Öfchen zu. Peinlicherweise hatte ich nicht die geringste Ahnung, wie man so ein Ding in Gang brachte. Ebenso gut hätte man mich auffordern können, die Kessel auf der Queen Elizabeth zu heizen.

»Nicht den«, sagte die Alte, der mein Zögern aufgefallen war. »Mach draußen Feuer.«

Unten an der Treppe blieb ich stehen und sah mich um. Der Holunder wucherte überall, aber die Zweige ließen sich nicht einfach so abbrechen.

Sie sind noch voller Saft und viel zu biegsam, dachte ich. Erst als ich mit meinem ganzen Gewicht auf ein paar untere Äste sprang, hatte ich Erfolg.

Bald hatte ich genug Zweige und Äste zusammen, um ein ordentliches Lagerfeuer zu entfachen.

Voller Hoffnung und mit dem alten Pfadfinderinnengebet auf den Lippen (»Geh schon an, verdammt noch mal!«), rieb ich ein Streichholz an. Die Schachtel hatte ich im Schrank des Wohnwagens gefunden. Als die Flamme die Zweige streifte, zischte sie leise und erlosch. Dem nächsten Streichholz erging es nicht besser.

Da Geduld nicht eben meine Stärke ist, stieß ich einen maßvollen Fluch aus.

Zu Hause in meinem Chemielabor würde ich wie jeder zivilisierte Mensch zum Tee-Aufsetzen einen Bunsenbrenner benutzen – jedenfalls würde ich nicht vor einem Haufen grüner Zweige auf den Knien herumrutschen.

Es stimmte zwar, dass ich vor meinem ziemlich abrupten Abschied von den Pfadfinderinnen gelernt hatte, wie man Lagerfeuer entfachte, aber ich hatte mir geschworen, dass ich mich auf gar keinen Fall mehr dabei erwischen lassen wollte, wie ich aus einem Holzstöckchen und einem Schnürsenkel einen Feuerbogen bastelte oder wie ein gestörtes Eichhörnchen zwei Stöcke aneinanderrieb.

Da saß ich nun und hatte alle Zutaten für ein prasselndes Feuer beisammen – alle, bis auf eine.

Wo es Petroleumlampen gibt, dachte ich, kann Petroleum nicht weit sein. Ich klappte die Seitenverkleidung des Wohnwagens herunter und fand zu meiner großen Freude einen Kanister. Ich schraubte den Deckel auf, kippte einen Schluck auf das Feuerholz, und bevor ich »Baden-Powell« sagen konnte, brodelte das Wasser im Teekessel munter vor sich hin.

Ich war richtig stolz auf mich.

Flavia, die Listenreiche, dachte ich. Flavia, das Mädchen, das alles kann.

Und so weiter und so fort.

Dann stieg ich mit dem Tee in der Hand die Treppe hoch, wobei ich wie eine Seiltänzerin auf den Zehen balancierte.

Ich reichte der Alten die dampfende Tasse und sah zu, wie sie mit bedächtigen Schlucken trank.

»Das ging aber schnell«, sagte sie.

Ich zuckte bescheiden die Achseln. Das mit dem Petroleum brauchte sie ja nicht zu wissen.

»Hast du das Anmachholz in der Kiste gefunden?«, fragte sie.

»Nein«, antwortete ich. »Ich habe …«

Ihre Augen wurden riesengroß, und sie hielt die Tasse am ausgestreckten Arm von sich weg.

»Du hast doch nicht etwa Holunderzweige abgeschnitten?«

»Äh … doch. War gar nicht so schwer. Ich …«

Die Tasse fiel ihr aus der Hand, und der kochend heiße Tee spritzte in alle Richtungen. Die Alte sprang wieselflink aus dem Bett und drückte sich in eine Ecke.

»Hilda Muir!«, schrie sie klagend. Ihr schauriges Heulen schwoll wie eine Luftschutzsirene an und wieder ab. »Hilda Muir!« Sie wies auf die Tür. Ich drehte mich um, aber da war niemand.

»Raus mit dir! Raus!« Ihre Hand zitterte wie Espenlaub.

Ich begriff gar nichts mehr. Was hatte ich ihr denn getan?

»Gott im Himmel – Hilda Muir!«, ächzte sie. »Jetzt müssen wir alle sterben!«