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Am Fluss

Es gibt Dinge, auf die man zehn Minuten nach dem Aufwachen nicht sonderlich scharf ist, und dazu gehört, mit Höchstgeschwindigkeit die Great West Road hinunterzubrausen. Selbst um drei Uhr morgens und mit Blaulicht und Sirene, die einem den Weg auf einer Straße frei fegen, die sowieso so leer ist, wie eine Straße in London überhaupt nur sein kann. Ich hielt mich am Sicherheitsgurt fest und verdrängte jeden Gedanken daran, dass der Jaguar zwar hinsichtlich Design und Qualität ein wunderbarer Oldtimer sein mochte, in Bezug auf Airbags und moderne Knautschzonen jedoch leider einige gravierende Defizite aufzuweisen hatte.

»Haben Sie schon das Funkgerät in Gang setzen können?«, erkundigte sich Nightingale.

Der Jaguar war irgendwann mit einem modernen Polizeifunkgerät ausgerüstet worden, das Nightingale, wie er völlig unbekümmert zugab, nie zu benutzen gelernt hatte. Ich hatte es immerhin geschafft, es anzuschalten, wurde aber abgelenkt, als Nightingale den Wagen dermaßen schnell durch den Hogarth-Kreisverkehr jagte, dass mein Kopf gegen das Seitenfenster knallte. Dann jedoch konnte ich das relativ gerade Straßenstück in den Polizeibezirk Richmond Borough ausnutzen, wo sich Nightingale zufolge der Zwischenfall ereignet hatte. Im Polizeifunk hörten wir gerade noch den Rest einer Meldung, abgesetzt mit gepresster, halb erstickter Stimme, der man anhörte, dass der Sprecher versuchte, keine Panik durchklingen zu lassen. Die Sache hatte irgendwas mit Gänsen zu tun.

»Tango Whiskey Eins an Tango Whiskey Drei: Bitte wiederholen Sie.«

TW-1 war offenbar die diensthabende Beamtin im Kontrollraum von Richmond, und TW-3 musste wohl einer der Einsatzwagen des Reviers sein.

»Tango Whiskey Drei an Tango Whiskey Eins: Wir sind unten beim Weißen Schwan und werden von Gänsen angegriffen.«

»Weißer Schwan?«, fragte ich.

»Ein Pub in Twickenham«, erklärte Nightingale, »neben der Brücke zur Eel-Pie-Insel.«

Eel Pie war, wie ich wusste, eine Ansammlung von kleinen Bootswerften und Häusern auf einer Flussinsel, die kaum länger als fünfhundert Meter sein mochte. Die Rolling Stones hatten dort mal einen Auftritt gehabt, wie übrigens auch mein Vater, deshalb kannte ich die Insel.

»Und die Gänse?«, fragte ich.

»Besser als jeder Wachhund«, antwortete er. »Fragen Sie nur mal die alten Römer.«

Aber TW-1 war an den Gänsen nicht interessiert, sie wollte mehr über das Verbrechen erfahren. Zwanzig Minuten zuvor waren zahlreiche Notrufe eingegangen, bei denen es um Störung der öffentlichen Ordnung und mögliche Straßenkämpfe zwischen Jugendgangs gegangen war. Was nach meiner Erfahrung alles bedeuten konnte, von einem aus dem Ruder gelaufenen Junggesellinnenabend bis hin zu Füchsen, die auf der Suche nach Futter Mülltonnen umstießen.

TW-3 berichtete, dass man eine Gruppe von männlichen IC1 beobachtet habe, die in Jeans und Donkeyjacken gekleidet waren und sich auf der Riverside Road einen Straßenkampf mit einer unbekannten Anzahl von weiblichen IC3 geliefert hätten. IC1 ist der polizeiliche Identifizierungscode für Weiße, IC3 kennzeichnet Farbige, und falls das hier irgendjemanden interessiert: Ich selber springe irgendwo zwischen IC3 und IC6 herum – arabisch oder nordafrikanisch, je nachdem, wie viel Sonne ich gerade abbekommen habe. Schwarz gegen Weiß war zwar ungewöhnlich, aber nicht unmöglich, doch ich hatte noch nie von Boys gegen Girls gehört, und TW-1 offenbar auch nicht, denn sie verlangte nach weiterer Klärung.

»Weiblich«, berichtete TW-3, »definitiv weiblich, denn eine von ihnen ist splitternackt.«

»Das habe ich befürchtet«, murmelte Nightingale.

»Was befürchtet?«, fragte ich.

Rechts und links von uns war einen Augenblick nur Leere zu sehen, als wir über die Chiswick Bridge rasten. Oberhalb von Chiswick verläuft die Themse in einer nördlichen Schleife um Kew Gardens. Wir durchquerten die Schleife an der Basis und hielten auf die Richmond Bridge zu.

»In der Nähe befindet sich ein wichtiger Schrein«, erklärte Nightingale. »Ich denke, die Jungs waren vielleicht scharf darauf.«

Mit »Schrein«, vermute ich, meinte er wahrscheinlich nicht das Rugbystadion.

»Und die Mädchen wollten den Schrein verteidigen?«

»So könnte es gewesen sein.« Nightingale war ein hervorragender Fahrer, mit einer Konzentration, die ich bei hohen Geschwindigkeiten doch recht beruhigend fand, aber selbst er musste ab und zu ein wenig langsamer fahren, wenn die Straßen enger wurden. Wie viele andere Bezirke Londons war auch das Straßennetz in Richmond Town zu einer Zeit entstanden, als Stadtplanung noch ein Fremdwort war.

»Tango Whiskey Vier an Tango Whiskey Eins: Ich bin in der Church Lane an der Themse und beobachte gerade fünf oder sechs männliche IC1. Sie steigen in ein Boot – sie verfolgen jemanden.«

TW-4 musste der zweite Einsatzwagen des Bezirks Richmond sein, was bedeutete, dass jetzt ungefähr jeder verfügbare Kollege mit der Sache befasst war.

TW-3 berichtete, von den weiblichen IC3 sei nichts zu sehen, weder nackt noch sonst wie, aber TW-3 habe das Boot gesichtet und es steuere auf das gegenüberliegende Ufer zu.

»Melden Sie sich und teilen Sie mit, dass wir auf dem Weg sind«, sagte Nightingale.

»Wie ist unser Rufzeichen?«, erkundigte ich mich.

»Zulu Eins«, antwortete er völlig ernst.

Ich schaltete das Mikro ein. »Tango Whiskey Eins – hier ist Zulu Eins. Bitte melden.«

Eine kleine Pause trat ein, während TW-1 das verarbeitete. Ich fragte mich, ob die diensthabende Beamtin wusste, wer wir waren.

»Tango Whiskey Eins an Zulu Eins: verstanden.« Die Stimme klang gleichmütig, neutral. Sie wusste offenbar genau, wer wir waren. »Die Verdächtigen haben anscheinend den Fluss überquert und halten sich jetzt möglicherweise am Südufer auf.«

Ich versuchte das zu bestätigen, brachte aber nur ein Krächzen heraus, da Nightingale im selben Augenblick in die George Street raste, und zwar in falscher Richtung, was man bekanntlich in einer Einbahnstraße selbst mit Blaulicht und heulender Sirene nicht tun sollte. Nicht zuletzt deshalb, weil dabei durchaus die Möglichkeit besteht, dass man sich plötzlich Stirn an Stirn mit etwas wirklich sehr Schwerem befinden könnte, das für die nächtliche Straßenreinigung konstruiert worden ist. Ich stemmte beide Füße gegen den Fußraum des Jaguar, als unsere Scheinwerfer ein zwei Meter hohes kirschrotes Valentinsherz im Schaufenster der Drogeriemarktkette Boots aufleuchten ließen.

TW-3 meldete sich erneut: »Auf dem Boot der Verdächtigen ist soeben ein Feuer ausgebrochen. Ich sehe mehrere Leute über Bord springen.«

Nightingale bremste abrupt, bog ab und nun fuhren wir glücklicherweise wieder in der richtigen Richtung. Die Richmond Bridge lag links von uns, aber Nightingale fuhr geradewegs über den Minikreisverkehr und in die Straße, die an der Themse entlangführte. Wir hörten, dass TW-1 das Feuerlöschboot der Londoner Feuerwehr anforderte, doch das Boot würde mindestens zwanzig Minuten brauchen.

Nightingale riss den Jaguar in eine Rechtskurve, die ich nicht mal bemerkt hatte, und plötzlich rasten wir durch absolute Dunkelheit, holperten über eine Straße, die den Unterboden mit kleinen Splittsteinen bombardierte. Eine nicht weniger plötzliche Linkskurve, und jetzt fegten wir direkt am Ufer entlang und folgten der Flussbiegung nach Norden. Auf der gegenüberliegenden Uferseite lag eine Reihe von Kabinenkreuzern vertäut und dahinter konnte ich einen gelben Feuerschein ausmachen – das musste das brennende Boot sein. Es handelte sich nicht um eine Freizeityacht, sondern um einen altmodischen Binnenkahn, aber in einer verkürzten Ausführung, die von alternativ angehauchten Unternehmern bevorzugt wird und bei der man erwarten konnte, dass die Seitenwände des Aufbaus bunt bemalt waren und dass irgendwo auf dem Deck eine schlafende Katze lag. Sollte auch dieses Boot eine Katze an Bord haben, konnte ich nur hoffen, dass sie schwimmen konnte, denn inzwischen brannte das Boot vom Bug bis zum Heck.

»Dort!«, sagte Nightingale.

Ich starrte nach vorn und bemerkte am Rand unseres Scheinwerferlichts ein paar Gestalten. Ich gab die Meldung an TW-1 durch: »Bestätige, dass sich die Verdächtigen am Südufer aufhalten, in der Nähe von … Wo sind wir eigentlich?«

»Hammerton’s Ferry«, sagte Nightingale und ich meldete es weiter.

Nightingale hielt gegenüber dem brennenden Boot. Im Handschuhfach lag eine Taschenlampe, eine vulkanisierte Monstrosität mit altmodischer Glühbirne. Aber sie lag schön schwer in der Hand, was mir ein beruhigendes Gefühl vermittelte, als wir in die Dunkelheit gingen.

Ich leuchtete den Pfad ab, aber die Verdächtigen – wenn sie denn Verdächtige waren – hatten sich bereits davongemacht. Nightingale schien sich mehr für den Fluss als für den Pfad zu interessieren. Am Ufer ließ ich den Lichtstrahl über das Wasser rings um das Boot kreisen, das langsam flussabwärts trieb, konnte aber niemanden im Wasser entdecken.

»Sollten wir nicht überprüfen, dass niemand an Bord geblieben ist?«, fragte ich.

»Ich will doch hoffen, dass niemand mehr an Bord ist!«, sagte Nightingale sehr laut, als redete er mit dem Fluss und nicht mit mir. »Und ich will, dass das Feuer sofort gelöscht wird!«, fügte er hinzu.

Aus dem Dunkeln hörte ich ein Kichern und richtete meine Taschenlampe in die Richtung, aber es war nichts zu sehen außer den am anderen Ufer vertäuten Booten. Gerade als ich wieder zum brennenden Boot hinüberblickte, wurde es ins Wasser hinabgezogen, als hätte es jemand am Kiel gepackt und mit heftigem Ruck unter die Oberfläche gerissen. Die letzten Flammen erloschen zischend und dann schoss das Boot wieder an die Oberfläche wie eine Plastikente im Badewasser. Das Feuer war vollständig aus.

»Wer hat das gemacht?«, fragte ich verblüfft.

»Die Flussgeister«, antwortete Nightingale. »Bleiben Sie hier, während ich weiter oben am Ufer nachschaue.«

Wieder hörte ich ein Lachen über das Wasser schallen. Dann sagte jemand, keine drei Meter von mir entfernt, definitiv eine Frau und aus London, sehr deutlich: »Ach du Scheiße!« Gleichzeitig war ein metallisches Reißen zu hören.

Ich lief hin. An dieser Stelle war das Ufer eine sumpfige Böschung, die nur durch Baumwurzeln und große Flusskiesel stabilisiert wurde. Als ich näher kam, hörte ich ein Platschen, schwenkte den Lichtstrahl hinüber und sah gerade noch eine schlanke, kurvenreiche Gestalt im Wasser verschwinden. Vielleicht hätte ich sie für einen Otter gehalten, wenn ich blöd genug gewesen wäre zu glauben, dass Otter unbehaart sind und so groß wie ein Mensch werden können. Direkt vor meinen Füßen lag eine Art Käfig aus engmaschigem Draht, der, wie ich später erfuhr, zu einem Projekt zur Eindämmung der Ufererosion gehörte. Eine Seite des Käfigs war aufgerissen worden.

Nightingale kehrte mit leeren Händen zurück und meinte, dass wir nun genauso gut auf das Löschboot warten konnten, welches das Wrack abschleppen würde. Ich fragte ihn, ob es hier so was wie Meerjungfrauen gebe.

»Das war keine Meerjungfrau«, sagte er.

»Also gibt es so etwas wie Meerjungfrauen?«, hakte ich nach.

»Konzentration, Peter«, sagte er. »Eins nach dem anderen.«

»Oder war es ein Flussgeist?«

»Genius loci. Der Geist des Ortes, oder eine Flussgöttin, wenn Sie so wollen.« Aber nicht die Göttin der Themse persönlich, erklärte er weiter, weil es eine Verletzung der Abmachung wäre, wenn sie sich persönlich an solchen Übergriffen beteiligte. Ich fragte ihn, ob er mit der Abmachung die Abmachung meinte oder eine ganz andere Abmachung.

»Es gibt eine Anzahl von Abmachungen«, sagte Nightingale. »Und ein wesentlicher Teil unserer Arbeit besteht darin, sicherzustellen, dass sich alle daran halten.«

»Es gibt also eine Flussgöttin«, stellte ich fest.

»Ja – Mutter Themse«, antwortete er geduldig. »Und es gibt auch einen Flussgott – Vater Themse.«

»Sind sie miteinander verwandt?«

»Nein. Und genau das ist ein Teil des Problems.«

»Und sind sie wirklich Götter?«

»Über theologische Fragen mache ich mir nie groß Gedanken«, erklärte Nightingale. »Sie existieren, sie haben Macht, sie können den Landfrieden stören – und damit sind sie eine Angelegenheit, um die sich die Polizei kümmern muss.«

Plötzlich schnitt ein starker Suchscheinwerfer durch die Dunkelheit und schwenkte ein-, zweimal über den Fluss, bevor er auf dem Boot stehen blieb – die Londoner Feuerwehr war da. Ich konnte den Dieselgestank riechen, als es vorsichtig längsseits manövrierte. Gestalten mit gelben Helmen standen mit Schläuchen und Enterhaken bereit. Im Licht des Suchscheinwerfers war zu erkennen, dass der Bootsaufbau vollständig von den Flammen verzehrt worden war, aber ich sah auch, dass der Rumpf rot und mit schwarzen Bordüren bemalt gewesen war. Wir hörten die Feuerwehrleute miteinander reden, als sie den Kahn bestiegen und ihn am Schlepptau festmachten. Die ganze Sache verlief irgendwie beruhigend irdisch und normal – aber das brachte mich auf einen weiteren Gedanken: Nightingale und ich waren aus den Betten gesprungen, in den Jaguar gehechtet und schon nach Westen losgerast, bevor es auch nur einen Hinweis darauf gegeben hatte, dass diese Sache mehr war als nur die letzten Nachwehen einer normalen Freitagnacht.

»Woher wussten Sie eigentlich schon vorher, dass uns diese Sache etwas angehen würde?«, fragte ich.

»Ich habe meine eigenen Quellen.«

Dann fuhr auch noch einer der Richmond-Einsatzwagen vor, in dem die diensthabende Beamtin saß. Wir gönnten uns ein bisschen bürokratisches Gerangel über die jeweiligen Zuständigkeiten und Befugnisse. Richmond siegte nach Punkten, aber nur, weil einer der Kollegen eine gut gefüllte Isokanne Kaffee in die Verhandlungen einbrachte. Nightingale unterrichtete die örtlichen Polizisten – es habe sich um einen Bandenkonflikt gehandelt, sagte er. Ein paar IC1-Typen, zweifellos betrunken, hätten das Boot gestohlen, seien damit von der Teddington-Schleuse hierhergefahren und hätten hier einen Streit mit einer lokalen Bande von IC3-Jugendlichen angezettelt – von denen einige Mädchen gewesen seien. Als die Teddington-Bande dann zu türmen versuchte, hätten sie das Boot versehentlich in Brand gesteckt, hätten es dann aufgeben müssen und seien zu Fuß über den Themsepfad geflohen. Nach dieser Darstellung nickten alle heftig mit den Köpfen – sie klang ja auch genauso, wie eine normale Freitagnacht in der Großstadt eben ablief. Nightingale erklärte, er sei sicher, dass niemand ertrunken sei, aber die Inspektorin vom Richmond-Revier wollte kein Risiko eingehen und beschloss, einen Such- und Rettungstrupp anrücken zu lassen.

Und nachdem unsere beiden Inspektoren auf diese Weise ihre jeweiligen Reviere markiert hatten, konnten wir unserer getrennten Wege gehen.

Nightingale und ich fuhren nach Richmond zurück, hielten aber ein Stück vor der Brücke an. Bis zur Dämmerung würde es wohl noch eine gute Stunde dauern. Ich folgte Nightingale durch ein schmiedeeisernes Tor. Die Straße, auf der wir uns befanden, führte durch einen städtischen Park bis zum Fluss hinunter. Vor uns war ein orangefarbenes Glühen zu sehen: eine Sturmlaterne hing an den unteren Ästen einer Platane und beleuchtete eine Reihe von Backsteinbögen in der Ufermauer, die die Straße zum Fluss hin stützte. Unter den Bögen nahm ich undeutlich ein paar Schlafsäcke, Kartons und alte Zeitungen wahr.

»Ich will mich nur kurz mit dem Troll da unterhalten«, erklärte Nightingale.

»Sir«, sagte ich, »für diese Leute müssen wir die politisch korrekte Bezeichnung benutzen, sie lautet Wohnsitzlose.«

»Für den hier nicht«, erwiderte Nightingale. »Der ist ein Troll.«

Jetzt nahm ich eine Bewegung im Dunkel unter den Steinbögen wahr, ein blasses Gesicht, wirre, zottige Haare, mehrere Schichten alter Kleider gegen die Kälte. Für mich sah der Mann wie ein Penner aus.

»Ein Troll, Sir, wirklich?«

Nightingale nickte. »Er heißt Nathaniel. Schlief früher unter der Hungerford Bridge.«

»Warum ist er umgezogen?«

»Anscheinend wollte er lieber in einem Vorort wohnen.«

Ein Vorort-Troll, warum auch nicht?

»Das ist Ihre Quelle, nicht wahr, Sir? Er hat Ihnen den Tipp gegeben.«

»Jeder Polizist ist nur so gut wie seine Informanten«, sagte Nightingale. Ich verzichtete auf den Hinweis, dass wir diese Leute heutzutage als Verdeckte Nachrichtenquelle bezeichneten. »Bleiben Sie mal ein wenig zurück«, wies er mich an. »Er kennt Sie schließlich noch nicht.«

Nathaniel wich in seine Höhle zurück, als sich Nightingale näherte und sich höflich am Eingang der Trollhöhle niederkauerte. Ich stampfte mit den Füßen und hauchte auf meine eiskalten Finger. Zwar war ich vernünftig genug gewesen, schnell noch meine Uniformjacke vom Haken zu reißen, aber obwohl ich sie unter meiner Winterjacke trug, spürte ich nach drei Stunden im Februar am Fluss, dass ich wohl bald den Zustand absoluter und totaler Erstarrung erreichen würde. Wenn ich nicht so damit beschäftigt gewesen wäre, meine Hände unter den Achseln zu wärmen, hätte ich vielleicht früher bemerkt, dass ich beobachtet wurde. Andererseits hätte ich es vielleicht überhaupt nicht bemerkt, wenn ich nicht seit zwei Wochen geübt hätte, ein Vestigium von einer stinknormalen Paranoia zu unterscheiden.

Es begann wie ein leichter Schauder, eine aufwallende Verlegenheit, wie damals in der achten Klasse, als Rona Tang über das Niemandsland der Disco-Tanzfläche zu mir herübermarschiert kam und mich mit unmissverständlichen Worten informierte, dass Sumne Ajayi mit mir zu tanzen wünsche, während ich aber auf gar keinen Fall tanzen wollte, solange eine verschworene Gemeinschaft weiblicher Teenager mich dabei beobachtete. Genau diese Art von kritischer Beobachtung verspürte ich jetzt auch wieder – provozierend, spöttisch, neugierig. Ich blickte mich unwillkürlich um, wie man das eben so macht, sah aber nichts als den gelblichen Schein der Laternen oben an der Straße. Dann spürte ich einen Hauch von warmem Atem an der Wange, eine Empfindung wie ein kurzer Sonnenstrahl, frisch gemähtes Gras und geglättetes Haar. Ich drehte mich schnell um und starrte auf den Fluss hinaus – und für einen flüchtigen Augenblick glaubte ich eine Bewegung wahrzunehmen, ein Gesicht vielleicht, irgendetwas 

»Haben Sie etwas gesehen?«, fragte Nightingale so plötzlich, dass mir fast das Herz stehen blieb.

»Jesus!«, stieß ich hervor.

»Nicht auf diesem Fluss«, winkte Nightingale ab. »Nicht mal Blake glaubte, dass das möglich wäre.«

Wir kehrten zum Jaguar zurück und in die unbeständige Gemütlichkeit seiner 1960er-Heizung. Als wir durch das Zentrum von Richmond fuhren (dieses Mal hielten wir uns an die Einbahnstraßenregelung), fragte ich Nightingale, ob Nathaniel ihm etwas Nützliches mitgeteilt habe.

»Er bestätigte nur, was wir ohnehin schon vermutet hatten«, sagte Nightingale. Dass die Jungs in dem Boot zur Gefolgschaft von Vater Themse gehörten, dass sie den Fluss hinuntergekommen waren, um den Schrein auf Eel Pie Island zu plündern. Und dass sie auf ihrer Flucht den eigenen Kahn wahrscheinlich versehentlich abgefackelt hatten. Flussabwärts lag das Herrschaftsgebiet von Mutter Themse, flussaufwärts das von Vater Themse. Die Grenze verlief an der Teddington-Schleuse, zwei Kilometer flussaufwärts von Eel Pie Island.

»Sie glauben also, Vater Themse wollte sein Revier ein bisschen ausdehnen?«, fragte ich. Allmählich kam es mir so vor, als redeten wir hier nicht über »Götter«, sondern über Drogenhändler. Jetzt, auf dem Rückweg, hatte der Verkehr merklich zugenommen. London erwachte.

»Es ist wohl kaum erstaunlich, dass auch die lokalen Gottheiten so etwas wie Grenzstreitigkeiten kennen«, meinte Nightingale. »Auf jeden Fall ist das für Sie, Peter, eine gute Gelegenheit, sich einen einzigartigen Einblick in dieses Problem zu verschaffen. Ich möchte, dass Sie Mama Themse aufsuchen und mal ein Wörtchen mit ihr reden.«

»Und was genau sollen ich und mein einzigartiger Einblick mit Mrs. Themse bereden?«

»Versuchen Sie herauszufinden, worum es eigentlich geht, und schauen Sie, ob Sie vielleicht eine gütliche Lösung finden können.«

»Und wenn mir das nicht gelingt?«

»Dann sollten Sie sie daran erinnern, dass es immer noch einen Landfrieden gibt. Und dass er für das gesamte Königreich gilt.«

 

Niemand außer Nightingale durfte den Jaguar fahren, was ich im Prinzip durchaus verstehen konnte, denn hätte ich einen solchen Schlitten besessen, hätte ich wohl auch niemand anders ans Steuer gelassen. Ich meinerseits hatte Zugriff auf einen zehn Jahre alten blauen Ford Escort, dem man auf hundert Meter ansah, dass er mal zur Polizeiflotte gehört hatte. Offensichtlich war Nightingale beim selben Autohändler Kunde wie Lesley. Ein altes Bullenauto kann man immer erkennen, denn egal wie sehr man daran herumpoliert, es wird immer nach Bulle riechen.

 

Shoreditch, Whitechapel, Wapping – das alte und das neue East End, durch Geld und Kompromisslosigkeit zu einem Einheitsbrei geworden. Mutter Themse wohnte östlich des White Tower in einem umgebauten Lagerhaus. Auf der anderen Seite des Shadwell Basin lag der Prospect of Whitby. Dieser alte Pub war früher einmal ein legendärer Jazz-Treffpunkt gewesen; hier hatte mein Dad manchmal mit Johnny Keating zusammengehockt. Allerdings hatte mein Vater über die hochentwickelte Fähigkeit verfügt, die eigene Karriere zu vermasseln, jedenfalls wurde nichts aus seinem Auftritt mit Lita Roza – ich glaube, sie engagierten Ronnie Hughes als Ersatzmann.

Zur Straße hin zeigte das Lagerhaus das übliche blinde Gesicht eines Londoner Backsteinbaus, mit modernen Fenstern durchlöchert. Auf der Flussseite hatte man die alten Ladekais in Parkplätze verwandelt. Ich parkte zwischen einem orangefarbenen Citroën Picasso und einem feuerwehrroten Jaguar XF.

Als ich ausstieg, erlebte ich mein bisher deutlichstes Empfinden eines Vestigium. Ein intensiver Geruch von Pfeffer und Salzwasser, so plötzlich und so schockierend wie ein schriller Möwenschrei. Keine große Überraschung, schließlich gehörte das Lagerhaus früher zum Port of London, seinerzeit der geschäftigste Hafen der Welt.

Ein bitterkalter Wind fegte die Themse herauf; ich beeilte mich, ins Haus zu kommen. Von irgendwo war Musik zu hören, der Bass war bis zur Grenze der Gesundheitsgefährdung aufgedreht. Die Melodie selbst, falls es eine gab, war nicht zu hören, dafür vibrierte der Basslauf in meiner Brust. Darüber ertönte plötzlich ein helles weibliches Lachen, es klang ein wenig boshaft und geschwätzig. Neben dem pseudoviktorianischen Eingang war eine Gegensprechanlage installiert, die auf dem allerneuesten technischen Stand war. Ich gab die Nummer ein, die Nightingale mir genannt hatte, und wartete. Gerade wollte ich die Ziffern noch einmal eingeben, als sich auf der anderen Seite der Tür das klatschende Geräusch von Flip-Flops auf Fliesen näherte. Die Tür ging auf. Eine junge schwarze Frau stand vor mir. Sie hatte Katzenaugen und trug ein schwarzes, mehrere Nummern zu großes T-Shirt mit der Aufschrift WE RUN TINGS.

»Ja?«, sagte sie. »Was willst du?«

»Ich bin Detective Constable Grant«, sagte ich. »Ich möchte gern mit Mrs. Themse sprechen.«

Das Mädchen betrachtete mich von oben bis unten, wobei sie mich wohl mit irgendeinem theoretischen Idealmann verglich, verschränkte die Arme vor den Brüsten und starrte mich gereizt an. »Und?«, fragte sie.

»Nightingale schickt mich.«

Das Mädchen seufzte, drehte sich halb nach hinten und schrie in den Flur: »Der Typ hier behauptet, er kommt vom Zauberer!« Auf dem Rücken trug das T-Shirt die Aufschrift TINGS NUH RUN WE.

»Lass ihn rein!«, kam eine Stimme aus der Tiefe des Gebäudes. Sie hatte einen leichten, aber unverkennbaren nigerianischen Akzent.

»Na, dann komm halt rein«, sagte das Mädchen und trat zur Seite.

»Wie heißt du?«, fragte ich.

»Mein Name ist Beverley Brook«, sagte sie mit einer schnippischen Kopfbewegung, als sie an mir vorbeiging.

»Freut mich, dich kennenzulernen, Beverley«, sagte ich.

Im Gebäude war es heiß, fast tropisch-schwül, und schon nach kurzer Zeit rann mir der Schweiß über Gesicht und Rücken. Die Türen zum Flur standen weit offen und der schwere Bassrhythmus schallte die Treppe herunter, die die Stockwerke miteinander verband. Entweder bekam ich hier das am nachbarschaftlichsten gesinnte Haus in der englischen Sozialgeschichte zu sehen, oder Mama Themse herrschte über den ganzen Bau.

Beverley ging voran und führte mich in eine Erdgeschosswohnung. Es kostete mich einige Mühe, nicht ständig die langen Beine anzustarren, die schlank und braun unter dem Saum ihres überlangen T-Shirts herausragten. In der Wohnung war es sogar noch wärmer, und ich erkannte den Duft von Palmöl und Maniokblättern. Ich hatte sofort eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was mich in dieser Wohnung erwartete – in zarten Pfirsichtönen gestrichene Wände, Berge von Reis und Hühnchen in der Küche, Kekse mit Cremefüllung aus der Supermarkt-Großpackung.

An der Schwelle zum Wohnzimmer blieb Beverley stehen und winkte mich zu sich, so dass sie mir ins Ohr flüstern konnte: »Benimm dich gefälligst respektvoll, Mann!« Ich atmete den Duft von elektrischem Haarglätter und Kakaobutter ein und fühlte mich wieder wie mit sechzehn.

Der Architekt hatte wahrscheinlich irgendwann in den neunziger Jahren den Auftrag erhalten, das Lagerhaus zu Luxusapartments für aufstrebende Yuppies umzubauen. Zweifellos hatte er dabei Frauen und Männer in grauen Geschäftsanzügen im Sinn, die ihr Heim so öde und minimalistisch einrichten würden, wie es gern in skandinavischen Krimis beschrieben wird. Bestimmt hätte er sich auch in seinen schlimmsten Albträumen nicht vorstellen können, dass die zukünftigen Bewohner die großzügigen Dimensionen des Wohnzimmers als Ausrede missbrauchen würden, um es mit mindestens vier dreiteiligen Sitzlandschaften aus der nächstgelegenen Filiale von World of Leather vollzustopfen. Ganz zu schweigen von dem Plasma-Bildschirm, auf dem gegenwärtig Fußball ohne Ton lief, und einer riesigen Topfpflanze, in der ich erstaunt eine Mangrove erkannte. Ein richtiger Mangrovenbaum, dessen knorrige Wurzeln über den Rand des Topfes gequollen waren und nun die Landschaft unter dem Langflorteppich erkundeten. Ich blickte nach oben: die obersten Äste waren bereits durch die Decke gestoßen, und ich sah ein paar Stellen, an denen weißer Gips herausgerieselt war, so dass man die hölzerne Deckenkonstruktion sehen konnte.

Über die Sofas verteilt saß eine so feine Ansammlung afrikanischer Frauen mittleren Alters, wie man sie höchstens noch in einer Pfingstlerkirche antreffen konnte – und alle bedachten mich mit dem gleichen prüfenden Blick von oben bis unten, mit dem mich auch Beverley taxiert hatte. Mitten unter ihnen saß eine magere weiße Frau mit rosa Kaschmir-Twinset und einer Perlenkette um den Hals. Offenbar fühlte sie sich hier wie zu Hause, gerade so, als habe sie auf dem Weg in die Stadt nur kurz hereingeschaut und dann vergessen, wieder zu gehen. Mir fiel auf, dass ihr die Hitze nichts auszumachen schien. Sie nickte mir freundlich zu.

Aber all das war unwichtig, denn es befand sich noch eine weitere Frau im Raum: die Göttin des Flusses Themse.

Sie thronte im besten der tiefen, dick gepolsterten Sessel. Ihr Haar war mit schwarzen Baumwollfäden zu Zöpfen geflochten und mit Goldfäden durchwirkt und wie eine Krone um ihre Stirn gelegt. Ihr Gesicht war rund und faltenlos, die Haut war so glatt und vollkommen wie die eines Kindes, und ihre Lippen waren voll und sehr dunkel. Sie hatte die gleichen Katzenaugen wie Beverley. Die Bluse und der Wickelrock waren aus feinster goldfarbener österreichischer Spitze, am Ausschnitt mit einer rot-silbernen Bordüre abgesetzt. Der Ausschnitt war so weit, dass eine glatte, rundliche Schulter und die üppigen oberen Ausläufer ihrer Brüste deutlich zu sehen waren.

Eine wunderbar manikürte Hand ruhte auf einem Beistelltisch, neben den Tischbeinen standen Leinensäcke und kleine Holzkisten. Als ich näher kam, stieg mir der Geruch von Salzwasser und Kaffee in die Nase, von Diesel und Bananen, Kakao und Fischinnereien. Auch ohne Nightingale wusste ich, dass ich hier etwas Übernatürliches wahrnahm, einen so starken Zauber, dass es mir vorkam, als würde ich von einer Flutwelle mitgerissen. In ihrer Gegenwart kam es mir überhaupt nicht seltsam vor, dass die Flussgöttin der Themse Nigerianerin war.

»Du also bist der Junge vom Zauberer«, sagte Mama Themse. »Ich dachte, wir hätten eine Abmachung?«

Endlich fand ich meine Stimme wieder. »Ich glaube, es war eher eine Art Übereinkunft.«

Ich musste gegen den Drang ankämpfen, mich vor ihre Füße zu werfen und mein Gesicht zwischen ihre Brüste zu pressen und nur noch zu blubbern, blubbern, blubbern. Als sie mich einlud, mich zu setzen, war ich so steif, dass es wehtat.

Mir entging nicht, dass Beverley hinter vorgehaltener Hand kicherte. Es entging auch Mama Themse nicht, die den Teenager in die Küche jagte. Eins weiß ich mit Sicherheit: afrikanische Frauen kriegen deshalb Kinder, damit jemand anders die Hausarbeit machen muss.

»Möchtest du eine Tasse Tee?«, fragte Mama Themse.

Höflich lehnte ich ab. Diesen Punkt hatte Nightingale besonders betont: unter ihrem Dach nichts essen und nichts trinken. »Sobald Sie das tun«, hatte er gesagt, »zappeln Sie an ihrem Haken.« Meine Mutter hätte die Ablehnung als Beleidigung aufgefasst, aber Mama Themse neigte nur gütig den Kopf. Vielleicht gehörte auch das zur Abmachung.

»Dein Meister«, sagte sie. »Geht es ihm gut?«

»Ja, Ma’am.«

»Scheint immer besser zu werden, je älter er wird, unser Meister Nightingale«, fuhr sie fort. Bevor ich fragen konnte, was sie damit meinte, erkundigte sie sich schon nach meinen Eltern. »Deine Mutter ist eine Fulba, stimmt’s?«, fragte sie.

Ich nickte. »Aus Sierra Leone.«

»Und dein Vater spielt nicht mehr, glaube ich?«

»Sie kennen meinen Vater?«

»Nein.« Sie schenkte mir ein wissendes Lächeln. »Nur in dem Sinn, dass mir alle Musiker Londons gehören, vor allem die Jazz- und Bluesleute. Hängt mit dem Fluss zusammen.«

»Dann sind Sie bestimmt auch gut bekannt mit dem Mississippi?«, fragte ich. Mein Vater hatte immer geschworen, dass der Jazz, wie auch der Blues, aus den schmutzigbraunen Wassern des Mississippi hervorgegangen sei. Meine Mutter dagegen hatte geschworen, dass beides aus der Flasche hervorgegangen sei, wie alles Teufelszeug überhaupt. Mit der Frage hatte ich mich ein wenig über Mama Themse lustig machen wollen, aber im selben Moment wurde mir klar – wenn es eine Mutter Themse gab, konnte es durchaus auch einen Gott des Old Man River geben, und wenn es so war, redeten die beiden dann miteinander? Führten sie lange Telefonate und sprachen über Verlandung, Wassereinzugsgebiete und Maßnahmen zur Flutregulierung in den Überschwemmungsregionen? Oder benutzten sie heutzutage E-Mails, SMS oder Twitter?

Während dieser pragmatischen Überlegungen merkte ich, dass der Zauber allmählich verblasste, und Mama Themse musste das auch gespürt haben, denn sie warf mir einen listigen Blick zu und nickte. »Ja«, sagte sie, »jetzt sehe ich, wie es ist. Dein Meister war ganz schön clever, als er dich auswählte, und dabei sagt man doch, dass man einem alten Hund keine neuen Tricks beibringen kann.«

Nach zwei Wochen voller ähnlich unergründlicher Äußerungen von seiten Nightingales hatte ich eine ausgeklügelte Gegenstrategie zu solchen Sentenzen entwickelt – ich wechselte einfach das Thema.

»Wie sind Sie eigentlich zur Göttin der Themse geworden?«, fragte ich.

»Bist du sicher, dass du das wissen willst?«, fragte sie zurück, aber ich merkte trotzdem, dass ihr mein Interesse schmeichelte. Es ist nun mal eine Binsenwahrheit, dass jeder gern über sich selber redet. Neun von zehn Geständnissen sind ausschließlich dem natürlichen Instinkt des Menschen zuzuschreiben, einem aufmerksamen Zuhörer die eigene Lebensgeschichte erzählen zu wollen. Selbst wenn dazu auch die Story gehört, wie er den Golfpartner mit einem Golfschläger totprügelte. Mama Themse bildete da keine Ausnahme; tatsächlich wurde mir klar, dass Götter vielleicht ein noch größeres Bedürfnis hatten, sich zu erklären.

»Ich kam 1957 nach London«, begann Mama Themse, »aber damals war ich natürlich noch keine Göttin. Einfach nur ein dummes Hühnchen vom Land mit einem Namen, den ich längst vergessen habe. Machte eine Ausbildung als Krankenschwester, aber ich muss gestehen, dass ich keine besonders gute Schwester abgab. Ich hab’s nie gemocht, kranken Leuten zu nahe zu kommen. Es lag nur an den dummen Patienten, dass ich keine einzige Prüfung bestand und schließlich hinausgeworfen wurde.« Mama Themse gab ein verächtlich schmatzendes Geräusch von sich ob dieser Dreistigkeit. »Einfach so. Und mein schöner Robert, der mir schon seit drei Jahren den Hof gemacht hatte, sagte zu mir: ›Ich hab keine Lust, noch länger zu warten, bis du dich endlich entschließen kannst. Ich heirate eine Weiße, eine Irin.‹«

Wieder schmatzte sie verächtlich und ringsum schmatzten auch die anderen Frauen wie ein Echo.

»Ich war so todunglücklich, dass ich mich umbringen wollte. Oh ja, so schlimm hat mir dieser Mann das Herz gebrochen. Also ging ich auf die Hungerford Bridge, um mich in den Fluss zu stürzen. Aber das ist eine Eisenbahnbrücke, und der Fußgängersteg an der einen Seite – der war damals ungeheuer dreckig. Alle möglichen Typen lebten damals auf der Brücke, Tramps und Trolle und Kobolde. Das war jedenfalls keine Stelle, von der sich ein anständiges nigerianisches Mädchen ins Wasser stürzen würde. Wer weiß, wer da zuschaut! Also ging ich weiter zur Waterloo Bridge, aber als ich dort ankam, ging schon die Sonne unter, und wohin ich auch schaute, alles war so schön, dass ich mich einfach nicht überwinden konnte, hinunterzuspringen. Und dann wurde es dunkel, und ich ging nach Hause zum Abendessen. Am nächsten Morgen stand ich früh auf und nahm den Bus zur Blackfriars Bridge. Aber dort steht am Nordende die verdammte Statue von Königin Victoria, und obwohl sie in die andere Richtung schaut, wäre es doch furchtbar peinlich gewesen, wenn sie sich zufällig umgedreht und mich auf der Brüstung gesehen hätte.«

Die ganze Versammlung nickte zustimmend.

»Und mich von der Southwark Bridge zu stürzen, kam auf gar keinen Fall in Frage«, fuhr Mama Themse fort. »Also machte ich mich wieder auf die Beine und kam nach einem langen, langen Spaziergang wo an?«

»London Bridge?«

Mama Themse streckte die Hand aus und tätschelte mein Knie. »Damals noch die alte Brücke, die sie später an diesen netten Herrn aus Amerika verscherbelten. Das war noch ein Mann, der wusste, wie man mit einem Fluss umgehen muss! Zwei Fässer Guinness und eine Kiste Rum Barbencourt, das nenne ich eine Opfergabe!«

Eine Pause trat ein, während Mama Themse an ihrem Tee nippte. Beverley stakste mit einer Schale Vanillecremekekse herein und stellte sie auf den Tisch, so dass man sie gut erreichen konnte. Ich hielt einen Keks in der Hand, bevor ich wusste, was ich tat, und legte ihn schnell wieder zurück. Beverley schnaubte.

»Mitten auf der alten London Bridge stand eine Kapelle, die St. Birinus geweiht war, und als gute Sonntagsschülerin dachte ich, dass das genau der richtige Ort war, um mich ins Wasser zu stürzen. Da stand ich nun, schaute nach Westen, und genau da setzte die Flut ein. London war damals noch ein richtiger Hafen, ein sterbender Hafen zwar, aber doch wie ein alter Mann, der ein langes aufregendes Leben hinter sich hatte, voller Geschichten und Erinnerungen. Und für den nichts entsetzlicher war als die Vorstellung, dass er bald alt und gebrechlich sein und sich niemand um ihn kümmern würde. Und ich hörte, dass der Fluss redete und mich bei meinem Namen rief, den ich jetzt längst vergessen habe, und der Fluss sagte: ›Wir sehen, dass du leidest, wir sehen, dass du weinst wie ein Kind, nur wegen eines Mannes.‹

Und ich sagte: ›Oh Fluss, ich habe einen langen Weg hinter mir und habe als Krankenschwester versagt und habe als Frau versagt und deshalb liebt mich mein Mann nicht.‹

Und der Fluss redete und sprach: ›Wir können deine Mühsal hinwegnehmen, wir können dich glücklich machen und dir viele Kinder und Kindeskinder schenken. Und alle Welt wird zu dir kommen und dir Gaben zu Füßen legen.‹

Na ja«, fuhr Mama Themse fort, »das war natürlich ein verlockendes Angebot und deshalb fragte ich: ›Was muss ich tun? Was willst du von mir?‹, und der Fluss antwortete: ›Wir wollen nichts von dir, was du uns nicht ohnehin geben wolltest.‹

Also sprang ich ins Wasser – platsch! Und ich sank ganz nach unten und, du meine Güte, dort sind Sachen, die du nie glauben würdest. Sagen wir nur, man müsste dringend einmal das Flussbett säubern, und belassen wir’s dabei.«

Sie wedelte beiläufig mit der Hand zum Fluss hinüber. »Ich kam drüben bei Wapping Stair aus dem Fluss heraus, wo sie früher die Piraten ersäuften. Und seither bin ich immer hier geblieben. Heute ist das der sauberste Fluss in allen industriellen Gebieten Europas, glaubst du, das passiert von allein, Swinging London, Cool Britannia, das Themse-Wehr, glaubst du denn, das ist alles rein zufällig passiert?«

»Der Millennium Dome?«, fragte ich.

»Heute die populärste Konzerthalle in Europa«, sagte sie. »Sogar die Rheintöchter kamen mich besuchen, um zu lernen, wie man so was macht.« Sie warf mir einen bedeutungsschweren Blick zu und ich fragte mich, wer zum Henker die Rheintöchter sein mochten.

»Vielleicht sieht Vater Themse die Sache ganz anders?«, fragte ich.

»Baba Themse!« Sie spuckte den Namen buchstäblich aus. »Als er noch jung war, stand er genau dort, wo ich stand, nämlich auf der Brücke, und legte den gleichen Schwur ab wie ich. Aber seit dem Großen Gestank von 1858 hat er sich nicht mehr unterhalb der Teddington-Schleuse blicken lassen. Kam nie mehr zurück, auch nicht, nachdem Bazalgette die Abwasserkanäle baute. Nicht mal, als der ›Blitzkrieg‹ tobte und die halbe Stadt brannte. Und jetzt behauptet er, es sei sein Fluss!«

Mama Themse richtete sich kerzengerade in ihrem Sessel auf, als wolle sie für ein formelles Porträt Modell sitzen.

»Ich bin nicht habgierig«, verkündete sie. »Soll er doch Henley, Oxford und Staines behalten. Ich behalte dafür London und alle Gaben der Welt zu meinen Füßen.«

»Wir können nicht zulassen, dass es Aufruhr zwischen Ihren Leuten gibt«, sagte ich. Der majestätische Plural »Wir« ist in der Polizeiarbeit sehr wichtig, weil er die Bürger daran erinnert, dass hinter dir noch die mächtige Institution der Metropolitan Police steht, bekleidet mit der ganzen majestätischen Pracht des Gesetzes und, nach Personalstärke gerechnet, durchaus fähig, ein kleines Land zu besetzen. Allerdings kann man nur hoffen, dass die gesamte Macht der Metropolitan Police hinter einem auch gerade in dieselbe Richtung blickt, wenn man dieses »Wir« verwendet.

»Papa Themse hat unrechtmäßig die Schleuse überschritten, nicht ich«, sagte Mama Themse. »Also muss er sich zurückziehen, nicht ich.«

»Wir werden mit ihm reden. Aber wir erwarten, dass Sie Ihre Leute unter Kontrolle halten.«

Mama Themse neigte den Kopf zur Seite und betrachtete mich lange und nachdenklich. »Ich sag dir mal was«, seufzte sie schließlich. »Ihr habt bis zur Chelsea Flower Show Zeit, Baba Themse zur Vernunft zu bringen; danach nehmen wir die Sache selbst in die Hand.« Ihr majestätischer Plural stand wahrscheinlich auf sehr viel festeren Beinen als meiner.

Die Unterredung war zu Ende, wir tauschten noch ein paar Höflichkeiten aus, dann brachte mich Beverley Brook zur Tür. Als wir durch den Flur gingen, streifte sie mich absichtlich mit der Hüfte und ich spürte eine heiße Welle, die absolut gar nichts mit der Zentralheizung zu tun hatte.

Als sie die Tür für mich öffnete, warf sie mir einen ihrer spitzbübischen Blicke zu.

»Tschüss, Peter«, flötete sie, »bis bald.«

 

Im Folly fand ich Nightingale im Lesezimmer im ersten Stock. Ein paar dick gepolsterte grüne Lehnstühle aus Leder standen herum, ferner mehrere Fußhocker und Beistelltische. Bücherschränke aus Mahagoni mit Glastüren bedeckten zwei Wände, aber wie Nightingale mir bereits anvertraut hatte, war der Raum in früheren Zeiten hauptsächlich für kurze Nickerchen nach dem Mittagessen benutzt worden. Nightingale war mit dem Kreuzworträtsel im Telegraph beschäftigt.

Er blickte auf, als ich mich ihm gegenüber setzte. »Na, wie war Ihr Eindruck?«

»Sie hält sich wirklich für die Göttin der Themse«, sagte ich. »Ist sie das?«

»Das ist keine sonderlich hilfreiche Frage«, entgegnete er.

Molly glitt geräuschlos herein und stellte Kaffee und eine Schale mit Vanillecremekeksen auf einen Beistelltisch. Ich betrachtete die Kekse und warf ihr einen misstrauischen Blick zu, aber ihr Gesicht war so undurchdringlich wie eh und je.

»Und wenn es so wäre«, setzte ich wieder an, »woher kommt dann ihre Macht?«

»Das ist schon eine sehr viel bessere Frage«, sagte Nightingale. »Es gibt mehrere widersprüchliche Theorien über sie. Dass die Macht aus dem Glauben ihrer Gefolgsleute kommt. Dass sie aus dem Ort, dem Fluss selbst stammt oder dass es eine göttliche Quelle ihrer Macht gibt, jenseits der irdischen Gefilde.«

»Wie dachte Isaac darüber?«

»Sir Isaac«, antwortete Nightingale, »hatte gewissermaßen einen blinden Fleck, wenn es um das Göttliche ging – er stellte sogar in Frage, dass Jesus Christus wirklich göttlich war. Hatte auch absolut nichts übrig für die Vorstellung der göttlichen Dreieinigkeit.«

»Und warum nicht?«

»Sein Denken war sehr geordnet.«

»Stammt die Macht aus derselben Quelle wie die Magie?«, wollte ich wissen.

»All das wird viel leichter zu erklären sein, wenn Sie erst einmal einen Zauberspruch erfolgreich ausgeführt haben. Ich denke, bis zum Tee hätten Sie jetzt gut zwei Stunden Zeit für Ihre Übungen.«

Also schlich ich in Richtung Labor davon.

 

Ich träumte, dass ich mein Bett mit Lesley May und Beverley Brook teilte, rechts und links je einen schlanken, nackten Körper spürte, aber die Sache war nicht mal halb so erotisch, wie sie hätte sein sollen, weil ich keine umarmen konnte, aus Angst, dass dann die andere unsterblich einschnappen würde. Ich hatte mir gerade eine Strategie zurechtgelegt, wie ich meine Arme gleichzeitig um beide legen konnte, als Beverley ihre prächtigen Zähne in mein Handgelenk versenkte und ich mit einem furchtbaren Krampf im Arm aus dem Schlaf hochfuhr.

Es war so lebensecht gewesen, dass ich tatsächlich aus dem Bett fiel. Nichts befördert das Aufwachen so sehr wie ein durchdringender Schmerz, und als erst einmal klar war, dass ich nicht mehr einschlafen würde, stand ich auf und machte mich auf die Suche nach etwas Essbarem. Das Untergeschoss des Folly bestand aus einem Labyrinth von Räumen, die noch aus den Zeiten stammten, in denen das Haus Dutzende von Bediensteten aufzuweisen hatte, aber wenigstens wusste ich inzwischen, dass die Hintertreppe neben der Küche endete. Um Molly nicht zu stören, schlich ich so leise wie möglich hinunter, doch als ich unten ankam, sah ich, dass in der Küche Licht brannte. Als ich näher kam, hörte ich Toby erst knurren, dann bellen; zugleich war ein seltsames rhythmisches Zischen zu hören. Ein guter Polizist weiß, wann er seine Anwesenheit nicht hinausposaunen sollte, also schlich ich leise zur Küchentür und spähte hinein.

Molly, immer noch in ihrem Dienstmädchenoutfit, hockte auf einer Ecke des riesigen alten Eichentischs, der die halbe Küche ausfüllte. Neben ihr auf dem Tisch stand eine Rührschüssel aus Keramik, und vor ihr, ungefähr drei Meter entfernt, saß Toby, aufrecht und mit gespitzten Ohren. Da Molly mir den Rücken zuwandte, bemerkte sie mich nicht. Ihre Hand tauchte in die Schüssel und sie hob einen Klumpen rohes Fleisch heraus – so roh, dass das Blut heruntertropfte.

Toby bellte vor Aufregung, während Molly ihn mit dem Fleischklumpen lockte, den sie ihm dann mit einer schnellen, geschickten Handbewegung zuschleuderte. Toby vollführte aus sitzender Position heraus einen eindrucksvollen Luftsprung und schnappte sich den Klumpen aus der Luft. Als sie Toby beobachtete, der sich wie wild um sich selbst drehte, während er das Fleisch verschlang, begann Molly zu lachen – das rhythmisch zischende Geräusch, das ich vorhin gehört hatte.

Molly nahm einen weiteren Klumpen Fleisch aus der Schüssel und wedelte damit vor Toby herum, der voller Vorfreude einen kleinen Tanz aufführte. Doch dieses Mal reizte sie ihn nur damit, wobei sie seine wachsende Verwirrung mit ihrem zischenden Gelächter begleitete, und als sie sicher war, dass er sie wie gebannt anstarrte, stopfte sie den blutroten rohen Fleischklumpen in ihren eigenen Mund. Toby bellte ärgerlich, aber Molly streckte ihm nur eine unnatürlich lange, bewegliche Zunge heraus.

Ich musste wohl unwillkürlich aufgekeucht haben, denn Molly sprang plötzlich von der Tischkante und wirbelte zu mir herum. Weit aufgerissene Augen, der Mund geöffnet, so dass scharfe Eckzähne zu sehen waren, Blut, das in hellroten Tropfen über ihre blasse Haut rann und vom Kinn tropfte. Sie schlug sich die Hand vor den Mund und rannte mit beschämtem Gesichtsausdruck aus der Küche. Toby bedachte mich mit einem gereizten Knurren.

»Ich kann doch nichts dafür«, knurrte ich zurück. »Wollte mir nur was zu essen holen.«

Keine Ahnung, worüber er sich beschwerte – er bekam den ganzen Fleischrest aus der Schüssel. Und ich ein Glas Wasser. Ich hatte plötzlich keinen Hunger mehr.