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Tragische Komödie oder Komische Tragödie

Toby der Hund beißt Punch in die Nase, der wiederum schlägt Mr. Scaramouch, Tobys Herrchen, tot. Dann geht er nach Hause und wirft sein Baby aus dem Fenster und schlägt seine Frau Judy tot. Er fällt vom Pferd und tritt seinem Arzt ins Gesicht. Der Arzt greift ihn mit einem Stock an, aber Punch packt den Stock und schlägt den Arzt tot. Er läutet vor dem Haus eines reichen Mannes eine Schafsglocke, und als der Diener des Reichen herauskommt und ihn ausschimpft, schlägt Punch den Diener tot. An dieser Stelle entdeckte ich, dass meine Eiscreme geschmolzen und über meine Schuhe getropft war.

Die Tragische Komödie, oder die Komische Tragödie, von Punch und Judy, wie Giovanni Piccini sie 1827 John Payne Collier erzählte. Kein großes Problem, sich das Rollenheft zu beschaffen, wenn man erst einmal wusste, wonach man zu suchen hatte. Nach der Vorführung zeigten Lesley und ich dem Professor unsere Ausweise, und er stellte uns bereitwillig eine Textausgabe der Tragischen Komödie zur Verfügung. Wir nahmen sie mit zum Roundhouse an der Ecke New Row und Garrick Street, bestellten zwei doppelte Wodkas und begannen zu lesen.

»Unmöglich, dass das ein Zufall ist«, sagte ich.

»Denke ich auch.« Lesley nickte. »Jemand führt dieses bescheuerte Kasperletheater auf. Aber mit richtigen Menschen.«

»Deinem Boss wird das nicht gefallen.«

»Stimmt, und deshalb werde ich es ihm auch nicht erzählen«, sagte sie. »Soll doch dein Boss meinem Boss verklickern, dass in seinem Revier der Geist von Mister Punch herumläuft und Leute abmurkst.«

»Du glaubst, es ist ein Geist?«, fragte ich.

»Woher zum Henker soll ich das wissen? Dafür seid ihr Zauberbullen zuständig.«

 

Das Folly verfügte über drei Bibliotheken, eine, von der ich damals überhaupt nichts wusste, Nummer zwei war eine Zauberbibliothek, in der die Werke über Zaubersprüche, Formen und Alchemie standen, die alle lateinisch waren und insofern für mich ebenso gut in Suaheli hätten geschrieben sein können, und Nummer drei war die Allgemeine Bibliothek im ersten Stock neben dem Lesezimmer. Die Arbeitsteilung war von Anfang an klar: Nightingale griff sich seinen Stoff aus der Zauberbibliothek, und ich hielt mich an die Bücher in solidem Englisch.

Die Allgemeine Bibliothek war mit so viel Mahagoni getäfelt, dass man damit den Regenwald am Amazonas wieder hätte aufforsten können. An einer Wand reichten die Bücherschränke bis zur Decke; die oberen Regale erreichte man mittels einer Leiter, die sich auf glänzenden Messingschienen verschieben ließ. Eine Reihe wunderschöner halbhoher Nussbaumschränke enthielt den Katalog in Form eines Kartenregisters, die Folly-Variante von Suchmaschinen wie Google. Ein Hauch von verstaubtem Karton und Moder stieg mir in die Nase, als ich eine der Schubladen aufzog. Der Gedanke war geradezu tröstlich, dass Molly wohl nicht so weit ging, die Schubladen regelmäßig zu reinigen. Die Karten waren thematisch sortiert; dazu gab es einen Index nach Titeln. Ich suchte zunächst nach Verweisen auf Punch und Judy, fand aber nichts. Nightingale hatte mir allerdings noch einen weiteren Suchbegriff genannt: Wiedergänger. Nach ein paar Fehlversuchen landete ich schließlich bei Dr. John Polidoris Meditationen über die Erscheinungsformen von Leben und Tod, das dem Impressum zufolge 1819 erschienen war. Auf derselben Seite stand eine mit elegant schräger Handschrift verfasste Anmerkung auf Lateinisch: Vincit qui se vincit, August 1821. Ich fragte mich, was das wohl heißen mochte.

Laut Polidori handelte es sich bei einem Wiedergänger um einen Unruhegeist, der von den Toten zurückkehrt, um verheerend unter den Lebenden zu wüten, gewöhnlich als Vergeltung für irgendeine – wahrhaftige oder eingebildete – Schmach oder Unbill, die diese Unperson zu Lebzeiten erlitten hatte.

»Passt jedenfalls zu unserem Profil«, sagte ich beim Mittagessen zu Nightingale. Es gab Filet Wellington, mit Kartoffeln und gedünsteten Pastinaken. »Auch die kleinen Streitigkeiten, die plötzlich in Amokläufen enden, passen dazu.«

»Sie glauben also, die Leute werden infiziert?«

»Ich denke, es könnte sich um eine Art Feldeffekt handeln – wie eine Strahlung oder elektrisches Licht«, sagte ich. »Das Phänomen tritt innerhalb des Feldes auf und erzeugt ein Echo. Ihre Gehirne werden mit negativen Emotionen überladen und schon knallen sie durch.«

»Wären dann nicht noch mehr Leute davon betroffen? Im Kinofoyer standen zu diesem Zeitpunkt noch mindestens zehn weitere Personen in unmittelbarer Nähe, darunter auch Sie und Constable May, und dennoch war nur die Mutter betroffen.«

»Möglicherweise wirkt es verstärkend auf Wut, die schon vorhanden ist«, sagte ich. »Oder es funktioniert als Katalysator. Dürfte aber nicht leicht sein, diese Sache wissenschaftlich nachzuweisen.«

Nightingale lächelte.

»Was ist?«, fragte ich.

»Sie erinnern mich an einen Zauberer, den ich mal kannte«, sagte er. »David Mellenby. Bei ihm zeigte sich dieselbe Besessenheit.«

»Was wurde aus ihm? Hat er Aufzeichnungen hinterlassen?«

»Leider ist er im Krieg gefallen. Hatte nie die Chance, auch nur die Hälfte der Experimente durchzuführen, die er machen wollte. Er hatte seine eigene Theorie darüber, wie der Genius loci funktioniert. Sie hätte auch Ihnen bestimmt zugesagt.«

»Wie lautete seine Theorie?«, fragte ich.

»Ich denke, die werde ich Ihnen erst dann erläutern, wenn Sie Ihre nächste Forma beherrschen«, sagte Nightingale. »Mir ist aufgefallen, dass es Diskrepanzen zwischen dem Rollentext und dem realen Handeln von Mr. Punch gibt. Ich denke dabei an die Figur der Pretty Polly.«

Wie in der Tragischen Komödie geschrieben steht, trällert Mr. Punch nach der Ermordung seiner Frau ein fröhliches kleines Liedchen über die Vorteile, welche die Ermordung der Gemahlin mit sich bringt, und macht sich daran, sein Werben um Pretty Polly voranzutreiben. Die Figur Polly sagt zwar nichts, scheint aber auch »nicht abgeneigt« zu sein, als unser munterer kleiner Serienkiller sie zu küssen beginnt.

»Wir wissen nicht, ob unser Killer genau diesem Skript folgt«, wandte ich ein.

»Richtig«, nickte Nightingale. »Piccini gab nur eine mündliche Überlieferung wieder und diese sind bekanntlich fast nie zuverlässig.«

Dem möglicherweise nicht sehr zuverlässigen Piccini zufolge musste das nächste Opfer ein blinder Bettler sein, der Punch ins Gesicht hustet und für diese Unverschämtheit von der Bühne heruntergeworfen wird. Aus dem Rollenheft ging nicht hervor, ob der Bettler diese Behandlung überlebte oder nicht. »Wenn unser Wiedergänger Punchinella der Vorlage genau folgt«, sagte ich, »dann dürfte das nächste Opfer höchstwahrscheinlich ein Büchsenhalter für den Blindenverband sein.«

»Was ist ein Büchsenhalter?«

»Eine Person mit einer Sammelbüchse«, sagte ich und ahmte die schüttelnde Handbewegung nach. »Die Leute werfen da Kleingeld rein.«

»Ein Blinder, der bettelt. Es wäre nützlicher zu wissen, wer der Wiedergänger war und wo er begraben liegt.«

»Denn dann könnten wir uns um seine Anliegen kümmern und ihn damit dem ewigen Frieden überantworten.«

»Oder aber«, sagte Nightingale, »wir könnten seine Knochen ausgraben und zu Staub zermahlen, mit Salz mischen und auf dem Meer verstreuen.«

»Würde das funktionieren?«

»Laut Victor Bartholomew, ja.« Nightingale zuckte die Schultern. »Und er ist die Autorität auf dem Gebiet, hat ein Buch darüber geschrieben, wie man mit Geistern und Wiedergängern umgeht.«

»Ich denke, wir übersehen möglicherweise eine ganz nahe liegende Informationsquelle«, sagte ich.

»Ach, wirklich?«

Ich nickte. »Nicholas Wallpenny. Alle Angriffe nahmen in der Nähe der Schauspielerkirche ihren Ausgang, was meiner Ansicht nach bedeutet, dass sich unser Wiedergänger dort in der Nähe aufhält. Nicholas kennt ihn vielleicht – womöglich hängen sie da sogar zusammen ab.«

»Ich bin keineswegs sicher, dass Geister so ›abhängen‹, wie Sie es meinen.« Nightingale warf schnell einen Blick zu Molly hinüber, um sicher zu sein, dass sie nicht hersah, dann schob er schnell seinen halb vollen Teller unter den Tisch. Tobys Schwanz schlug gegen meine Beine, als der Hund das Essen verschlang.

»Wir brauchen einen größeren Hund«, sagte ich, »oder kleinere Portionen.«

»Sehen Sie doch mal, ob Sie heute Abend etwas aus Wallpenny herausbekommen. Aber denken Sie daran: Er war schon zu Lebzeiten kein verlässlicher Zeuge. Ich glaube nicht, dass sich seine Wahrheitsliebe nach seinem Ableben sonderlich verbessert hat.«

»Woran ist er eigentlich gestorben?«, fragte ich. »Wissen Sie das?«

Nightingale nickte. »Er hat sich zu Tode gesoffen. Und hatte wohl eine Menge Spaß dabei.«

 

Da Toby unser offizieller Geisterjagdhund war und weil er in letzter Zeit angefangen hatte, geradezu besorgniserregend zu watscheln, nahm ich ihn mit. Vom Russell Square und dem Folly bis Covent Garden ist es ungefähr ein halbstündiger Spaziergang. Man kommt dabei am Megastore Forbidden Planet vorbei und geht dann ein kurzes Stück auf der Shaftesbury Avenue weiter; danach führt der direkteste Weg durch die Neal Street, wo der Fahrradkurier umgekommen war. Und wenn ich bestimmte Straßen nur deshalb vermeiden wollte, weil dort jemand ums Leben gekommen war, würde ich wohl nach Aberystwyth umziehen müssen.

Es war später Abend und nicht besonders warm, aber vor dem Pub hingen immer noch ein paar Gäste herum. London hatte die Sache mit den Straßencafés erst ziemlich spät kapiert und war jetzt entschlossen, sich den Spaß nicht durch ein bisschen kalten Wind verderben zu lassen – vor allem nicht, seit es verboten war, im Pub zu rauchen.

Toby blieb in der Nähe der Stelle stehen, an der Dr. Framline den Kurier angegriffen hatte, aber nur so lange, wie er brauchte, um an einen Poller zu pinkeln.

Selbst jetzt, da die Lokale bald schließen würden, war Covent Garden immer noch voller Menschen. Die Oper war gerade vorbei und die Zuschauer strömten heraus und begaben sich auf die Suche nach einem späten Imbiss oder einem Drink, während junge Austauschschüler aus ganz Europa ihr althergebrachtes Recht ausübten, die Gehwege komplett zu blockieren.

Doch als die Cafés, Restaurants und Pubs in der Markthalle schlossen, leerte sich der Platz ziemlich schnell, und schon bald befanden sich nur noch so wenige Menschen in der Nähe, dass ich es endlich riskieren konnte, meine kleine Geisterjagd zu inszenieren.

Unter den Koryphäen der Geisterkunde herrschte eine gewisse Meinungsverschiedenheit in der Frage, was genau einen Geist ausmachte. Polidori behauptete, Geister seien die entleiblichten Seelen Verstorbener, die sich nicht von einer bestimmten Örtlichkeit trennen mochten; nach seiner Theorie ernährten sie sich von ihrem eigenen Geist und würden, sofern dieser Geist nicht immer wieder durch neue magische Kräfte aufgefüllt würde, irgendwann zu einem Nichts verblassen. In seinem Werk The Persistence of Phantasmagoria in Yorkshire, erschienen 1860, schloss sich Richard Spruce im Wesentlichen Polidoris Auffassung an, fügte jedoch hinzu, dass sich Geister auch von der Magie ihrer Umgebung ernähren könnten, so ähnlich, wie Moose ihre Lebenskraft von ihrem felsigen Untergrund bezögen. Peter Brock schrieb in den 1930er-Jahren, Geister seien nichts weiter als Inschriften, die in das magische Gewebe ihrer Umgebung eingraviert worden seien, etwa so, wie Musik auf einer Vinylscheibe aufgezeichnet werden könne. Police Constable Peter Grants höchstpersönliche Ansicht war, dass ein Geist so etwas wie eine grobe Kopie der Persönlichkeit eines Toten sein könnte, die in rudimentärer Form in einer Art magischer Matrix erhalten bleibt.

Da meine beiden Begegnungen mit Nicholas unter dem Portikus der Schauspielerkirche stattgefunden hatten, begann ich dort mit der Suche. Ein Polizist betrachtet die Welt nicht so wie ein normaler Mensch. Man kann ihn schon daran erkennen, wie er sich in einem Raum umblickt. Sein kühler, misstrauischer Blick ist für jeden sofort erkennbar, der weiß, worauf er achten muss. Das Seltsame dabei ist, wie schnell man sich diese Eigenschaft zulegt. Schon nach meinem ersten Monat als Hilfspolizist hätte ich in dem Moment, als ich durch die Wohnungstür meiner Eltern trat, erkannt, dass mein Vater drogenabhängig war (wenn ich es nicht schon vorher gewusst hätte). Die Anzeichen dafür waren unverkennbar – obwohl meine Mutter eine Putzfanatikerin war und man in ihrer Wohnung vom Wohnzimmerteppichboden essen konnte –, wenn man wusste, worauf man zu achten hatte.

So ungefähr verhielt es sich inzwischen auch mit den Vestigia. Als ich meine Hand auf die Kalksteinquader der Portikussäulen legte, stellten sich ähnliche Eindrücke ein wie das letzte Mal – die Kühle, das vage Gefühl einer Gegenwart, ein leichter Geruch, der an Sandelholz erinnerte – doch jetzt verarbeitete ich das alles wie ein Streifenpolizist, der gewisse Hinweise von der Straße empfängt, die er patrouilliert, und hatte eine ungefähre Vorstellung davon, was es bedeuten mochte. Allerdings hatte ich erwartet, dass diese Vestigia viel stärker sein würden. Ich versuchte mich daran zu erinnern, wie es gewesen war, als ich die Steine zuletzt angefasst hatte: Waren die Eindrücke dieselben gewesen?

Ich vergewisserte mich rasch, das ich nicht beobachtet wurde. »Nicholas«, flüsterte ich in die Mauer, »sind Sie da drin?«

Durch meine Hand spürte ich etwas, eine Vibration, ein leichtes Beben wie von einer in der Ferne durchfahrenden U-Bahn. Toby jaulte und wich zurück, ich hörte das Kratzen seiner Krallen auf dem Kopfsteinpflaster. Bevor ich selbst zurückweichen konnte, erschien direkt vor meinen Augen Nicholas’ Gesicht, weiß und durchscheinend.

»Helft mir«, sagte er.

»Was ist los?«, fragte ich.

»Er frisst mich«, sagte Nicholas, und dann wurde sein Gesicht wieder in die Mauer zurückgesogen. Ich spürte ein seltsames, ziehendes Gefühl am Hinterkopf und warf mich zurück. Toby bellte einmal auf, wirbelte herum und raste in Richtung Russell Square davon. Ich selbst fiel auf den Hintern, was ziemlich schmerzhaft war, so dass ich zunächst für einen Moment liegen blieb und mir total blöd vorkam. Schließlich rappelte ich mich auf die Füße. Vorsichtig näherte ich mich wieder der Mauer und legte zögernd die Hand auf den Stein.

Er fühlte sich kalt an und sonst nichts. Es war, als sei das Vestigium genauso aus dem Stein herausgesaugt worden, wie das im Haus der Vampire der Fall gewesen war. Ich riss die Hand weg und wich zurück. Die Piazza lag dunkel und still hinter mir. Ich drehte mich um und marschierte in die Nacht hinein, wobei ich nach Toby Ausschau hielt.

Er war den ganzen Weg zum Folly zurückgelaufen. Ich fand ihn schließlich in der Küche; er lag zusammengerollt auf Mollys Schoß. Sie streichelte und beruhigte ihn. Mich bedachte sie mit einem vorwurfsvollen Blick.

»Er muss lernen, der Gefahr ins Auge zu sehen«, sagte ich. »Wenn er sich hier schon durchfrisst, muss er dafür auch etwas leisten.«

 

Dass ich aktiv in einem Fall ermittelte, bedeutete noch lange nicht, dass ich meine Übungen vernachlässigen durfte. Ich hatte Nightingale dazu überredet, mir den Feuerball-Zauberspruch beizubringen. Es war keine Überraschung, dass es sich dabei um eine Variante von Lux handelte, mit dem Iactus als Zusatz, um ihn bewegen zu können. Als Nightingale sicher war, dass ich den ersten Teil beherrschte, ohne mir die Hand abzufackeln, stiegen wir zum weiteren Üben in den Keller hinunter, wo sich der Schießstand befand. Nicht dass ich bis zu diesem Zeitpunkt auch nur geahnt hätte, dass wir einen Schießstand im Haus hatten. Unten an der Treppe musste man statt nach rechts nach links gehen, dann durch eine Feuerschutztür, hinter der ich immer den Kohlenkeller vermutet hatte, und stand dann in einem fünfzig Meter langen Raum, an dessen einer Schmalseite Sandsäcke aufgetürmt waren. An der anderen standen Metallspinde. Eine Reihe von uralten Brodie-Stahlhelmen hing an der Wand, darunter die gleiche Anzahl von khakifarbenen Gasmasken. Außerdem hing da noch ein Poster mit weißer Schrift auf blutrotem Hintergrund – »Ruhe bewahren und weitermachen«, stand darauf zu lesen, was ich für einen sehr vernünftigen Ratschlag hielt. Am anderen Ende stand eine Reihe von Schießstandfiguren, brüchig vor Alter, aber doch noch eindeutig als deutsche Soldaten mit Stahlhelmen und aufgepflanzten Bajonetten erkennbar. Auf Nightingales Anweisung hin stellte ich ein paar dieser Figuren vor die Sandsackwand und trabte dann zum Schießstand zurück. Bevor wir anfingen, vergewisserte ich mich noch einmal, dass ich mein brandneues Mobiltelefon nicht dabeihatte.

»Jetzt passen Sie genau auf«, sagte Nightingale. Er schleuderte eine Hand nach oben, es blitzte auf, ein Geräusch war zu hören, als würde ein Blatt Papier zerrissen – und dann zerbarst die links außen stehende Figur in brennende Fragmente.

Hinter mir klatschte jemand aufgeregt in die Hände, und ich fuhr herum. Molly stand hinter uns, gab ein entzücktes Zischen von sich und wippte auf den Zehenspitzen wie ein kleines Kind im Zirkus.

»Sie haben gar nichts Lateinisches gesagt«, bemerkte ich.

»Dieser Spruch wird still geübt«, sagte Nightingale. »Und zwar von Anfang an. Er ist eine Waffe. Er hat nur einen einzigen Zweck – zu töten. Sobald Sie ihn beherrschen, gelten dieselben Pflichten wie bei jedem Waffen tragenden Polizisten. Ich schlage vor, dass Sie sich zunächst einmal mit den derzeit geltenden Richtlinien für die Benutzung von Feuerwaffen vertraut machen.«

Molly gähnte und bedeckte schnell den Mund, um zu verbergen, wie weit er sich dabei öffnete. Nightingale warf ihr einen ausdruckslosen Blick zu. »Er muss in der Welt der Menschen leben«, sagte er.

Molly zuckte nur die Schultern, als wollte sie sagen von mir aus.

Nightingale führte den Zauberspruch noch einmal mit reduzierter Geschwindigkeit vor. Dann probierte ich es. Ich brachte zwar einen Feuerball zustande, aber als ich den Iactus anwandte, fühlte sich der Ball, anders als die Äpfel, irgendwie glitschig an und rutschte mir immer wieder davon. Ich versuchte ihn in der vorgeschriebenen dramatischen Weise in Richtung der Figuren zu schleudern, woraufhin er gemächlich quer durch den gesamten Schießstand trudelte, ein kleines Loch in eine der Figuren brannte und in einem Sandsack stecken blieb.

»Sie müssen ihn freigeben, Peter«, sagte Nightingale. »Sonst explodiert er nicht.«

Ich strengte mich an und gab den Ball frei. Dieses Mal ertönte ein gedämpfter Knall in der Nähe einer der Figuren und eine kleine Rauchwolke kräuselte sich zur Decke. Hinter mir kicherte Molly.

Wir übten eine Stunde lang weiter, und am Ende konnte ich tatsächlich Feuerbälle erzeugen und abfeuern, die mit der atemberaubenden Geschwindigkeit einer Hummel durch den Schießstand flogen, die ihr Tagessoll an Nektar gesammelt hat und sich nun auf dem Rückflug ein bisschen die Landschaft anschaut.

Schließlich machten wir Teepause. Ich unterbreitete Nightingale meine Idee, wie wir Nicholas herausholen konnten – immer unter der Voraussetzung, dass noch genügend von unserem Geist übrig war, das man herausholen konnte, nachdem dieses Etwas ihn »gefressen« hatte.

»Polidori erwähnt einen Zauberspruch, mit dem man Geister herbeirufen kann«, sagte ich. »Funktioniert der?«

»Es handelt sich mehr um ein Ritual als um einen Zauberspruch«, antwortete Nightingale. In dem Versuch, Molly daran zu hindern, uns mit Essen zu überhäufen, hatten wir uns angewöhnt, den Morgentee in der Küche einzunehmen. Die Grundidee war simpel: Wenn sie sich nicht mit sechs Gedecken im Speisezimmer austoben konnte, würde sie vielleicht auch nur zwei Portionen für uns beide zubereiten. Die Sache funktionierte halbwegs – es waren zwei ausgesprochen große Portionen.

»Was ist da der Unterschied?«

»Sie stellen immer wieder Fragen«, sagte Nightingale, »die Sie erst in einem Jahr oder so stellen sollten.«

»Dann eben nur eine einfache Antwort – ohne Details.«

»Bei einem Zauberspruch handelt es sich um eine Kombination von Formae, die eine bestimmte Wirkung erzielen sollen. Bei einem Ritual handelt es sich um genau das, was der Name besagt: Eine bestimmte Abfolge von Formae, die, verbunden mit bestimmten Paraphernalien, zu einem Ritual wird. Gewöhnlich handelt es sich dabei um ältere Zaubersprüche vom Beginn des 18. Jahrhunderts.«

»Und diese rituellen Bestandteile sind wichtig?«, fragte ich.

»Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht«, antwortete Nightingale. »Diese Zaubersprüche werden nicht sehr oft angewendet, sonst hätte man sie im 20. Jahrhundert aktualisiert.«

»Können Sie mir zeigen, wie man so was macht?« Toby bemerkte, dass ich Butter auf ein Rosinenbrötchen strich, und setzte sich erwartungsvoll vor mich hin. Ich brach ein Stück ab und warf es ihm zu.

»Es gibt da noch ein Problem«, sagte Nightingale. »Das Ritual erfordert ein Tieropfer.«

»Na ja«, sagte ich, »Toby ist wohlgenährt und sicher gut geeignet.«

»Die moderne Gesellschaft steht diesen Praktiken skeptisch gegenüber, vor allem die heutige Kirche, auf deren Grund und Boden wir zufälligerweise das Ritual ausführen müssten.«

»Und wozu ist das Opfer nötig?«

»Nach Bartholomew wird im Augenblick des Todes die dem Tier wesenseigene Magie verfügbar. Sie kann dem Gespenst gewissermaßen Nahrung bieten und ihm helfen, wieder auf die materielle Existenzebene zurückzugelangen«, erklärte Nightingale.

»Es nutzt also die Lebenskraft des Tieres als eine Art magische Energiequelle?«

»Ja, so ungefähr.«

»Könnte man auch Menschen opfern?«, fragte ich. »Ihnen auf diese Weise die Magie nehmen?«

»Ja«, antwortete er, »aber dabei gibt es einen Haken.«

»Und was ist dieser Haken?«

»Man würde bis ans Ende der Welt verfolgt, gejagt und ohne viel Federlesens hingerichtet«, sagte Nightingale.

Ich fragte lieber erst gar nicht, wer das Jagen und Hinrichten erledigen würde.

Toby bellte und verlangte nach einem Würstchen.

»Wenn eine Magiequelle das Einzige ist, was wir brauchen«, sagte ich, »dann wüsste ich einen akzeptablen Ersatz.«

 

Bartholomew zufolge ist es ratsam, sich so nahe wie möglich beim Grab des Gespenstes aufzuhalten, deshalb verbrachte ich ein paar Stunden damit, das Bestattungsregister der Gemeinde durchzuschauen, während Nightingale dem Pfarrer einredete, dass wir nichts anderes im Sinn hätten, als ein paar Kirchenvandalen zu fangen. Die Schauspielerkirche ist ein sehr seltsames Gebäude, im Grunde handelt es sich um eine große, rechteckige, von Inigo Jones entworfene Scheune aus Stein. Der Portikus an der Ostseite, unter dem ich Nicholas Wallpenny zuerst begegnet war, ist eigentlich nur eine Attrappe – der Eingang befindet sich nämlich an der Westseite der Kirche und geht auf den Friedhof hinaus, den man inzwischen in einen kleinen Park verwandelt hatte. Den Park konnte man durch ein hohes, zweiflügeliges schmiedeeisernes Tor an der Bedford Street betreten. Nightingale überredete den Pfarrer, ihm die Schlüssel für das Tor zu überlassen.

»Wenn Sie hier eine polizeiliche Überwachungsaktion starten wollen«, sagte der Pfarrer, »wäre es vielleicht besser, wenn ich hierbleibe, nur für alle Fälle?«

»Möglicherweise beobachtet man Sie«, sagte Nightingale. »Es ist besser, wenn die Kerle glauben, die Luft sei rein, damit wir sie auf frischer Tat ertappen können.«

»Bin ich in Gefahr?«, wollte der Pfarrer wissen.

Nightingale blickte ihm in die Augen. »Nur, wenn Sie sich heute Abend in der Kirche aufhalten.«

Der Park war auf drei Seiten von den Ziegelmauern der benachbarten Häuser umgeben, die zur gleichen Zeit wie der Rest der Piazza gebaut worden waren. Vom Verkehrslärm abgeschirmt, bildeten sie mit dem Park eine kleine grüne Oase. Japanische Kirschbäume säumten den Weg, deren rosa Blüten in der Maisonne leuchteten. Wie Nightingale sagte, war dieser Ort möglicherweise der hübscheste Platz in ganz London. Und ausgerechnet hier musste ich um Mitternacht ein nekromantisches Ritual aufführen.

Das Bestattungsregister der Gemeinde war lückenhaft, und ich konnte die Lage von Wallpennys Grab nur annäherungsweise bestimmen: Es musste an der Nordseite des Parks liegen, aber eher zur Mitte hin, nicht am Rand. Da Nicholas nicht geneigt schien, sich blicken zu lassen, solange Nightingale in der Nähe war, würde Letzterer in Rufweite neben dem Parktor in der Bedford Road Posten beziehen.

Als ich kurz nach Mitternacht wieder in den Park kam, war noch vereinzelt Vogelgesang zu hören. Die Nacht war klar, aber die Sterne waren durch den Dunst nicht zu sehen. Das schmiedeeiserne Tor fühlte sich kalt an, als ich den Torflügel schloss. Ich machte mich auf den Weg zum Grab. Auf dem Kopf trug ich eine Stirnlampe, damit ich die Notizen auf meinem polizeilichen Standardnotizblock besser lesen konnte.

In einen weichen, frühlingshaft saftigen Rasen kann man kein Pentagramm ritzen, jedenfalls nicht ohne eine schwere Gartenharke, aber ich hätte es ohnehin nicht über mich gebracht, in diesem wunderbaren Park den Vandalen zu spielen. Deshalb streute ich den Stern und den Kreis mit Kohlenstaub auf den Rasen. Zu diesem Zweck hatte ich einen Leinensack mitgebracht, dessen eine Ecke ich abgeschnitten hatte und den ich nun ähnlich wie einen Tortenguss-Spritzbeutel einsetzte. Ich streute die Linien schön dick. Polidori hat nämlich eine Menge zu den Gefahren zu sagen, die sich ergeben, wenn die Linien des Pentagons bei der Anrufung des Geistes durchbrochen werden. Dass einem dann die Seele aus dem Leib gerissen und schreiend zur Hölle gejagt wird, ist da nur der Anfang.

An jede Spitze des Pentagramms legte ich einen meiner Taschenrechner. Ursprünglich hatte ich vorgeschlagen, Toby mitzunehmen, für den Fall, dass die Ersatzlösung nicht funktionierte, aber als es dann Zeit geworden war, aus dem Haus zu gehen, war der Köter einfach nicht mehr auffindbar gewesen. Unterwegs hatte ich in einem Laden für Campingausrüstung ein Päckchen chemischer Leuchtstäbe gekauft, die ich nun zerbrach und dort platzierte, wo laut meinem Spickzettel Kerzen vorgesehen waren. Der Geisterbeschwörer, in diesem Fall also ich, sollte etwas von seiner eigenen Essenz in den Kreis um das Pentagramm ergießen, was Zaubererjargon aus dem 18. Jahrhundert war und nichts anderes bedeutete, als dass man ein wenig Magie hinzufügen sollte. Für diesen Zweck gibt es sogar eine eigene Forma, aber ich hatte leider keine Zeit gefunden, sie zu lernen. Nightingale hatte gemeint, ich solle stattdessen einfach ein Werlicht in der Mitte produzieren.

Ich holte tief Luft, erzeugte das Werlicht und ließ es zum Mittelpunkt des Pentagramms schweben. Dann rückte ich meine Stirnlampe zurecht und las die Zauberformel von meinem Notizblock ab. Im Original zog sich der Spruch über vier Manuskriptseiten hin, aber mit Nightingales Hilfe hatte ich ihn ein bisschen eingedampft.

»Nicholas Wallpenny«, sagte ich. »So höre meine Stimme, nimm meine Opfergaben, erhebe dich und trete hervor.«

Und plötzlich war er da, und er sah genau so verschlagen aus wie immer.

»Wusste ich doch, dass Ihr ein Besonderer seid, schon als ich den ersten Blick auf Euch warf«, sagte er. »Euer Herr ist nicht in der Nähe, oder?«

»Dort drüben, hinter dem Tor.«

»Sorgt dafür, dass er dort bleibt«, sagte Nicholas. »Ich hatte also recht mit dem mörderischen Gentleman, nicht wahr?«

»Wir denken, es ist der Geist von Punchinella«, antwortete ich.

»Ihr denkt was?«, rief Nicholas aus. »Mr. Punch? Ihr habt wohl einen über den Durst getrunken, hebt Euch hinweg in eine Schenke, Wachtmeister.«

»Gestern haben Sie mich um Hilfe gebeten«, sagte ich.

»Hab ich das? Aber das würde ja bedeuten, Nicholas Wallpenny wär ein Verräter und ein Konfident und das hat keiner jemals von Nicholas Wallpenny behauptet. Sintemalen es für Spitzelei bald Besuch von den Schlägern gibt.« Er warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu.

»Ah«, sagte ich. »Wie geht’s … ich meine, wie geht’s Ihnen denn so, wo Sie doch tot sind?«

»Recht gut«, antwortete Nicholas. »Kann wahrlich nicht klagen. Der Vorzug der Schauspielerkirche ist, dass es uns hier nie an einer hübschen Abendunterhaltung mangelt. Gelegentlich trägt sogar ein Gastkünstler zur allgemeinen Erbauung bei. Wir hatten zum Beispiel neulich den berühmten Henry Pyke bei uns, selbiger sich mit einem Y schreibt, wohlgemerkt, der ist schon was ganz Besonderes, sehr beliebt bei den Damen wegen seiner langen Nase.«

Mir gefiel Nicholas’ Verhalten nicht, er war angespannt und nervös, und wenn er noch hätte schwitzen können, dann wäre jetzt sein Kragen feucht gewesen. Ich dachte flüchtig daran, mich zurückzuziehen, aber es ist nun mal eine bedauerliche Tatsache, dass Informanten, ob tot oder lebendig, stets bis zum Letzten ausgepresst werden müssen.

»Dieser … Henry Pyke, plant er etwa ein längeres Gastspiel?«, fragte ich.

»Dazu kann ich nur sagen, dass er das ganze Theater gekauft hat.«

»Klingt gut«, sagte ich vorsichtig. »Gibt’s denn eine Möglichkeit, mal bei einer Vorführung dabeizusein?«

»Na ja, Wachtmeister, ich an Eurer Stelle wäre nicht so arg scharf darauf, im Programm zu stehen«, meinte Nicholas. »Mister Pyke kann zu seinen Co-Akteuren ganz schön hart sein, und ich möchte behaupten, dass er für Euch schon eine Rolle im Auge hätte.«

»Trotzdem hätte ich nichts dagegen, ihn mal kennenzu–«, sagte ich, aber auf einmal war Nicholas verschwunden.

Das Pentagramm war leer, nur mein Werlicht brannte noch im Mittelpunkt. Bevor ich es löschen konnte, spürte ich plötzlich, dass mich etwas am Kopf packte und in das Pentagramm hineinzuziehen versuchte. Ich geriet in Panik und wehrte mich wie wild gegen den unsichtbaren Klammergriff. Nightingale hatte mich sehr deutlich davor gewarnt, in das Pentagramm zu treten, und ich hatte nicht die geringste Absicht, den Grund dafür herauszufinden. Ich riss meinen Kopf aus dem umklammernden Griff, merkte aber, dass ich weiter vorwärts gezerrt wurde – hin zum Pentagramm. Und dann sah ich es, mitten im Pentagramm, unter meinem Werlicht: ein dunkler Schatten, wie der Schlund einer tiefen Erdgrube. Ich sah die Graswurzeln, sah Würmer, die sich hastig in die Erde auf den Seiten des Schlunds zu retten versuchten, sah die oberen Schichten des Mutterbodens und darunter den Londoner Lehmboden, der weit hinunter in die Dunkelheit reichte.

Ich war schon fast am Rand des Schlunds, als mir klar wurde, dass das, was mich hineinzerrte, sich meiner eigenen Magie bediente. Ich versuchte, das Werlicht zu löschen, aber es brannte weiter, mit einer schmutzig gelblichen Flamme. Ich stemmte mich gegen den Druck, so dass ich praktisch senkrecht auf dem Boden stand, aber dennoch spürte ich, wie meine Absätze weiter durch den Rasen pflügten, als ich immer weiter gezerrt wurde.

Dann hörte ich Nightingale schreien und sah, dass er auf mich zugerannt kam. Ich hatte das entsetzliche Gefühl, dass er nicht rechtzeitig kommen würde, und in meiner Verzweiflung fiel mir nur ein einziger Ausweg ein. Es ist nicht ganz leicht, sich zu konzentrieren, wenn man gerade ins Jenseits gezerrt wird, aber ich zwang mich, tief Luft zu holen und die korrekte Forma erstehen zu lassen … und plötzlich brannte das Werlicht glutrot. Ich formte eine Gestalt durch meine Gedanken, von der ich hoffte, dass sie die Magie hineinbringen würde, wusste aber nicht, ob es funktionierte. Meine Absätze gruben sich bereits durch die äußeren Linien des Pentagramms, und ich verspürte plötzlich eine Welle der Erregung, einen Hunger nach Gewalt und ein Meer von Scham und Erniedrigung und Rachegelüsten.

Ich warf den Feuerball einen halben Meter weit und gab ihn frei.

Ein enttäuschend leises Geräusch war zu hören, etwa wie es ein schweres Wörterbuch erzeugen würde, wenn man es achtlos auf einen Tisch wirft. Dann blähte sich der Boden unter meinen Beinen plötzlich gewaltig auf. Ich wurde nach hinten und oben geschleudert und krachte in die Äste des Kirschbaums. Für einen kurzen Moment sah ich eine Erdsäule senkrecht aus dem Loch in die Höhe schießen, wie ein Frachtzug, der aus einem Tunnel rast, dann fiel ich vom Baum und die Ränder des Schlunds kollabierten.

Nightingale packte mich am Kragen und zog mich weiter weg, während Erdklumpen und Kirschblüten auf uns herabregneten. Ein ziemlich großer Klumpen landete auf meinem Kopf und platzte auseinander, so dass mir Erdkrümel in den Kragen rieselten.

Plötzlich wurde es still. Nichts war zu hören außer fernem Verkehrslärm und einer Autoalarmanlage, die aus irgendeinem Grund losheulte. Wir warteten eine halbe Minute, um wieder zu Atem zu kommen, und für den Fall, dass noch irgendetwas passieren würde.

»Stellen Sie sich vor«, sagte ich, »ich hab einen Namen.«

»Sie können von Glück sagen, dass Sie noch einen Kopf haben«, sagte Nightingale. »Und – wie lautet er?«

»Henry Pyke.«

»Nie gehört«, erklärte Nightingale.

Wie zu erwarten gewesen war, hatte meine Stirnlampe den Geist aufgegeben, deshalb riskierte es Nightingale, ein Werlicht zu erzeugen. Wo der Schlund gewesen war, entdeckten wir jetzt eine flache, tellerähnliche Einbuchtung in der Erde von ungefähr drei Metern Durchmesser. Der Rasen war vollständig zerstört und die Stelle war mit einer Mischung aus pulverisierter Erde und versengtem Gras bedeckt. Ein schmutziger runder Gegenstand lag nicht weit von meinen Füßen entfernt: ein Totenschädel. Ich hob ihn auf.

»Sind Sie das, Nicholas?«, fragte ich.

»Legen Sie ihn sofort weg!«, befahl Nightingale. »Sie können nicht wissen, woher er kommt.« Er blickte sich um und betrachtete die Zerstörungen, die wir angerichtet hatten. »Das wird dem Pfarrer nicht gefallen«, murmelte er.

Ich legte den Schädel auf den Boden, wobei ich etwas bemerkte, das in der Erde steckte. Es war das Zinnabzeichen mit dem tanzenden Skelett – ich erkannte es sofort wieder: Dieses Abzeichen hatte Nicholas Wallpenny am Kragenaufschlag getragen. Wahrscheinlich war er mit dem Abzeichen begraben worden.

»Wir haben ihm doch erklärt, dass wir Vandalen jagen«, sagte ich, während ich das Abzeichen aufhob. Ich spürte einen flüchtigen Hauch von Tabakrauch, Bier und Pferden.

»Mag sein, aber ich bezweifle, dass er das als Erklärung akzeptieren wird.«

»Ein Leck in der Gasleitung?«, schlug ich vor.

»Unter der Kirche verlaufen keine Gasleitungen. Das würde ihn nur noch misstrauischer machen.«

»Nicht, wenn wir ihm sagen, dass wir das Gasleck als Grund vorschieben müssen und dass wir es hier eigentlich mit einem Blindgänger aus dem Zweiten Weltkrieg zu tun haben.«

»Ein Blindgänger?«, fragte Nightingale. »Warum sollten wir es so kompliziert machen?«

»Weil wir dann mit einem Bagger anrücken und den Boden mal gründlich durchpflügen könnten. Vielleicht finden wir diesen Henry Pyke und können ihn bei der Gelegenheit gleich zu Knochenstaub zermalmen.«

»Peter«, sagte Nightingale, »Ihre Denkweise ist ausgesprochen durchtrieben.«

»Danke, Sir. Ich tue mein Bestes.«

Außer einer durchtriebenen Denkweise hatte ich auch eine Prellung von der Größe eines Esstellers auf dem Rücken, außerdem ein paar hübsche Blutergüsse auf der Brust und an den Beinen. Dem Arzt in der Unfallstation erklärte ich, dass ich mit einem Baum aneinandergeraten sei. Er warf mir einen eigenartigen Blick zu und weigerte sich, mir ein stärkeres Schmerzmittel als Nurofen zu verschreiben.

 

Endlich hatten wir einen Namen – Henry Pyke. Nicholas hatte angedeutet, dass Pyke nicht an der Schauspielerkirche beerdigt worden war, aber wir überprüften das trotzdem für alle Fälle. Nightingale rief das General Registry Office in Southport an, während ich im Internet auf genealogischen Websites nach Pyke forschte. Wir kamen beide nicht sehr weit, konnten aber immerhin feststellen, dass es sich um einen Allerweltsnamen handelte, der besonders in Kalifornien, Michigan und im Staat New York erstaunlich populär war. Später trafen wir uns in der Remise wieder, damit ich weiter im Internet surfen und Nightingale ein Rugby-Match anschauen konnte.

»Nicholas behauptete, Pyke sei als Unterhaltungskünstler tätig gewesen«, sagte ich. »Vielleicht war er sogar so etwas wie ein Punch-und-Judy-Puppenspieler, ein ›Professor‹. Der Piccini-Text wurde 1827 veröffentlicht, aber Nicholas meinte, Pyke sei ein älterer Geist, also vermute ich spätes 18. bis frühes 19. Jahrhundert. Die Bestattungsregister aus dieser Periode sind leider nutzlos.«

Nightingale verfolgte gerade, wie die All Blacks den Fullback der Lions einfach überrollten, und nach dem langen Gesicht, das er dabei machte, sahen wohl die Siegeschancen der Lions ausgesprochen düster aus. »Wenn Sie doch nur mal mit irgendeinem begeisterten Theaterbesucher aus jener Periode sprechen könnten«, murmelte er.

»Wollen Sie etwa noch mehr Geister beschwören?«

»Ich dachte eher an jemanden, der noch am Leben ist«, antwortete er. »Sozusagen.«

»Sie meinen – Oxley?«, fragte ich.

Er nickte. »Und seine reizende Gemahlin Isis, auch bekannt als Anna Maria de Burgh Coppinger, die Geliebte von John Montagu, dem vierten Earl of Sandwich, und Lebensgefährtin des berühmten Shakespeare-Gelehrten Henry Ireland. Verabschiedete sich aus diesem Tal der Tränen Anno Domini 1802, vermutlich in Richtung der grüneren Auen von Chertsey.«

»Chertsey?«

»Wo der Abbey River fließt, früher auch als Oxley Mill River bekannt.«

 

Wenn ich schon Oxley ein weiteres Mal besuchte, konnte ich auch gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Also rief ich Beverley auf ihrem wasserdichten Handy an und fragte sie, ob sie Lust auf einen kleinen Feldeinsatz hätte. Für den Fall, dass die Verbote ihrer Mutter noch in Kraft waren, wollte ich ihr schon erklären, dass es dabei um Maßnahmen im Zusammenhang mit Vater Themse ging, aber ich erhielt gar keine Gelegenheit dazu.

»Nehmen wir den Jag?«, wollte sie sofort wissen. »Nimm’s mir nicht übel, aber deine Karre ist echt brutal.«

Ich sagte Ja, und schon eine Viertelstunde später klingelte sie unten an der Sprechanlage. Das war nur möglich, wenn sie sich bereits im West End herumgetrieben hatte.

»Mum hat mir aufgetragen, ein bisschen herumzuschnüffeln«, erklärte sie, als sie in den Jaguar stieg. »Ich soll nach deinem Wiedergänger suchen.« Sie trug einen schwarzen, bestickten Bolero über einem roten Rollkragenpulli und schwarze Leggings.

»Würdest du überhaupt einen Wiedergänger erkennen, wenn du ihn siehst?«, fragte ich.

»Keine Ahnung. Es gibt immer ein erstes Mal.«

Ich hätte gern genauer hingesehen, wie sie ihre langen Beine unter dem Armaturenbrett arrangierte, aber die Temperatur im Wagen war schon hoch genug, daher ließ ich es. Mein Dad erklärte mir mal, das Geheimnis für ein glückliches Leben bestehe darin, nie etwas mit einem Mädchen anzufangen, wenn man sich nicht sicher war, ob man die Sache auch voll durchziehen wollte. Das war der beste Rat, den er mir jemals gegeben hat, und wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass ich geboren wurde. Ich konzentrierte mich darauf, den Jaguar aus der Garage zu bugsieren und in Richtung Südwesten zu lenken – wieder einmal auf die falsche Uferseite.

Im Jahre des Herrn 671 wurde auf einer höher gelegenen Stelle am Südufer der Themse eine Abtei gegründet. Heute liegt dort Chertsey. Es war ein typisches angelsächsisches Kloster, einerseits Stätte der Gelehrsamkeit, andererseits auch ein wirtschaftliches Zentrum der Region – und ein Zufluchtsort für jene Söhne des Adels, die glaubten, dass es im Leben mehr geben müsse, als Leute mit dem Schwert totzuschlagen. Zwei Jahrhunderte später kamen die Wikinger, die nie genug davon kriegen konnten, Leute mit dem Schwert totzuschlagen. Sie plünderten die Abtei und brannten sie nieder. Sie wurde zwar wieder aufgebaut, aber ihre Bewohner mussten wohl etwas getan haben, das sogar König Edgar den Friedfertigen sauer machte, jedenfalls warf er sie im Jahr 964 aus der Abtei und setzte ein paar Benediktinermönche ein. Dieser Mönchsorden strebt nach einem Leben, das von innerer Einkehr, Gebet und reichhaltigen Mahlzeiten geprägt ist, und weil sie so viel Wert auf gutes Essen legten, konnten sie niemals ein fruchtbares Stück Land sehen, ohne sich sofort an die Verbesserung seiner landwirtschaftlichen Nutzung zu machen. Eine ihrer Verbesserungen, die irgendwann im 11. Jahrhundert erfolgte, war ein neuer Kanal für die Themse, den sie vom Penton Hook bis zum Chertsey-Wehr gruben, um die Wasserkraft für ihre Mühlen nutzbar zu machen. Wenn ich hier sage, »sie gruben«, dann meine ich natürlich, dass sie für die schwere Arbeit ein paar Bauern zwangsverpflichteten. Dieser künstliche Nebenfluss der Themse ist auf den Karten als Abbey River verzeichnet, war aber früher unter dem Namen Oxley Mills River bekannt.

Ich hatte Beverley nicht erzählt, wohin wir unterwegs waren, aber sie merkte es natürlich, sobald wir am Clockhouse-Kreisverkehr abbogen und die London Road in Richtung des glorreichen Staines entlangfuhren.

»Hier runter darf ich nicht«, verkündete sie. »Ist nicht mein Revier.«

»Nur ruhig«, sagte ich. »Das ist eine genehmigte Dienstreise.«

Obwohl ich in London geboren und aufgewachsen bin, gibt es riesige Gebiete der Stadt, die ich nie im Leben gesehen habe. Staines gehörte dazu; auf mich wirkte es mit seinen niedrig gebauten Häusern geradezu ländlich. Nachdem wir die Staines Bridge hinter uns hatten, fuhren wir eine ziemlich anonym wirkende Straße entlang; hohe Hecken und Zäune auf beiden Seiten nahmen mir jeden Ausblick. Als wir uns einem Kreisverkehr näherten, fuhr ich langsamer. Ich wünschte, ich hätte ein wenig Geld in ein Navigationsgerät investiert.

»Links«, sagte Beverley.

»Warum?«

»Du suchst doch nach den Söhnen vom Alten Mann?«, fragte sie zurück.

Ich nickte. »Oxley.«

»Dann bieg nach links ab«, sagte sie mit absoluter Gewissheit.

Ich nahm die erste Ausfahrt nach links und verspürte dabei das seltsame Gefühl der Orientierungslosigkeit, das man bekommt, wenn man als Fahrer den Anweisungen einer anderen Person ausgeliefert ist. Links sah ich einen Yachthafen – reihenweise dümpelten weiße und blaue Kreuzer vor sich hin, eine Monotonie, die nur vereinzelt durch einen Lastkahn unterbrochen wurde.

»Ist es da?«, fragte ich.

»Sei doch nicht albern. Das hier ist die Themse. Fahr geradeaus weiter.« Kurz darauf fuhren wir über eine kurze moderne Brücke über ein Gewässer, bei dem es sich, wie mir Beverley versicherte, um den Oxley River handelte, und gelangten an einen seltsamen kleinen Kreisverkehr. Es kam mir vor, als führen wir durch Liliputland, eine Siedlung mit kleinen Sträßchen, an denen rosa getünchte, stuckverzierte Häuschen standen. Schließlich bogen wir nach rechts ab, parallel zum Fluss. Ich fuhr sehr langsam, für den Fall, dass irgendein kleiner Strolch plötzlich vor mir mitten auf die Straße sprang und zu singen anfing.

»Hier ist es«, sagte Beverley. Ich parkte den Wagen und stieg aus. Sie blieb sitzen und sagte: »Das ist keine gute Idee.«

»Sie sind wirklich ganz nette Leute«, sagte ich.

»Klar, sie benehmen sich bestimmt völlig zivilisiert und höflich«, sagte sie. »Aber Ty wird das nicht gefallen.«

»Beverley«, sagte ich, »deine Mutter sagte, ich soll die Sache klären, und hier bin ich und versuche die Sache zu klären, und du sollst bei der Klärung moderieren. Aber das wird nicht möglich sein, solange du im Auto sitzen bleibst.«

Beverley seufzte, öffnete den Sicherheitsgurt und stieg aus. Sie streckte sich und reckte die Schultern weit zurück, so dass ihre Brüste den Pulli einem besorgniserregenden Stretchtest unterzogen. Natürlich erwischte sie mich beim Starren und zwinkerte mir zu. »Muss nur meine Knoten lockern«, sagte sie grinsend.

Nightingale hatte angemerkt, dass es nicht besonders klug gewesen sei, Isis’ Battenbergkuchen zu essen; ich konnte mir nicht vorstellen, dass er es billigen würde, wenn ich mich näher mit den lokalen Wassernymphen einließ. Deshalb löste ich meinen Blick von Beverleys Kurven und versuchte streng polizeilich zu denken. Außerdem gab es auch noch Lesley, oder genauer die entfernte Hoffnung auf Lesley zu irgendeinem Zeitpunkt in der Zukunft.

Ich drückte auf die Türglocke und trat höflich einen Schritt zurück.

Von innen hörten wir Isis’ Stimme: »Wer ist da?«

»Peter Grant«, rief ich.

Isis öffnete die Tür und strahlte mich an. »Peter«, sagte sie, »was für eine reizende Überraschung.« Jetzt erst bemerkte sie Beverley, die hinter mir stand, und obwohl sich ihr Lächeln nicht veränderte, wurde ihr Blick plötzlich wachsam. »Und wer ist das?«

»Das ist Beverley Brook«, sagte ich. »Ich dachte mir, dass es Zeit ist, Sie beide miteinander bekannt zu machen. Beverley, das ist Isis.«

Beverley streckte zögernd die Hand aus, und Isis schüttelte sie. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Beverley. Wir sind hinten im Garten. Kommen Sie einfach mit.«

Obwohl Isis nicht so würdelos war loszurennen, ging sie doch mit den schnellen Schritten einer Frau voran, die ihrem Mann die schlechte Nachricht noch vor den Gästen überbringen wollte. Ich erhaschte unterwegs einen kurzen Blick in saubere kleine Zimmer mit Blumentapeten und Chintz, bevor wir aus der Küchentür in den Garten hinter dem Haus traten.

Das Grundstück, auf dem der Bungalow stand, stieß direkt ans Ufer; Oxley hatte einen breiten hölzernen Steg gebaut, der an einer besonders breiten Stelle in den Fluss ragte, der hier so etwas wie einen Teich bildete. Zwei prächtige Trauerweiden schirmten die Stelle nach außen hin ab. Es wirkte so kühl und zeitlos wie das Innere einer Dorfkirche. Oxley stand nackt im Wasser. Grinsend blickte er Isis entgegen, die ihn mit wilden Gesten benimm dich! – zu warnen versuchte. Erst jetzt blickte er an ihr vorbei und sah mich und Beverley aus der Küchentür treten.

»Was hat das zu bedeuten?«, rief er. Ich sah, wie sich seine Schultern verspannten, und ich schwöre, dass sich die Sonne im selben Moment hinter eine Wolke zurückzog – aber natürlich konnte das auch Zufall gewesen sein.

»Das«, rief ich zurück, »ist Beverley Brook. Sag doch Hallo, Beverley.«

»Hallo«, sagte Beverley.

»Ich dachte, es ist höchste Zeit, dass Sie mal die andere Hälfte kennenlernen«, sagte ich.

Oxley verlagerte sein Gewicht und ich spürte, dass Beverley einen Schritt zurücktrat.

»Ist das nicht nett?«, sagte Isis fröhlich. »Wie wäre es mit einer schönen Tasse Tee?«

Oxley öffnete den Mund, als wolle er etwas sagen, schien es sich aber anders zu überlegen und wandte sich an seine Frau. »Eine Tasse Tee wäre wirklich nett.«

Erleichtert atmete ich aus, Beverley kicherte nervös, und die Sonne kam wieder hinter der Wolke hervor. Ich nahm Beverleys Hand und führte sie durch den Garten. Oxley hatte den Körper eines Arbeiters, sehnig und mit harten Muskeln – Isis mochte es offenbar ein wenig rau. Überraschenderweise schien sich Beverley mehr für den Fluss zu interessieren.

»Das ist aber ein hübsches Fleckchen«, sagte sie.

»Möchten Sie nicht ins Wasser kommen?«, fragte Oxley.

»Ja, gern«, sagte Beverley, und zu meiner totalen Verblüffung streifte sie sich mit einer einzigen geschmeidigen Bewegung den Bolero und den Pulli ab, stieg aus ihren Leggings und sprang mit einem unvergesslich anmutigen Schwung ihrer braunen Glieder ins Wasser. Isis und ich mussten einen Schritt zurückspringen, um nicht durchweicht zu werden.

Oxley zwinkerte mir zu und blickte dann zu seiner Frau auf. »Kommst du auch rein, Liebes?«

»Wir haben noch einen Gast«, bemerkte Isis prüde. »Und manche Leute wissen sich zu benehmen.«

Beverley tauchte wieder auf, fand Grund unter den Füßen und blieb mit bloßen Brüsten im Fluss stehen. Das Wasser ging ihr bis zur Hüfte. Ich konnte nicht umhin festzustellen, dass ihre Brustwarzen groß und hart waren. Sie blickte mich unter halb geschlossenen Lidern verheißungsvoll an. War ihre Mutter wie die Unterströmung des Meeres, dann war Beverley so unwiderstehlich wie ein munter fließender, klarer Bach an einem heißen Sommernachmittag.

Ich war schon dabei, mein Hemd aufzuknöpfen, als ich Isis’ Hand auf meinem Arm spürte.

»Sie sind wirklich ein ungewöhnlich leicht zu beeinflussender junger Mann«, sagte sie. »Was sollen wir nur mit Ihnen machen?«

Oxley tauchte unter. Beverley blickte mich mit leicht schief gelegtem Kopf an. Auf ihren Lippen lag ein listiges Lächeln; dann glitt auch sie unter die Oberfläche.

Isis bot mir einen Stuhl am Plastikgartentisch an. Mit leisem Murren machte sie sich daran, Beverleys achtlos abgeworfene Kleider einzusammeln. Sie faltete sie ordentlich zusammen und hängte sie auf einen Wäscheständer neben der Küchentür. Oxley und Beverley waren seit über einer Minute nicht mehr aufgetaucht. Ich sah Isis fragend an, die sich aber nicht weiter aufzuregen schien.

»Sie werden mindestens eine halbe Stunde verschwunden sein«, sagte sie und ging in die Küche, um den Tee zu machen. Ich behielt die Wasseroberfläche im Auge, doch es waren nicht einmal Luftblasen zu sehen. Ich redete mir ein, dass sie vielleicht aus dem Teich in den Fluss hinausgeschwommen und irgendwo hinter den Bäumen aufgetaucht waren, aber das konnte nicht einmal mich selbst überzeugen. Isis gab wieder einmal die Standardversicherung ab, dass jeglicher Verzehr folgenlos bleiben werde, während sie den Tee eingoss und mir ein Stück Madeirakuchen anbot – das ich dankend ablehnte. Ich fragte sie, ob sie sich an einen Henry Pyke erinnerte. Der Name kam ihr bekannt vor.

»Ich bin ziemlich sicher, dass es mal einen Schauspieler gab, der so hieß«, sagte sie. »Aber es traten so viele Schauspieler auf, so viele schöne Männer! Meine gute Freundin Anne Seymour hatte mal einen Mulatten als Diener, der Ihr Bruder hätte sein können. Er war der Schrecken der Küchenmädchen.« Sie beugte sich vor und schaute mir direkt in die Augen. »Und Sie? Sind Sie der Schrecken der Küchenmädchen, Peter?«

Ich dachte kurz an Molly. »Ich muss verneinen, fürchte ich.«

»Richtig, das sehe ich selbst«, sagte sie und lehnte sich wieder zurück. »Er wurde ermordet«, sagte sie dann abrupt.

»Der Diener?«, fragte ich.

»Henry Pyke. Jedenfalls ging das Gerücht. Ein weiteres Opfer des berüchtigten Charles Macklin.«

»Wer war das?«

»Ein abscheulicher Ire«, erklärte Isis. »Aber ein großartiger Schauspieler. Er hatte schon zuvor einmal einen Mann umgebracht – er stritt sich mit ihm im Theatre Royal um eine Perücke und stieß ihm seinen Spazierstock direkt ins Auge.«

»Netter Typ«, sagte ich.

»Nun ja, er hatte eben dieses irische Temperament, verstehen Sie?« Macklin war offenbar in seiner Jugend ein erfolgreicher Schauspieler gewesen, der sich auf dem Höhepunkt seiner Karriere zurückzog und eine Gin-Kneipe aufmachte, die prompt pleiteging. Er war gezwungen, wieder ans Theater zurückzukehren, und wurde bald zu einer populären Dauereinrichtung am Theatre Royal. »Er war dort ausgesprochen beliebt«, sagte Isis. »Man konnte ihn immer auf seinem Lieblingsplatz im Parkett sehen, direkt vor dem Orchester. Ich weiß noch, dass mich Anne oft auf ihn aufmerksam machte.«

»Und Macklin tötete Henry Pyke?«

»Den Gerüchten zufolge, ja. Obwohl ein halbes Dutzend Zeugen aussagte, dass er es nicht war.«

»Die Zeugen waren wohl Freunde von Macklin?«, fragte ich.

»Freunde und Bewunderer.«

»Wissen Sie, wo Henry Pyke begraben liegt?«, fragte ich.

»Nein, tut mir leid«, sagte Isis. »Aber damals wirbelte die Sache ziemlich viel Staub auf, ein richtiger Skandal. Ich würde auf die St. Paul’s Church tippen, jedenfalls wäre das die richtige Gemeinde gewesen.«

Die Schauspielerkirche. Alles lief immer wieder auf diese verdammte Kirche hinaus.

Ein lautes Platschen ertönte, und Beverley kam aus dem Wasser heraus auf den Steg gelaufen, als befänden sich Stufen unter der Wasseroberfläche. Sie schimmerte dunkel, glatt und seidig wie ein Seehund, und man hätte eine Pistole direkt neben meinem Ohr abfeuern können und ich hätte trotzdem nicht den Blick von ihr gewandt. Sie drehte sich zum Fluss um und hüpfte aufgeregt wie ein Kind auf und ab.

»Ich hab gewonnen!«, rief sie.

Oxley kam mit so viel Würde aus dem Wasser, wie man unter diesen Umständen von einem nackten weißen Mann mittleren Alters erwarten konnte. »Anfängerglück«, knurrte er.

Beverley warf sich in den Stuhl neben mir. Ihre Augen glänzten und Wasser perlte über die glatte Haut ihrer Schultern, über die Wölbung ihrer Brüste und rann an den Armen herab. Sie lächelte mich an und ich gab mir größte Mühe, den Blick fest auf ihr Gesicht gerichtet zu halten. Oxley ließ sich umstandslos auf einen Stuhl fallen und griff sich ein Stück Madeirakuchen, wobei er Isis’ Blick geflissentlich mied.

»Hat das Wettschwimmen Spaß gemacht?«, erkundigte ich mich höflich.

»Da unten gibt es Dinge, das würdest du im Leben nicht glauben, Peter«, sagte Beverley.

»Deine Haare sind nass«, sagte ich.

Beverley fuhr sich über das vormals geglättete Haar, das sich bereits zu kräuseln begann. Ich behielt meine Augen wacker unter Kontrolle und sah, dass ihr erst jetzt bewusst wurde, dass sie immer noch splitternackt war. »Oh, Scheiße!«, rief sie und warf Isis einen entsetzten Blick zu. »Entschuldigung.«

»Handtücher sind im Bad, meine Liebe«, sagte Isis nachsichtig.

»Bis gleich«, rief Beverley und verschwand hastig durch die Küchentür ins Haus.

Oxley lachte und griff nach einem weiteren Stück Kuchen. Isis klatschte ihm auf die Hand. »Geh schon und zieh dir was an!«, befahl sie. »Du garstiger alter Mann.« Oxley seufzte und ging in den Bungalow. Isis blickte ihm liebevoll nach.

»So sind sie immer nach dem Schwimmen«, sagte sie.

»Schwimmen Sie selbst auch?«

»Ja, natürlich.« Isis errötete ein wenig. »Aber ich bleibe ein Geschöpf des Flussufers. Bei ihnen befinden sich Land und Wasser im Gleichgewicht, aber je mehr Zeit sie mit uns verbringen, desto mehr werden sie wie wir.«

»Und je mehr Zeit Sie mit ihnen verbringen?«

»Überlegen Sie es sich genau, bevor Sie sich entscheiden, ins Wasser zu gehen«, sagte Isis. »Diese Entscheidung sollte man keinesfalls überstürzt treffen.«

 

Auf der Rückfahrt war Beverley ausgesprochen schweigsam. Ich fragte, ob ich sie irgendwo absetzen könne.

»Kannst du mich nach Hause fahren?«, sagte sie. »Ich glaube, ich muss mal mit meiner Mutter reden.«

Also durfte ich den gesamten Weg ins wunderbare Wapping fahren, mit einer Beverley neben mir, die zu niedergeschlagen schien, um überhaupt ein Wort zu sagen, was für sich genommen schon reichlich beunruhigend war. Als ich sie vor den Apartments absetzte, stieg sie halb aus, wandte sich aber noch einmal um und ermahnte mich, vorsichtig zu sein. Ich fragte, wobei ich vorsichtig sein solle, aber sie zuckte nur die Schultern, und bevor ich es verhindern konnte, küsste sie mich auf die Wange. Ich blickte ihr nach, als sie zum Haus ging, der Saum des Pullovers klebte an ihrem Po und ich dachte – was zum Henker sollte das jetzt wieder?

Damit ich hier nicht missverstanden werde: Ich fand Beverley Brook mit ihrer nassglänzenden Haut wirklich klasse, aber ich war auch ein wenig misstrauisch, nicht zuletzt deshalb, weil mir sowohl sie als auch ihre Mutter fähig schienen, sogar ein Stück Moos zur Erektion zu bringen, wenn sie es darauf anlegten. Isis’ Warnung, nicht mit einer Person ins Wasser zu steigen, die nur zum Teil ein menschliches Wesen war, war da nur das Tüpfelchen auf dem i.

Der Berufsverkehr begann sich bereits aufzustauen, als ich zum Folly zurückfuhr. Der Himmel war immer dunkler geworden; jetzt platschten erste Tropfen auf die Windschutzscheibe. Ich war ziemlich sicher, dass Oxley und Beverley eine Verbindung hergestellt hatten. Als sie da nebeneinander im Wasser standen, hatten sie irgendwie … vertraut miteinander gewirkt, oder vielleicht war familiär das bessere Wort, etwa so, wie Cousins miteinander umgehen. Bartholomew, der beim Thema der Genii locorum als Langweiler der Nation angesehen werden muss, behauptete, dass die »Naturgeister«, wie er sie nannte, stets etwas von den Wesenszügen des Ortes aufnahmen, den sie repräsentierten. Vater und Mutter Themse waren Geister desselben Flusses; wenn ich sie ein wenig zueinander hinschubsen konnte, würde ihr wahres Wesen schon den Rest erledigen.

Und wenn das bedeutete, Beverley ein paar Tage lang beim Schwimmen im Fluss zuschauen zu müssen, dann war das ein Preis, den ich gern zahlen würde.

Ich überlegte, ob ich noch bei Lesley vorbeischauen sollte, stellte aber dann doch den Jaguar in die Garage und ging zu Fuß zur U-Bahn-Station Russell Square. An dem Blumenstand neben der Station kaufte ich einen Strauß Blumen und stieg dann ohne ersichtlichen Grund in irgendeine U-Bahn, auf dem Weg irgendwo andershin.