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Du stehst mir im Licht«, sagte Daffy.

Ich hatte mich absichtlich zwischen ihrem Buch und dem Fenster aufgebaut.

Es würde nicht einfach sein, meine Schwester zur Mitarbeit zu bewegen. Ich holte tief Luft.

»Ich brauche Hilfe.«

»Arme Flavia.«

»Bitte, Daff«, bettelte ich und verachtete mich gleichzeitig. »Es geht um den Toten, den ich am Brunnen gefunden habe.«

Daffy ließ ärgerlich das Buch fallen. »Zieh mich gefälligst nicht in deine Spielchen hinein! Das geht mir fürchterlich auf die Nerven.«

Ach so?

»Ich dachte, du magst Verbrechen!« Ich wies auf das Buch, eine Sammlung von G. K. Chestertons Pater-Braun-Krimis.

»Schon«, erwiderte sie, »aber nicht im richtigen Leben. Von deinem Affentheater wird mir ganz schlecht.«

Gut zu wissen.

»Vater ist fast genauso schlimm«, setzte sie hinzu. »Weißt du, was er gestern beim Frühstück gesagt hat, bevor du runtergekommen bist? ›Flavia hat wieder eine Leiche entdeckt.‹ Als wäre er auch noch stolz auf dich!«

Das hatte Vater gesagt? Ich konnte es kaum glauben.

Die Enthüllungen prasselten nur so auf mich ein! Ich hätte schon viel eher mit Daffy sprechen sollen.

»Vater hat recht«, sagte ich, »aber ich erspare dir die Einzelheiten. «

»Danke«, sagte Daffy leise, und es klang ausnahmsweise ehrlich.

»Poseidon«, nutzte ich das ungewohnte Tauwetter aus. »Was weißt du über Poseidon?«

»Poseidon? Der war ein Schuft. Ein Schuft, ein Tyrann und obendrein ein Frauenheld.«

»Wie kann ein Gott denn ein Schuft sein?«

Daffy überging meine Frage. »Er war sozusagen der Schutzpatron der Seeleute. Und jetzt hau ab.«

Normalerweise hätte ich Anstoß daran genommen, so unfreundlich weggescheucht zu werden (ich liebe den Ausdruck »Anstoß nehmen«. Er kommt in David Copperfield vor, wenn Davids Tante, Betsey Trotwood, Anstoß daran nimmt, dass er auf die Welt kommt), aber diesmal verspürte ich eine ungewohnte Dankbarkeit gegenüber meiner Schwester.

»Danke, Daff ! «, fasste ich das Gefühl in Worte. »Ich wusste ja, dass ich mich auf dich verlassen kann.«

Es war des Guten fast zu viel, aber ich freute mich ganz ehrlich. Und Daffy auch, glaube ich, denn als sie wieder nach ihrem Buch griff, spielte ein flüchtiges Lächeln um ihre Mundwinkel.

 

Ich rechnete halb damit, Porcelain in meinem Zimmer anzutreffen, aber sie war natürlich nicht da. Schließlich hatte sie mich des versuchten Mordes beschuldigt.

Porcelain war der erste Punkt auf meiner Liste.

PORCELAIN (schrieb ich in mein Notizbuch): Kann ihre Großmutter nicht überfallen haben, weil sie sich zur Tatzeit in London aufhielt – behauptet sie jedenfalls. Aber warum hat sie ihre Kleider ausgewaschen?

 

BROOKIE HAREWOOD: Ist vermutlich demselben Täter zum Opfer gefallen wie Fenella. Oder hat Brookie Fenella überfallen? Er war zur Tatzeit in der Nähe.

 

VANETTA HAREWOOD: Wozu sollte sie ihren eigenen Sohn umbringen? Sie hat ihm Geld gegeben, damit er sich von ihr fernhielt.

 

URSULA XY (Nachname unbekannt): Hantiert mit Bleiche und Weidenruten, und Vanetta hat gesagt, sie sei übertrieben fürsorglich. Tatmotiv???

 

COLIN PROUT: Wurde von Brookie rumgescheucht, aber was hätte Colin gegen Fenella haben sollen?

 

MRS BULL: Hat Fenella mit der Axt gedroht und sie des Kindesdiebstahls beschuldigt.

 

HILDA MUIR (Identität ungeklärt): Fenella hat ihren Namen zweimal erwähnt: einmal, als wir in der Rinne das Kind der Bulls auf einem Baum entdeckt haben, und dann nochmal, als ich Holunderzweige abgerissen habe. »Jetzt müssen wir alle sterben!«, hat Fenella gerufen. Hat Hilda Muir Fenella überfallen?

 

MISS MOUNTJOY: War Brookies Vermieterin. Aber warum sollte sie ihn umbringen? Der Diebstahl eines alten, wenngleich wertvollen Tellers ist kein überzeugendes Tatmotiv.

Ich zog einen Strich und schrieb darunter:

FAMILIE

 

VATER: Äußerst unwahrscheinlich (allerdings hat er seinerzeit Fenella und Johnny Faa aus Buckshaw vertrieben).

 

FEELY, DAFFY, DOGGER und MRS MULLET: In beiden Fällen keine Tatmotive.

Moment mal! Was war mit der geheimnisvollen Frau, der Fenella auf dem Jahrmarkt die Zukunft vorhergesagt hatte?

»Diese Gewitterziege,« hörte ich Fenella wieder sagen. »Ich hab ihr gesagt, dass in ihrer Vergangenheit etwas begraben liegt, das ans Licht will…«

Hatte das, was Fenella in ihrer Kristallkugel gesehen hatte, ihr Schicksal besiegelt? Daffy machte sich immer über Wahrsagerinnen lustig (»alles Hokuspokus«), aber nicht jeder war dieser Ansicht. Porcelain zum Beispiel behauptete, ihre Mutter Lunita habe ein derart ausgeprägtes zweites Gesicht besessen, dass ihr sogar das Kriegsministerium die Hellseherei finanziert hatte.

Es war nur naheliegend, dass Lunita diese Gabe von ihrer Mutter Fenella geerbt hatte.

Wenn sowohl Fenella als auch Lunita das zweite Gesicht hatten, konnte man dann nicht davon ausgehen, dass auch Porcelain mehr sah als andere?

Sie hatte zugegeben, dass sie sich vor mir fürchtete.

Sah sie in meiner Vergangenheit etwas, das ich selbst nicht erkennen konnte?

Oder blickte sie vielmehr in meine Zukunft?

Zu viele Fragen und zu wenig Tatsachen.

Ein Schauder überlief mich, aber ich riss mich zusammen und schrieb weiter.

DAS GEHÖLZ

 

Irgendetwas ist mit diesem Wäldchen los. Meinem Ahnherrn Lucius de Luce muss es wie eine Sintflut vorgekommen sein, als der Fluss umgeleitet wurde, um den künstlichen See anzulegen. Davor war das Gehölz nur ein abgelegenes Fleckchen, das Nicodemus Flitch und seine Humpler für ihre Taufen und Feste aufsuchten. Später rasteten dort Zigeuner. Harriet hat sie dazu ermuntert, aber nach ihrem Tod hat Vater die Zigeuner vertrieben. Warum?

Ein dicker Strich. Darunter schrieb ich:

FISCH

 

(1) Als ich Brookie im Salon von Buckshaw ertappt habe, roch er nicht nur nach Schnaps, sondern auch nach Fisch (oder sein Korb müffelte danach).

 

(2) In Fenellas Wohnwagen roch es nach Fisch, als ich sie schwer verletzt auf dem Boden vorfand. Als ich am nächsten Morgen Porcelain dort antraf, war der Geruch weg – aber heute war er wieder da, diesmal draußen vor der Wohnwagentür. Frage: Können Gerüche auf- und abtreten wie Schauspieler?

 

(3) Miss Mountjoy roch nach Fisch – beziehungsweise nach Lebertran, wenn ich an ihren Vorrat denke.

 

(4) Brookie wurde (meine Vermutung) mit einer Hummergabel ermordet, die ihm jemand durch die Nase ins Hirn gestoßen hat. Die Hummergabel stammte aus Buckshaw. (Anmerkung: Hummer sind zwar keine Fische, sondern Krustentiere – trotzdem!) Seine Leiche wurde an ein Standbild des Meeresgotts Poseidon gehängt.

 

(5) Als wir Brookie fanden, war sein Gesicht weiß wie ein Fischbauch – was aber auch bedeuten kann, dass er schon länger dort baumelte, womöglich die ganze Nacht. Jedenfalls hat ihn der Täter im Dunkeln dort hochgehievt, um nicht erwischt zu werden.

So mancher hätte nun der Versuchung nicht widerstehen können, die Liste mit der schönen Redensart zu beenden: »Der Fisch stinkt immer vom Kopf her.«

Nicht so ich.

Wie jeder Chemiker weiß, der sein Kalziumchlorid wert ist, stinken nicht nur Fische nach Fisch. Ich könnte aus dem Stegreif etliche Substanzen nennen, die nach toter Makrele miefen, darunter Propylamin.

Propylamin (das von dem großen französischen Chemiker Jean-Baptiste Dumas entdeckt wurde) ist ein primäres Amin und ein Derivat eines Alkohols – was sich für sich genommen vielleicht ziemlich langweilig anhört, bis man Folgendes erfährt: Erhitzt man ein Molekül Alkohol zusammen mit Ammoniak, findet eine bemerkenswerte Umwandlung statt. Es ist so ähnlich wie bei dem Spiel »Die Reise nach Jerusalem«, nur dass hier der Wasserstoff, der ein Teil des Ammoniaks ist, einen oder mehrere seiner Stühle (in diesem Falle: Atome) von einem Alkoholat besetzen lässt. Je nachdem, wann die Musik aufhört, kann sich eine gewisse Anzahl neuer Produkte, sogenannte Amine, bilden.

Mit Geduld und einem Bunsenbrenner kann man im Labor die schauderhaftesten Gerüche erzeugen. So musste beispielsweise im Jahr 1889 die gesamte deutsche Stadt Freiburg evakuiert werden, weil Chemiker ein wenig Propanthion hatten entweichen lassen. Angeblich wurde es den Leuten noch im Umkreis von etlichen Meilen kotzübel, und Pferde fielen in Ohnmacht.

Das hätte ich zu gern miterlebt!

Während man andere Substanzen, beispielsweise die niederen Fettsäuren, leicht manipulieren kann, um jegliche Geruchsabstufung zwischen ranziger Butter und Pferdeschweiß, zwischen verstopftem Abfluss und Käsefüßen zu erzielen, so sind es die niederen Amine – die Sprösslinge des Ammoniaks – die über eine spannende, einzigartige Eigenschaft verfügen: Sie riechen nach Fisch.

Propylamin und Trimethylamin haben wahrhaft den Titel »Großmeister des Gestanks« verdient.

Da uns Mutter Natur so viele Möglichkeiten gewährt, diesen prächtigen Mief künstlich herzustellen, schätzt sie einen zünftigen Gestank sicherlich ebenso wie ich. Ach, wie schön es doch gewesen war, als ich zuletzt Trimethylamin extrahiert hatte (es ging wieder mal um einen harmlosen Pfadfinderinnenstreich), indem ich es mit Backpulver aus einem Picknickkorb voller Stinkendem Gänsefuß (Chenopodium olidum) destillierte, einem übelriechenden Unkraut, das in Hülle und Fülle auf dem Trafalgar-Rasen spross.

Womit wir wieder bei Brookie Harewood wären.

Eines stand für mich inzwischen so gut wie fest: Das Rätsel um Brookies Tod war nicht durch Fotoapparate, Notizen und die Vermessung des Poseidonbrunnens zu lösen, sondern im Chemielabor.

Und ich würde diejenige welche sein.

Grübelnd rutschte ich das Geländer zur Eingangshalle hinunter.

Auch zu meiner Kindheit hatten Reime und Scherzfragen gehört.

Wer hat viele Zähne, aber keinen Mund?

»Die Säge!«, hatte ich gekräht, denn Daffy hatte geschummelt und mir die Antwort ins Ohr geflüstert.

Damals hatten mich meine Schwestern noch gemocht.

Später wurde es schwieriger:

Eine bringt Glück,
zwei bringen Leid,
drei bringen der Braut das weiße Kleid,
bei vieren ist der Tod nicht weit.

Die Antwort lautete »Elstern«. Vier dieser Vögel waren auf dem Dach gelandet, als wir ein Picknick auf dem Rasen veranstaltet hatten, und meine Schwestern hatten mich gezwungen, die Zeilen auswendig zu lernen, ehe ich über die eingezuckerten Erdbeeren herfallen durfte.

Damals hatte ich noch keine Erfahrung mit dem Tod gehabt, aber die Reime meiner Schwestern bescherten mir Albträume. Trotzdem hatten sie zur Folge, dass ich im Rätsellösen ziemlich gut wurde. Im Grunde sind solche Scherzfragen Kriminalfälle in Kurzform. Man kennt die grundlegenden Fakten und muss sie interpretieren. Hier ein Beispiel:

 

Als der Förster in den Wald ging, kamen ihm sieben alte Weiblein entgegen, von denen jedes sieben Käfige mit sieben Finken drin trug. Jeder Fink hatte sieben Junge. Wie viele alte Weiblein, Käfige, Finken und Finkenjunge gingen in den Wald?

 

Die gesuchte Antwort lautete natürlich »gar keine« (nur der Förster geht in den Wald hinein, alle anderen verlassen den Wald). Bei näherer Überlegung steckt noch viel mehr dahinter. Hätte der Förster die alten Weiblein auf dem Weg in den Wald überholt, hätte die Antwort – die Säcke mitgezählt – »An die dreitausend« gelautet!

Alles hängt vom Blickwinkel ab.

Mrs Mullet saß mit einer Tasse Tee am Fenster. Ich stibitzte einen Vollkornkeks.

»Sagen Sie mal … diese Humpler«, fiel ich gleich mit der Tür ins Haus, »warum haben Sie gesagt, die würden Blutwurst aus mir machen?«

»Halt dich einfach an meinen Rat, und geh ihnen aus dem Weg.«

»Ich dachte, es gibt gar keine Humpler mehr.«

»Die sehen ja auch aus wie du und ich, darum erkennt man sie nicht auf den ersten Blick.«

»Wie soll ich ihnen denn aus dem Weg gehen, wenn ich sie nicht erkenne?«

Mrs M schaute sich um und dämpfte die Stimme: »Die alte Mountjoy, zum Beispiel. Weiß der Himmel, was in der ihrer Küche vorgeht.«

»Tilda Mountjoy aus der Weidenvilla?«

Ich konnte mein Glück kaum fassen!

»Genau die meine ich. Heute früh hab ich sie in der Rinne getroffen. Sie ist zum Gehölz gegangen. Die geh’n da immer noch hin und machen irgendwas mit dem Wasser – vergiften wahrscheinlich.«

»Aber Miss Mountjoy kann keine Humplerin sein. Sie besucht doch die Messe in St. Tankred!«

»Wahrscheinlich zum Spionieren!«, schnaubte Mrs Mullet. »Meiner Freundin Mrs Waller hat sie erzählt, es ist wegen der Orgel. Die Humpler haben nämlich keine Orgeln. ›Ich hör den Klang so gern, wenn die Orgel schön gespielt wird‹, hat sie Mrs Waller erzählt, und die hat es mir erzählt. Tilda Mountjoy ist eine Humplerin durch und durch, so wie ihre Eltern auch schon. Liegt in der Familie. Ganz egal, in welchen Klingelbeutel sie ihren Sixpence wirft, sie ist ’ne Humplerin vom Scheitel bis zur Sohle, das kannst du mir glauben.«

»Und Sie haben Mrs Mountjoy in der Rinne getroffen? «Ich ließ mir kein Wort entgehen.

»Mit eignen Augen. Seit Mrs Ingleby so viel Ärger hat, muss ich meine Eier woanders herkriegen. Bis nach Rawlings muss ich jetzt laufen, aber ich muss sagen, die Dotter sind besser als die von den Inglebys. Das liegt am Futter, weißt du – oder gilt das für die Schalen? Aber ich hab immer keine Lust, den ganzen Weg außen rum zurückzustiefeln, darum geh ich durch die Rinne und nehm’ die Abkürzung durchs Gehölz. Miss Mountjoy hat bei den Bulls am Zaun gestanden.«

»Haben Sie sie angesprochen?«

»I wo. Ich bin erst langsamer gegangen und hab mich dann auf ’ne Bank gesetzt und die Schuhe ausgezogen, als wären Steinchen drin.«

»Bravo!« Ich klatschte in die Hände. »Super!«

»Sag nicht ›super‹, Schätzchen. Du weißt doch, dass der Colonel das nicht mag.«

Ich kniff übertrieben die Lippen zusammen.

»Wää nchch?«

»Ich versteh dich nicht, Schätzchen.«

»Wer noch? Ich meine, wer ist noch alles ein Humpler? «

»Gern sag ich’s nicht, aber dieser Reggie Pettibone ist auch einer. Und seine Frau, diese eingebildete Pute. Bloß weil bei ihr zu Hause alles Luui der Neunzehnte ist.«

»Gehört ihrem Mann der Antiquitätenladen?«

Mrs Mullet nickte düster und trauerte offensichtlich wieder ihrem Tisch nach.

»Vielen Dank, Mrs M«, sagte ich. »Ich schreibe vielleicht einen Aufsatz über die Geschichte von Buckshaw. Dann erwähne ich Sie auf jeden Fall in den Fußnoten.«

Als ich zur Küchentür ging, zupfte sich Mrs Mullet die Frisur zurecht und wiederholte warnend: »Geh denen bloß aus dem Weg, sag’ ich dir!«