Inspector Nightingale befahl Lesley und mir, im Garten zu warten, und verschwand wieder im Haus, um zu überprüfen, ob sich noch jemand anders darin aufhielt. Lesley hatte ihren Mantel ausgezogen und über das Kind gelegt; sie zitterte vor Kälte. Ich wollte meine Jacke ausziehen und sie ihr anbieten, aber sie winkte ab.
»Ist voller Blut«, sagte sie.
Richtig – Blutspuren waren auf den Ärmeln und am Saum entlang zu sehen. Und noch mehr Blut an der Hose, besonders an den Knien. Die Stellen, an denen es durch den Stoff gedrungen war, fühlten sich klebrig an. Auch in Lesleys Gesicht waren Blutspuren, vor allem um den Mund von ihrem Versuch, das Baby wieder zu beleben. Sie bemerkte, dass ich sie anstarrte.
»Ich weiß«, sagte sie, »hab den Geschmack immer noch im Mund.«
Wir zitterten beide. Am liebsten hätte ich laut geschrien, aber ich wusste, dass ich mich zusammenreißen musste, schon um Lesleys willen. Ich versuchte, nicht daran zu denken, aber die blutrote Ruine, die einmal Brandon Coopertowns Gesicht gewesen war, schob sich immer wieder vor meine Augen.
»He«, sagte Lesley, »krieg dich wieder ein, Mann.«
Sie betrachtete mich besorgt, und noch besorgter, als ich plötzlich zu kichern anfing. Konnte einfach nicht anders.
»Peter …?«
»Sorry«, sagte ich. »Aber du bist stark meinetwegen, und ich bin stark deinetwegen, und kapierst du nicht? Nur so kann man so eine Sache überstehen.« Endlich hatte ich mein Gekicher wieder unter Kontrolle. Sogar Lesley grinste ein wenig.
»Okay«, sagte sie, »ich raste nicht aus, solange du nicht ausrastest.« Sie nahm meine Hand, drückte sie kurz und ließ sie wieder los.
»Ob die Kollegen aus Hampstead beschlossen haben, zu Fuß anzurücken?«, fragte ich.
Tatsächlich kam die Ambulanz zuerst an. Die Sanitäter rannten in den Garten und versuchten volle zwanzig Minuten lang vergeblich, das Baby wiederzubeleben. Bei Kindern machen sie das immer, und es ist ihnen völlig egal, wie viel Schaden sie am Tatort anrichten. Man kann sie sowieso nicht davon abhalten, also lässt man sie am besten einfach machen.
Die Sanitäter hatten gerade erst angefangen, als ein Ford Transit ankam, voll mit Uniformierten. Alle sprangen heraus und liefen wild durcheinander. Der Sergeant näherte sich uns vorsichtig – er hielt uns irrtümlich für Zivilisten, blutbefleckt und daher potentiell gefährlich.
»Bei Ihnen alles in Ordnung?«, fragte er.
Ich brachte keine Antwort zustande – die Frage kam mir sowieso reichlich blöd vor.
Der Sergeant blickte zu den Sanitätern hinüber, die an dem kleinen Körper arbeiteten. »Können Sie mir schildern, was sich zugetragen hat?«, fragte er.
»Es hat einen ernsthaften Zwischenfall gegeben«, sagte Nightingale, der gerade aus dem Haus kam. »Sie« – er deutete auf einen unglücklichen Constable – »schnappen sich einen Kollegen und bewachen die Rückseite des Hauses. Sorgen Sie dafür, dass dort niemand hinein- oder hinausgelangen kann.«
Der Constable winkte einem Kollegen und die beiden verschwanden ums Haus. Der Sergeant schien nach einem Ausweis fragen zu wollen, aber Nightingale gab ihm keine Gelegenheit dazu.
»Ich will, dass diese Straße vollständig dichtgemacht wird, zehn Meter in beiden Richtungen, Sperrzone«, befahl er. »Die Presse wird jeden Augenblick hier einfallen, also sorgen Sie dafür, dass Sie genug Leute zusammenziehen, um den Medienpulk zurückzuhalten.«
Der Sergeant salutierte zwar nicht, wir sind schließlich die Met und salutieren grundsätzlich nicht, aber so zackig, wie er sich umdrehte und davonmarschierte, erinnerte es doch ein wenig an Kasernenhof. Nightingale schaute zu uns herüber; Lesley und ich standen zitternd und bleich da. Er nickte uns ermutigend zu, wandte sich dann an einen der übrigen Constables und bellte weitere Befehle.
Kurz danach wurden Decken herbeigeschafft, im Transit fand sich Platz für uns, Becher mit heißem Tee und drei Stück Würfelzucker wurden uns in die Hände gedrückt. Wir nippten am Tee und warteten schweigend auf den zweiten Tiefschlag des Tages.
Detective Chief Inspector Seawoll brauchte nicht mal vierzig Minuten nach Downshire Hill. Selbst wenn man den nicht allzu dichten Samstagverkehr berücksichtigte, konnte das nur heißen, dass er die gesamte Strecke von Belgravia hierher mit voller Lichtorgel und Dauersirene gerast war. Er tauchte an der Schiebetür des Transit auf und betrachtete mich und Lesley mit unheilvoll gerunzelter Stirn.
»Alles okay bei euch?«, erkundigte er sich.
Wir nickten beide.
»Gut. Ihr rührt euch nicht vom Fleck, dass das klar ist!«
Worauf er sich verlassen konnte. Wenn eine größere Ermittlung erst mal in Gang gekommen ist, ist sie in etwa so interessant wie die Wiederholung einer Folge von ›Big Brother‹, wenn auch mit weniger Sex und Gewalt. Kriminelle werden nicht durch brillante logische Deduktion überführt, sondern durch die Tatsache, dass irgendein armes Schwein eine Woche lang sämtliche Läden ausfindig macht, in denen eine bestimmte Art Turnschuhe verkauft wird, und dann die Aufzeichnungen jeder einzelnen Überwachungskamera vor diesen Läden überprüft. Und ein guter Ermittlungsleiter sorgt dafür, dass sein Team jeden Punkt und jedes Komma doppelt und dreifach überprüft, damit nicht irgendein juristischer Eierkopf mit Perücke eine Lücke in der Beweiskette findet und sie mit Hilfe der Kreditkarte seines Klienten so weit verbreitert, dass dieser hindurchschlüpfen und mit einem Freispruch abziehen kann.
Seawoll war einer der Besten, deshalb wurden wir getrennt zu einem Zelt gebracht, das die Forensiker in der Nähe des Gartentors errichtet hatten. Dort mussten wir uns bis auf die Unterwäsche ausziehen und unsere Straßenkleider gegen schicke einteilige Schutzanzüge eintauschen. Als ich sah, wie sie meinen Lieblingsblazer in einen Beweisbeutel stopften, wurde mir klar, dass ich mir noch nie die Mühe gemacht hatte, herauszufinden, ob man seine Klamotten später wieder zurückbekam. Und wenn sie einem das Zeug wieder zurückgaben, wurde es dann vorher chemisch gereinigt oder nicht? Sie nahmen Proben von den Blutspuren in unseren Gesichtern und auf den Händen und waren sogar so nett, uns Feuchttücher zu geben, damit wir den Rest abwischen konnten.
Schließlich saßen wir wieder im Transit und bekamen das Mittagessen gereicht – ein paar Sandwiches frisch aus dem Laden, aber das hier war Hampstead, deshalb waren sie von recht guter Qualität. Zu meiner Überraschung stellte ich fest, dass ich ziemlich hungrig war, und hätte eigentlich gern um einen Nachschlag gebeten, wenn nicht DCI Seawoll zu uns in den Van gestiegen wäre. Sein Gewicht ließ den Wagen auf einer Seite ziemlich tief einsinken, und seine physische Präsenz in der engen Kabine war so stark, dass Lesley und ich unwillkürlich in die Sitzlehnen zurückwichen.
»Wie geht’s euch beiden?«, fragte er.
Wir erklärten beide, fit und einsatzbereit zu sein, tatsächlich sogar richtig begierig, uns wieder aufs Pferd zu schwingen und ins Getümmel zu stürzen.
»Das ist reiner Bockmist«, kommentierte Seawoll, »aber wenigstens überzeugend vorgetragen. In ein paar Minuten werdet ihr zum Hampstead-Revier gebracht, wo eine nette Dame von Scotland Yard eure Aussagen aufnehmen wird – getrennt natürlich. Ich bin ein überzeugter Anhänger der Reinen Wahrheit, aber ihr nehmt gefälligst zur Kenntnis, dass ich in keiner Aussage auch nur ein einziges Wort von diesem verdammten Voodoo-Akte-X-Scheiß lesen will. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Wir gaben ihm zu verstehen, dass er seine Position hinreichend verständlich kommuniziert habe.
»Und wenn irgendjemand fragen sollte, sind wir durch unsere stinknormale Polizeiarbeit hier reingeraten und werden auch nur durch unsere stinknormale Polizeiarbeit wieder rauskommen.« Mit einem letzten Quietschen der Wagenfedern stieg er aus.
»Hat er uns gerade aufgefordert, einen ranghöheren Polizeibeamten zu belügen?«, fragte ich.
»Hat er«, sagte Lesley.
»Wollte nur sichergehen«, murmelte ich.
Und so verbrachten wir den Rest des Nachmittags damit, in getrennten Vernehmungen falsches Zeugnis abzulegen. Natürlich sorgten wir dafür, dass unsere Aussagen im Großen und Ganzen übereinstimmten, dass es aber auch jede Menge authentisch wirkender kleiner Abweichungen gab. Niemand kann eine Aussage so geschickt verbiegen wie ein Polizist.
Nach dem Lügen borgten wir uns im Revier ein paar abgelegte Klamotten und machten uns auf den Rückweg nach Downshire Hill. Ein Schwerverbrechen in einer schicken Gegend wie Hampstead ist immer ein gefundenes Fressen für die Medien, die inzwischen auch in voller Stärke angerückt waren, nicht zuletzt deshalb, weil mindestens die Hälfte der Reporter in der Nähe wohnte und an diesem Nachmittag zu Fuß zur Arbeit hatte kommen können.
Wir ließen einen verdächtig stillen Toby aus dem Honda Accord und brauchten eine Stunde oder so, um den Rücksitz zu reinigen, mussten aber trotzdem den ganzen Weg nach Charing Cross mit geöffneten Fenstern fahren. Eigentlich konnten wir Toby keinen Vorwurf machen, schließlich hatten wir ihn einen ganzen Tag lang im Auto schlicht vergessen. Deshalb kauften wir ihm ein McDonald’s Happy Meal, und ich denke, danach hatte er uns verziehen.
Am Ende gingen wir in mein Zimmer und tranken die letzten Flaschen Grolsch. Dann zog Lesley ihre Kleider aus und stieg in mein Bett. Ich stieg hinter ihr her und nahm sie in die Arme. Sie seufzte und schmiegte sich mit dem Rücken an mich. Ich bekam eine Erektion, aber sie war viel zu höflich, um näher darauf einzugehen. Toby nistete sich bequem am Fußende ein und benutzte unsere Füße als Kopfkissen, und so schliefen wir alle ein.
Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war Lesley verschwunden und mein Handy klingelte. Am Apparat war Nightingale.
»Sind Sie bereit, wieder an die Arbeit zu gehen?«, fragte er.
Ich erklärte, dass ich bereit sei.
Zurück an die Arbeit. Zurück zum Iain-West-Leichenschauhaus, wo Nightingale und ich einen Termin für die Besichtigung von Brandon Coopertowns grauenhaften Verletzungen hatten. Ich wurde Abdul Haqq Walid vorgestellt, einem agilen Mann in den Fünfzigern, der mit dem weichen Akzent der schottischen Highlands sprach.
»Dr. Walid ist für unsere Spezialfälle zuständig«, sagte Nightingale.
»Ich bin auf Kryptopathologie spezialisiert«, fügte Dr. Walid hinzu.
»Salam«, sagte ich.
»U aleikum assalaam!« Dr. Walid schüttelte mir die Hand.
Ich hatte gehofft, dass wir wenigstens dieses Mal im Nebenzimmer nur die Übertragung anschauen würden, aber Nightingale wollte von diesem Stadium der Autopsie keine visuelle Aufzeichnung. Also wieder rein in die Schürzen, Masken und Augenschutz aufgesetzt, dann durften wir den Obduktionssaal betreten. Brandon Coopertown, oder jedenfalls der Mann, den wir für Brandon Coopertown hielten, lag nackt auf dem Rücken auf dem Autopsietisch. Dr. Walid hatte bereits den Torso mit dem standardmäßigen Y-Schnitt geöffnet, und nachdem er darin nach dem herumgesucht hatte, was immer Pathologen dort suchen, hatte er ihn wieder zugenäht. Coopertowns Identität hatten wir anhand der biometrischen Daten in seinem Pass überprüft.
»Vom Hals abwärts«, erklärte Dr. Walid, »ist er physisch fit, ein Mann Ende vierzig. Für uns besonders interessant ist jedoch sein Gesicht.«
Oder vielmehr das, was von seinem Gesicht übrig war. Dr. Walid hatte die angerissenen Hautlappen zurückgeklappt und festgeklammert, so dass Brandon Coopertowns Gesicht eine grauenhafte Ähnlichkeit mit einem rosaroten Gänseblümchen hatte.
»Beginnen wir mit dem Schädel«, sagte Dr. Walid und beugte sich mit einer dünnen Stabtaschenlampe darüber. Nightingale beugte sich ebenfalls hinunter, ich begnügte mich damit, ihm über die Schulter zu blicken. »Wie Sie hier sehen können, wurden die Gesichtsknochen stark beschädigt, Unter- und Oberkiefer sowie das Jochbein wurden buchstäblich zerschmettert und sogar die Zähne, die meistens einigermaßen intakt bleiben, wurden zertrümmert.«
»Also ein gewaltiger Schlag direkt ins Gesicht?«, fragte Nightingale.
»Das war auch meine erste Vermutung«, sagte Dr. Walid, »bis ich das hier entdeckte.« Er benutzte eine Klammer, um einen Hautlappen, der früher vermutlich zur Wange gehört hatte, über das Gesicht zu legen. Das Hautstück zog sich über die gesamte Schädelbreite und reichte bis über das Ohr auf der anderen Seite. »Die Haut ist weit über ihre natürliche Form hinaus gedehnt worden, und obwohl vom Muskelgewebe nicht mehr viel übrig ist, zeigt sich auch hier laterale Degradation. Nach den Dehnungsstreifen zu urteilen, würde ich sagen, dass etwas sein Gesicht rund um Kinn und Nase hinausgepresst hat, Haut und Muskelgewebe wurden extrem gedehnt, die Knochen buchstäblich pulverisiert und das Ganze blieb dann eine Weile in dieser aufgeblähten Form erhalten. Dann verschwindet plötzlich das, was es in dieser Form gehalten hat, wieder, und weil die Knochen und das Gewebe keinerlei Zusammenhalt mehr haben, fällt sein Gesicht buchstäblich auseinander.«
»Denken Sie an Dissimulo?«, fragte Nightingale.
»Ja – oder an eine sehr ähnliche Technik«, nickte Dr. Walid.
Nightingale erklärte zu meiner Information, dass es sich bei Dissimulo um einen Zauberspruch handelte, durch den sich das Aussehen verändern ließ. Er sprach das Wort »Zauberspruch« nicht direkt aus, aber im Grunde lief es darauf hinaus.
»Leider«, ergänzte Dr. Walid, »werden dabei Haut und Muskeln völlig neu positioniert und das kann zu dauerhaften Schädigungen führen.«
»War nie eine besonders beliebte Technik«, murmelte Nightingale.
»Und hier sehen Sie auch, warum«, fügte Dr. Walid hinzu und wies auf die Überreste von Brandon Coopertowns Gesicht.
»Gibt es irgendwelche Anzeichen, dass er ein Praktizierender war?«, fragte Nightingale.
Dr. Walid holte eine abgedeckte Schale aus Edelstahl herbei. »Wusste doch, dass Sie die Frage stellen würden. Das habe ich vorhin herausgenommen.« Er hob den Deckel hoch. In der Schale lag ein menschliches Gehirn. Ich bin kein Experte für tote Gehirne, aber selbst mir kam dieses hier nicht sehr gesund vor, sondern schrumpelig und brüchig, als habe es zu lange in der Sonne gelegen.
»Wie Sie sehen können«, erklärte Dr. Walid, »haben wir hier eine extensive Degradation der Großhirnrinde sowie Hinweise auf eine intracranielle Blutung, die man mit Degenerationserscheinungen erklären könnte, wenn Inspector Nightingale und ich nicht schon mit der wahren Ursache vertraut wären.«
Er schnitt das Gehirn in zwei Teile, um uns das Innere zu zeigen. Es sah aus wie ein verwelkter Blumenkohl.
»Und so«, sagte Dr. Walid, »sieht ein Gehirn unter dem Einfluss von Magie aus.«
»Das kommt von Magie?«, fragte ich. »Kein Wunder, dass sie niemand mehr praktiziert.«
»So etwas geschieht nur, wenn man seine Grenzen überschreitet«, sagte Nightingale und wandte sich an Dr. Walid. »In seinem Haus haben wir keine Hinweise auf entsprechende Praktiken gefunden. Keine Bücher, keine Paraphernalien, kein Vestigium.«
»Könnte jemand seine Magie … hm, gestohlen haben?«, fragte ich. »Irgendwie aus seinem Gehirn gesaugt?«
»Das ist sehr unwahrscheinlich«, meinte Nightingale. »Es ist praktisch unmöglich, jemand anderem die magischen Kräfte zu stehlen.«
»Ausgenommen im Moment des Todes«, korrigierte ihn Dr. Walid.
»Es ist sehr viel wahrscheinlicher, dass unser Mr. Coopertown sich das hier selbst zufügte«, sagte Nightingale.
»Dann meinen Sie also, dass er während des ersten Überfalls gar keine Maske trug?«, fragte ich.
»Das ist anzunehmen«, antwortete er.
»Also wurde sein Gesicht schon am Dienstag zu Brei zerschlagen«, folgerte ich. »Was wiederum erklärt, warum sein Gesicht in den Aufzeichnungen der Buskameras so fleckig wirkt. Dann fliegt er nach Amerika, bleibt drei Nächte lang dort und kommt hierher zurück. Und die ganze Zeit läuft er mit einem praktisch zerstörten Gesicht herum.«
Dr. Walid dachte darüber nach. »Das würde nicht nur zu den Verletzungen passen, sondern auch mit den Anzeichen von neuem Wachstum um einige der Knochenfragmente.«
»Aber er hätte doch extremste Schmerzen gehabt!«, sagte ich.
»Nicht unbedingt«, meinte Nightingale. »Eine der Gefahren des Dissimulo ist, dass Schmerzen überdeckt werden. Wer den Zauberspruch anwendet, hat möglicherweise keine Ahnung, dass er sich selbst verletzt.«
»Also, als sein Gesicht noch normal aussah, wurde es nur durch Magie zusammengehalten?«
Dr. Walid schaute Nightingale an. »Ja«, nickte der Inspector.
»Und wenn man einschläft, was geschieht dann mit dem Zauberspruch?«, fragte ich.
»Er würde vermutlich kollabieren«, sagte Nightingale.
»Aber wenn der Zauberspruch kollabierte, dann hätte bei seinen schweren Verletzungen sein Gesicht buchstäblich auseinanderfallen müssen. Also muss er ihn die ganze Zeit irgendwie aufrechterhalten haben, während er in Amerika war«, argumentierte ich. »Wollen Sie behaupten, dass er vier Tage lang ohne Schlaf auskam?«
»Das ist in der Tat etwas unwahrscheinlich«, meinte Dr. Walid.
»Funktionieren Zaubersprüche wie Software?«, fragte ich.
Nightingale blickte mich verständnislos an; Dr. Walid musste für ihn einspringen.
»Wie meinen Sie das?«
»Kann man dem Unbewussten einer Person befehlen, den Zauberspruch aufrechtzuerhalten?«, fragte ich. »Dann würde er weiter funktionieren, auch wenn die Person einschläft.«
»Das wäre theoretisch denkbar, aber moralisch bedenklich, und abgesehen davon glaube ich nicht, dass ich es könnte«, sagte Nightingale. »Ich glaube nicht, dass irgendein menschlicher Zauberer das könnte.«
Irgendein menschlicher Zauberer – okay. Dr. Walid und Nightingale schauten mich an und mir wurde plötzlich klar, dass sie selbst schon so weit gekommen waren und jetzt nur noch darauf warteten, dass ich sie einholte.
»Als ich Sie nach Geistern, Vampiren, Werwölfen fragte, sagten Sie, ich hätte nicht mal an der Oberfläche gekratzt – das meinten Sie wirklich im Ernst, nicht wahr?«
Nightingale nickte. »Ich fürchte, ja. Tut mir leid.«
»Scheiße«, sagte ich.
Dr. Walid lächelte. »Genau das habe ich damals vor dreißig Jahren auch gesagt.«
»Also: Wer oder was auch immer das dem armen alten Coopertown zufügte, war wahrscheinlich kein menschliches Wesen«, stellte ich fest.
»Ich könnte es nicht mit Sicherheit behaupten«, sagte Dr. Walid, »wäre aber bereit, darauf zu wetten.«
Danach taten Nightingale und ich das, was alle guten Bullen tun, wenn sie im Laufe des Tages mal eine freie Minute haben – wir suchten uns einen Pub. Gleich um die Ecke fanden wir den gnadenlos hochpreisigen Marquis of Queensbury, der im Nieselregen ein wenig schmuddelig wirkte. Nightingale spendierte mir ein Bier und wir setzten uns in eine Ecknische unter einen viktorianischen Druck, der einen Boxkampf mit bloßen Fäusten darstellte.
»Wie wird man denn Zauberer?«, fragte ich.
Nightingale schüttelte den Kopf. »Das läuft nicht so wie der Eintritt in die Met.«
»Jetzt bin ich aber überrascht. Wie läuft es dann?«
»Man macht eine Lehre«, erklärte er. »Und man geht eine Verpflichtung ein, gegenüber der Kunst, gegenüber mir, gegenüber dem Land.«
»Dann muss ich Sie also mit Sifu anreden?«
Damit hatte ich ihm zumindest ein Lächeln entlockt. »Nein. Sie müssen mich Meister nennen.«
»Meister?«
»Die Tradition verlangt es.«
Ich wiederholte das Wort ein paarmal im Kopf und es klang immer so, wie Sklaven ihre Besitzer anredeten: Massa.
»Könnte ich Sie stattdessen nicht einfach Inspector nennen?«, fragte ich.
»Wie kommen Sie auf die Idee, dass ich Ihnen eine Lehrstelle anbiete?«, fragte er zurück.
Ich nahm einen Schluck Bier und wartete. Nightingale lächelte noch einmal und trank ebenfalls einen Schluck. »Wenn Sie diesen besonderen Rubikon erst einmal überschritten haben, gibt es kein Zurück mehr«, sagte er schließlich. »Und ja, Sie dürfen mich Inspector nennen.«
»Ich habe gerade gesehen, wie ein Mann seine Frau und sein Kind ermordet hat«, sagte ich. »Wenn es einen rationalen Grund dafür gibt, dann möchte ich ihn wissen. Wenn nur der geringste Anlass besteht zu vermuten, dass er für seine Taten nicht verantwortlich war, dann möchte ich es wissen. Weil wir nämlich nur dann verhindern könnten, dass so etwas noch einmal passiert.«
»Das ist kein guter Grund, um diesen Job zu übernehmen«, sagte Nightingale.
»Gibt es denn überhaupt einen guten Grund?«, fragte ich. »Ich will mitmachen, Sir, weil ich es herausfinden muss.«
Nightingale prostete mir mit dem Glas zu. »Das ist ein besserer Grund.«
»Und was geschieht jetzt?«, fragte ich.
»Jetzt passiert nichts. Heute ist schließlich Sonntag. Morgen früh machen wir als Erstes dem Commissioner unsere Aufwartung.«
»Guter Witz, Sir. Sehr komisch.«
»Nein, im Ernst. Er ist der Einzige, der dazu autorisiert ist, die endgültige Entscheidung zu treffen.«
New Scotland Yard, ursprünglich ein ganz gewöhnliches Bürogebäude, war in den 1960er Jahren von der Met angemietet worden. Seither waren die Büros der leitenden Beamten mehrmals neu möbliert worden, zuletzt in den neunziger Jahren, was im Hinblick auf Innenarchitektur sowieso das bei weitem miserabelste Jahrzehnt seit den Siebzigern war. Ich denke mal, das war auch der Grund, warum das Vorzimmer des Commissioners, immerhin der höchste Beamte der Met, eine trostlose Ansammlung von laminiertem Sperrholz und Schalenstühlen aus Polyurethan war. Damit sich die Besucher auch wirklich wohlfühlten, starrten die fotografischen Porträts der letzten sechs Polizeipräsidenten auf sie herab.
Sir Robert Mark (1972 – 1977) blickte besonders missbilligend drein. Vermutlich war er nicht der Meinung, dass ich einen wertvollen Beitrag leistete.
»Noch ist es nicht zu spät, die Bewerbung zurückzuziehen«, ermunterte mich Nightingale.
Natürlich war es zu spät, aber das heißt nicht, dass ich mir nicht gewünscht hätte, ich wäre woanders. Üblicherweise sitzt ein Constable nur im Vorzimmer des Commissioners, wenn er entweder sehr tapfer oder sehr dumm gewesen ist, und ich hatte wirklich nicht den blassesten Schimmer, was auf mich zutraf.
Der Commissioner ließ uns nur zehn Minuten warten, dann wurden wir von seiner Sekretärin hineingeleitet. Sein Büro war groß und mit demselben Mangel an Stil ausgestattet, der auch den Rest von Scotland Yard kennzeichnete, nur hatte man hier noch eine Extraschicht Paneele (Eiche-Imitat) draufgelegt. An einer Wand hing das Porträt der Königin und an einer anderen Wand das des ersten Commissioners, Sir Charles Rowan. Ich nahm so viel Paradehaltung an, wie ein Londoner Polizist nur zustande bringen konnte, und wäre beinahe zurückgezuckt, als mir der Commissioner die Hand reichte.
»Constable Grant«, sagte er, »Ihr Vater ist Richard Grant, nicht wahr? Ich habe ein paar von seinen Platten, auf denen er mit Tubby Hayes spielt. Auf Vinyl natürlich.«
Er wartete nicht auf meine Antwort, sondern schüttelte nun auch Nightingale die Hand und forderte uns mit einer knappen Bewegung auf, uns zu setzen. Noch so ein Mensch aus dem Norden, der einen felsigen Karrierepfad hinter sich und zunächst einen Einsatz in Nordirland absolviert hatte, wie er anscheinend für den Commissioner-Nachwuchs der Metropolitan Police inzwischen obligatorisch war – vermutlich aufgrund der Annahme, dass der Umgang mit gewalttätigen Sektierern den Charakter festigt. Er trug die Uniform mit Würde, und sein Fußvolk hielt ihn nicht unbedingt für den totalen Kasper, womit er sich deutlich von einigen seiner Vorgänger unterschied.
»Eine unerwartete Entwicklung, Inspector«, sagte der Commissioner. »Manche mögen das für einen unnötigen Schritt halten.«
»Commissioner«, antwortete Nightingale bedächtig, »ich glaube, dass die Umstände eine Änderung der Abmachung erfordern.«
»Als ich zum ersten Mal über Ihre Abteilung informiert wurde, gab man mir zu verstehen, dass ihre Funktion nur noch sehr begrenzt sei und weiter abnehme und dass die …« – der Commissioner schien das Wort kaum über die Lippen zu bringen – »… die Magie sehr an Bedeutung verloren habe und kaum noch eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung darstelle. Tatsächlich erinnere ich mich definitiv daran, dass das Innenministerium damals die Formulierung ›im Verschwinden begriffen‹ verwendete. ›Durch Wissenschaft und Technologie verdrängt‹ war noch so eine Formulierung, die ich häufig hörte.«
»Das Innenministerium hat nie wirklich begriffen, dass sich Wissenschaft und Magie nicht gegenseitig ausschließen, Sir. Der Gründer meiner Gesellschaft hat genügend Beweise dafür geliefert. Ich bin überzeugt, dass wir es mit einem langsamen, aber stetigen Anstieg magischer Aktivität zu tun haben.«
»Die Magie kehrt zurück?«, fragte der Commissioner.
»Seit Mitte der sechziger Jahre, Sir«, sagte Nightingale.
»Die Sechziger! Nun, das überrascht mich nicht sonderlich. Aber es ist eine unerfreuliche Entwicklung. Kennen Sie die Gründe dafür?«
»Nein, Sir. Aber es gab damals auch keinen Konsens in der Frage, warum sich die Magie überhaupt abgeschwächt hatte.«
»Ich habe gehört, dass in diesem Kontext der Name Ettersberg erwähnt wurde«, sagte der Commissioner.
Einen Moment lang spiegelte Nightingales Gesicht echten Schmerz wider. »Ettersberg hatte sicherlich auch damit zu tun.«
Der Commissioner blies die Wangen auf und seufzte. »Die Morde in Covent Garden und in Hampstead hängen irgendwie zusammen?«
»Ja, Sir.«
»Und Sie glauben, die Situation wird eher noch schlimmer?«
»Ja, Sir.«
»So viel schlimmer, dass es gerechtfertigt wäre, die Abmachung aufzukündigen?«
»Für die Ausbildung eines Lehrlings benötigt man zehn Jahre, Sir«, antwortete Nightingale. »Es ist besser, einen Ersatz zu haben, falls mir etwas zustoßen sollte.«
Der Commissioner ließ ein freudloses Lachen hören. »Weiß er denn, worauf er sich einlässt?«
»Weiß das überhaupt ein Polizist?«, fragte Nightingale.
»Na gut«, sagte der Commissioner. »Stehen Sie auf, mein Junge.«
Wir erhoben uns. Nightingale sagte, ich solle die Hand heben und las mir die Eidesformel vor, die ich nachsprechen musste: »Ich, Peter Grant aus Kentish Town, schwöre, Ihrer Majestät der Königin und ihren Nachfolgern aufrichtig zu dienen; meinem Meister während der Dauer meiner Lehre gut und getreulich zu dienen; den Wächtern Gehorsam zu leisten und die Kleidung der Bruderschaft in Ehren zu halten; das Geheimnis besagter Bruderschaft ehrend zu bewahren und niemandem außerhalb besagter Bruderschaft zu enthüllen. Und ich schwöre feierlich, in all diesen Dingen aufrichtig und ehrlich zu sein und diesen Eid geheim zu halten. So helfe mir Gott, Ihre Majestät und die Macht des Universums, dieses Gelöbnis zu bewahren und zu erfüllen.«
Das alles gelobte ich feierlich, nur an der Stelle mit den Klamotten verhaspelte ich mich ein bisschen.
»So helfe dir Gott, mein Sohn«, sagte der Commissioner.
Nightingale informierte mich, dass ich als sein Zauberlehrling auch in sein Haus am Russell Square einziehen müsse. Er gab mir die Adresse und setzte mich am Charing-Cross-Wohnheim ab.
Lesley half mir beim Packen.
»Solltest du nicht in Belgravia sein?«, fragte ich. »Du hast doch bestimmt jede Menge Mordrecherchen zu erledigen.«
»Man hat mir befohlen, einen Tag freizunehmen. Erholungsurlaub – halt dich bloß von den Medien fern – mach dir einen schönen Tag und so weiter.«
Das konnte ich nachvollziehen. Die Auslöschung einer Familie, die noch dazu reich und berühmt war, musste für jeden Nachrichtenredakteur die absolute Traumstory sein. Wenn sie die grausigen Einzelheiten ausführlich durchgekaut hatten, konnten sie die Story weiter am Kochen halten und ganz allgemein darüber spekulieren, was der tragische Tod der Coopertowns über unsere Gesellschaft aussagte und ob diese Tragödie nicht die Kultur der Moderne ad absurdum führte/den säkularen Humanismus entlarvte/die politische Korrektheit zur Farce machte/die Lage in Palästina weiter zuspitzte – Nichtzutreffendes bitte streichen. Und das Einzige, was dieser Topstory noch das Sahnehäubchen aufsetzen konnte, war eine super aussehende blonde Polizistin, die, wie ich hinzufügen könnte, unbeaufsichtigt einen höchst gefährlichen Einsatz durchführte. Jede Menge Fragen würden gestellt werden. Und sämtliche Antworten würden ignoriert werden.
»Wer fährt eigentlich nach Los Angeles?«, fragte ich. Schließlich musste jemand Brandons Aufenthalt in den Staaten nachspüren.
»Ein paar Sergeants, die ich nicht kennenlernen durfte«, antwortete Lesley. »Ich hatte ja gerade erst seit ein paar Tagen dort gearbeitet, als du mich in diesen Schlamassel reingezogen hast.«
»Du bist Seawolls blauer Augenstern«, sagte ich. »Der wird dir keine Vorwürfe machen.«
»Trotzdem bist du mir was schuldig«, sagte sie, nahm mein Duschtuch und faltete es schnell und präzise zu einem kompakten Würfel.
»Okay. Du hast einen Wunsch frei«, sagte ich.
»Kannst du heute Abend freinehmen? Ich will hier nicht rumsitzen. Ich will ausgehen.«
»Wohin ausgehen?« Ich schaute zu, wie sie das Duschtuch wieder auseinanderfaltete und dann zu einem kompakten Dreieck faltete.
»Egal wohin, nur nicht in den Pub«, sagte sie und gab mir das Duschtuch. Um es in den Koffer zu bekommen, musste ich es auseinanderfalten.
»Wie wär’s mit Kino?«, fragte ich.
»Klingt gut. Aber es muss ein lustiger Film sein.«
Russell Square liegt einen Kilometer nördlich von Covent Garden auf der anderen Seite des Britischen Museums. Nightingale zufolge war der Platz das Zentrum einer literarischen und philosophischen Bewegung zu Beginn des letzten Jahrhunderts gewesen. Ich dagegen kannte ihn aus einem alten Horrorfilm über irgendwelche Kannibalen, die dort in den Untergrundtunnels lebten.
Nightingales Adresse befand sich an der Südseite des Platzes, wo eine Zeile georgianischer Reihenhäuser überlebt hatte. Die Häuser waren fünfstöckig, wenn man die ausgebauten Dachgeschosse mitzählte, und hatten schmiedeeiserne Geländer, die an den Treppen zu den Souterrainwohnungen angebracht waren. Die gesuchte Adresse hatte eine deutlich breitere Eingangstreppe als die Nachbarhäuser. Sie führte zu einer zweiflügeligen Mahagonitür mit Messingbeschlägen hinauf. Auf dem Türsturz waren die Worte SCIENTIA POTESTAS EST eingemeißelt.
Scientia hieß natürlich Wissenschaft, das wusste ich. Was bedeutete also dieser Spruch? »Wissenschaft ist im Pott«? Oder »Wissenschaft ist Potenz«? Oder vielleicht »Wissenschaft ist wie Pot«? Stolperte ich hier am Ende in die Höhle irgendwelcher gefährlicher Drogen- und Pflanzengenetiker?
Ich schleppte meinen Rucksack und die beiden Koffer zur Haustür hinauf und drückte auf den Messingklingelknopf, hörte aber durch die massive Holztür kein Läuten. Nach ein paar Augenblicken schwang sie von allein auf. Vielleicht lag es am Verkehrslärm, aber ich hätte schwören können, weder einen Antriebsmotor noch irgendeinen Mechanismus gehört zu haben. Toby jaulte kläglich und ging hinter meinen Beinen in Deckung.
»Das ist nicht gruselig«, murmelte ich vor mich hin. »Absolut gar nicht.«
Ich schleppte mein Gepäck durch die Tür.
Die Eingangshalle hatte einen Mosaikboden im römischen Stil und eine Art Kabine aus Holz und Glas, die zwar nicht direkt wie ein alter Kartenschalter in Kinos aussah, aber trotzdem darauf hindeutete, dass in diesem Haus zwischen Drinnen und Draußen unterschieden wurde und dass man besser zuerst um Erlaubnis bitten sollte, bevor man weiter ins Hausinnere vordrang. Was auch immer dieses Haus war, es konnte jedenfalls nicht Nightingales Privatresidenz sein.
Jenseits der seltsamen Kabine stand eine Marmorstatue, flankiert von zwei klassizistischen Säulen. Die Statue stellte einen Mann dar, der einen akademischen Talar und Kniehosen trug. In einem Arm hielt er einen gewaltigen Wälzer, im anderen einen Sextanten. In seinem kantigen Gesicht lag der Ausdruck größter Neugier und ich wusste schon seinen Namen, bevor ich auch nur einen Blick auf die Inschrift im Sockel geworfen hatte, die da lautete:
Natur und der Natur Gesetze lagen in dunkler Nacht; Gott sprach: Newton sei! Und sie strahlten voll Pracht.
Nightingale wartete neben der Statue auf mich. »Willkommen im Folly, der offiziellen Residenz der englischen Magie seit 1775.«
»Und Ihr Schutzheiliger ist Sir Isaac Newton?«
Nightingale grinste. »Er war unser Gründer und der Erste, der die magischen Praktiken systematisch erfasste.«
»Mir hat man immer beigebracht, dass er die moderne Wissenschaft erfunden hat«, sagte ich.
»Er hat beides getan. Darin zeigt sich das wahre Genie.«
Nightingale führte mich durch eine Tür in einen rechteckigen Innenhof, offenbar die Mitte des Gebäudes. Oben erstreckten sich zwei Reihen von Balkonen, darüber wölbte sich eine viktorianische Kuppel aus Glas und Gusseisen. Tobys Krallen klickten auf den polierten cremefarbenen Marmorfliesen. Davon abgesehen war es absolut still, und obwohl das Haus vollkommen sauber war, wirkte es irgendwie verlassen.
»Dort geht es zum großen Speisesaal, den wir nicht mehr benutzen, dort zum Salon und zum Rauchzimmer, ebenfalls nicht mehr in Benutzung«, erklärte Nightingale und deutete auf die Türen am anderen Ende des Innenhofs. »Und hier geht es zur Bibliothek und zum Vorlesungssaal. Im Untergeschoss befinden sich die Küchen, die Spülküche und der Weinkeller. Die Hintertreppe ist dort drüben. Zur Remise und zu den Stallungen gelangt man durch die Hintertür.«
»Wie viele Personen leben hier?«, fragte ich.
»Nur wir beide … und Molly«, antwortete Nightingale.
Toby kauerte sich plötzlich neben meinen Füßen nieder und knurrte. Ein richtiges Da-läuft-eine-Katze-durch-die-Küche-Knurren war das. Ich blickte auf und sah eine Frau, die geräuschlos über die polierten Marmorfliesen auf uns zuglitt. Sie war schlank und wie ein Hausmädchen aus edwardianischer Zeit gekleidet, mit allem, was dazugehört: eine winzige gestärkte Schürze über dem langen schwarzen Rock und eine weiße Baumwollbluse. Aber ihr Gesicht passte nicht ganz zu dieser harmlosen Kleidung, es war ein wenig zu lang und zu scharfknochig, mit schwarzen mandelförmigen Augen. Trotz des weißen Häubchens trug sie das Haar lose, ein schwarzer Schleier, der ihr bis zur Hüfte reichte. Sie jagte mir sofort einen Schauder über den Rücken, und das nicht nur, weil ich zu viele japanische Horrorfilme angeschaut hatte.
»Das ist Molly«, sagte Nightingale. »Sie ist unser Mädchen.«
»Mädchen?«
»Für alles«, erklärte Nightingale.
Molly schlug die Augen nieder und vollführte eine eigenartige Bewegung, die sowohl ein Knicks als auch eine leichte Verbeugung hätte sein können. Als Toby wieder knurrte, fletschte sie beunruhigend scharfe Zähne.
»Molly!«, sagte Nightingale scharf.
Molly bedeckte sofort den Mund mit der Hand, wandte sich um und glitt denselben Weg zurück. Toby stieß ein selbstzufriedenes Grunzen aus, mit dem er aber niemandem außer sich selbst etwas vormachen konnte.
»Und sie ist …?«, fragte ich.
»Unersetzlich«, sagte Nightingale.
Bevor wir hinaufgingen, führte mich Nightingale zu einer Nische in der Nordwand. Dort hatte man eine kleine versiegelte Haubenvitrine aus Glas, wie sie in Museen verwendet werden, wie einen Hausgott auf ein Podest gestellt. Die Vitrine enthielt ein in Leder gebundenes Buch. Die Titelseite war aufgeschlagen; ich beugte mich darüber und las: Philosophiae Naturalis Principia Artes Magicis – Autore: J. S. Newton.
»Unser alter Freund Isaac war also nicht zufrieden damit, dass er die wissenschaftliche Revolution anzettelte, sondern musste auch noch die Magie erfinden?«, fragte ich.
»Er hat sie nicht erfunden, sondern hat ihre Grundprinzipien kodifiziert, so dass man bei der Anwendung weniger auf Versuch und Irrtum angewiesen war.«
»Magie und Wissenschaft, aha«, sagte ich. »Und hat er danach noch eine Zugabe gegeben?«
»Er reformierte die Königliche Münze und rettete das Land vor dem Bankrott, weiter nichts«, sagte Nightingale.
Offenbar gab es zwei verschiedene Treppenhäuser; wir nahmen das östliche und gelangten auf die erste Reihe der auf Säulen ruhenden Balkone. Hier war nichts zu sehen als Holzpaneele und weiße Staubschutztücher. Zwei weitere Treppen führten uns zum Flur im zweiten Stock, von dem viele schwere Holztüren abgingen. Nightingale öffnete scheinbar aufs Geratewohl eine der Türen und führte mich in den Raum.
»Ihr Zimmer«, sagte er.
Es war ungefähr doppelt so groß wie mein Zimmer im Wohnheim, wohlproportioniert und mit hoher Decke. In einer Ecke stand ein Doppelbett mit Messinggestell, in einer anderen Ecke ein riesiger Schrank wie der aus den Chroniken von Narnia. Dazwischen war ein Schreibtisch so platziert, dass das Licht von zwei Fenstern darauf fiel. Bücherregale bedeckten zwei weitere Wände vollkommen, doch sie waren leer, mit Ausnahme einer, wie ich später entdeckte, vollständigen 11. Ausgabe der Encyclopaedia Britannica von 1913, einer schwer zerfledderten Ausgabe von Schöne neue Welt und einer Bibel. Im Kamin, der wohl einmal tatsächlich ein offener Kamin gewesen war, hatte man einen Gasofen aus grünen Keramikfliesen installiert. Die Leselampe auf dem Schreibtisch hatte einen Schirm aus Japanpapierimitat und daneben stand ein altes Bakelittelefon, das bestimmt älter war als mein Vater. Im Zimmer roch es nach einem Gemisch von Staub und kürzlich angewandter Möbelpolitur und ich vermutete, dass die Möbel in diesem Raum in den vergangenen fünfzig Jahren unter weißen Staubhüllen vor sich hin geträumt hatten.
»Wenn Sie sich eingerichtet haben, kommen Sie ins Erdgeschoss hinunter«, sagte Nightingale. »Aber sorgen Sie dafür, dass Sie vorzeigbar sind.«
Ich wusste, was damit gemeint war, deshalb versuchte ich es so lange wie möglich hinauszuzögern, obwohl ich eigentlich mit dem Auspacken recht schnell fertig war.
Genau genommen gehörte es nicht zu unserem Job, trauernde Eltern vom Flughafen abzuholen, und abgesehen davon, dass eigentlich die Westminster-Mordkommission offiziell für den Fall zuständig war, war es auch sehr unwahrscheinlich, dass die Eltern von Augusta Coopertown irgendwelche Informationen zu der Mordsache beisteuern konnten. Es mag herzlos klingen, aber Detectives haben tatsächlich Wichtigeres zu tun, als Trauerberater für die Hinterbliebenen zu spielen, dafür sind die unterstützenden Sozialarbeiter da. Nightingale sah das allerdings nicht so, und deshalb hingen er und ich im Ankunftsterminal am Flughafen Heathrow herum und warteten darauf, dass Mr. und Mrs. Fischer durch den Zoll kamen. Natürlich war ich es, der das Schild mit ihrem Namen hochhalten musste.
Sie sahen anders aus, als ich erwartet hatte. Dad war klein und fast kahl und Mum hatte mausgraues Haar und war rundlich. Nightingale stellte sich in einer Sprache vor, die vermutlich Dänisch war, und befahl mir, das Gepäck zum Jaguar zu bringen – was ich in diesem Fall ausgesprochen gern tat.
Fragen Sie irgendeinen Polizisten, was für ihn das Schlimmste an seinem Job ist. Ich wette, alle werden dasselbe sagen – Verwandten die schlechte Nachricht zu überbringen. Stimmt aber nicht. Das Schlimmste ist, nach der Mitteilung im selben Zimmer sitzen bleiben zu müssen, wenn das Leben dieser Menschen förmlich in sich zusammenstürzt. Manche werden behaupten, dass ihnen das nichts ausmacht – diesen Leuten sollte man nicht über den Weg trauen.
Die Fischers hatten offenbar ein Hotel gegoogelt, das möglichst nahe am Haus ihrer Tochter lag, und sich in eine Mischung aus Gefängnisblock und Tankstelle eingebucht, erbaut aus Backsteinen. Es stand am Havistock Hill und die Lobby wirkte so angestaubt und unfreundlich wie ein überlastetes Arbeitsamt. Ich bezweifle zwar, dass die Fischers das überhaupt wahrnahmen, aber Nightingale war deutlich anzumerken, dass er das Hotel für nicht gut genug hielt; einen Moment lang glaubte ich sogar, er würde die Fischers einladen, im Folly zu übernachten.
Doch dann seufzte er nur und bedeutete mir das Gepäck vor der Rezeption abzustellen. »Ich kümmere mich jetzt um sie«, sagte er und schickte mich nach Hause. Ich verabschiedete mich von den Fischers und verschwand aus ihrem Leben, so schnell ich nur konnte.
Nach diesem Erlebnis hatte ich überhaupt keine Lust mehr auszugehen, aber Lesley überredete mich. »Du kannst dich nicht einfach verkriechen, nur weil draußen in der Welt schlimme Dinge passieren«, sagte sie. »Außerdem bist du mir das schuldig.«
Ich widersetzte mich nicht lange. Und das Gute am West End ist, dass es da an jeder Ecke ein Kino gibt. Wir fingen im Prince Charles an, aber dort zeigten sie 12 Monkeys im Saal unten und zwei Kurosawa-Klassiker oben, also gingen wir um die Ecke zum Leicester Square Voyage. Das Voyage ist eine Miniaturversion eines Multiplexkinos mit acht Leinwänden, und zwei waren sogar tatsächlich ein bisschen größer als ein durchschnittlicher Plasmafernseher. Normalerweise bevorzuge ich Filme, in denen ein gewisses Maß an völlig überflüssiger Gewalt vorkommt, aber heute ließ ich mich von Lesley überreden, dass Sherbet Lemons genau der richtige Film sei, um uns abzulenken und wieder ein bisschen aufzumuntern – der Wohlfühlfilm des Monats, eine romantische Komödie mit Allison Tyke und Dennis Carter. Und vielleicht hätte das mit der Ablenkung sogar funktioniert, wenn wir den Film überhaupt zu sehen bekommen hätten.
Das Foyer wurde von einem langen Tresen für Tickets, Snacks und Getränke beherrscht, der sich über die gesamte Breite des Raums zog. Er umfasste acht Verkaufsstellen; die Kassen verschwanden fast unter dem Durcheinander von Popcorn-Spendern, Hotdog-Grills und Reklame auf Kartonständern, auf denen Kinder-Überraschungs-Boxen in Verbindung mit dem neuesten Blockbuster angepriesen wurden. Über jeder Verkaufsstelle hing ein LCD-Breitbildschirm, auf dem die heute gespielten Filme, die Altersfreigabe und die Vorführzeiten aufgelistet waren. Außerdem war angegeben, wie lange es bis zum Beginn der Vorführung noch dauerte und wie viele Sitze noch frei waren. In regelmäßigen Abständen schaltete der Bildschirm auf einen Ankündigungstrailer für irgendeinen Film oder einen Werbespot für Separatorenfleisch um, oder er zeigte einfach den Hinweis, was für einen superunterhaltsamen Abend man doch in den Voyage-Kinos erleben konnte. An diesem Abend war allerdings nur eine der Kassen geöffnet, vor der sich eine Schlange von ungefähr fünfzehn Kunden gebildet hatte. Wir stellten uns hinter einer gut gekleideten Frau mittleren Alters an, die vier Mädchen zwischen neun und elf Jahren bei sich hatte. Die Warterei machte Lesley und mir nichts aus, denn wenn man als Polizist überhaupt was lernt, dann ist es Warten.
Bei den Ermittlungen stellte sich später heraus, dass in dieser Abendschicht nur ein Verkäufer, ein dreiundzwanzigjähriger Flüchtling aus Sri Lanka namens Sadun Ranatunga, hinter dem Tresen stand. Außer ihm umfasste das Personal des Leicester Square Voyage an diesem Abend noch weitere vier Personen. Zum Zeitpunkt des Zwischenfalls waren zwei von ihnen mit der Reinigung der Säle 1 und 3 für die nächste Vorführung beschäftigt. Ein weiterer Mitarbeiter kontrollierte an der Saaltür die Eintrittskarten und der vierte durfte eine besonders unangenehme Hinterlassenschaft im Männerklo beseitigen.
Weil Mr. Ranatunga sowohl Kinokarten als auch Popcorn und so weiter verkaufen musste, dauerte es fast eine Viertelstunde, bis die Frau vor uns endlich berechtigte Hoffnung haben konnte, bald an die Reihe zu kommen. Die vier Mädchen, die sich irgendwo im Foyer herumgetrieben hatten, trudelten wieder ein, um nicht zu spät zu kommen, wenn die Süßigkeiten verteilt wurden. Die Frau war beeindruckend streng und machte ihnen klar, dass jede nur eine Standardration, bestehend aus Getränk und wahlweise einer Packung Popcorn oder Süßigkeiten, erhalten würde – keine Ausnahme, und es ist mir völlig egal, was euch Priscillas Mutter alles gekauft hat, als sie euch letztes Mal ins Kino mitnahm. Und nein, du kriegst keine Nachos, was sind Nachos überhaupt. Also, benimm dich gefälligst oder du kriegst überhaupt nichts.
Dem Charing Cross CID zufolge kippte die Situation in dem Moment, in dem das Pärchen, das vor der Frau mit den Kindern stand, an die Reihe kam und einen Nachlass auf die Ticketpreise verlangte. Die beiden, später als Nicola Fabroni und Eugenio Turco identifiziert, waren heroinabhängig und befanden sich zur Entziehungskur in London. Sie legten Mr. Ranatunga einen Werbeflyer von der Piccadilly English Language School vor und behaupteten, das sei der Beweis, dass sie dort als Studenten eingeschrieben seien. Noch vor einer Woche hätte Mr. Ranatunga die Sache wahrscheinlich durchgehen lassen, aber just an diesem Nachmittag hatte ihm sein Manager erklärt, dass die Zentrale gerade das Leicester Square Voyage gerügt habe, weil hier zu viele ermäßigte Kinokarten ausgegeben worden seien. Wenn irgendwelche Zweifel an der Berechtigung bestünden, müsse das Personal in Zukunft den Preisnachlass ablehnen. Mr. Ranatunga befolgte diese Order und informierte Turco und Fabroni, dass sie zu seinem Bedauern den vollen Preis zu zahlen hätten. Das kam bei dem Pärchen gar nicht gut an, denn es hatte sein Budget für diesen Abend in der Annahme kalkuliert, ermäßigten Einlass erschwindeln zu können. Deshalb begannen sie sich mit Mr. Ranatunga zu streiten, der aber unerbittlich blieb, und weil beide Parteien den Streit in einer Sprache ausfochten, die sie nicht völlig beherrschten, benötigten sie dafür viel kostbare Zeit. Doch endlich gaben Turco und Fabroni nach und zahlten missmutig mit zwei schmuddeligen Fünf-Pfund-Scheinen und einer Handvoll Zehn-Pence-Münzen den vollen Preis.
Offenbar hatte Lesley ihr Polizistenauge von Anfang an auf die Italiener gerichtet, während ich – wie inzwischen allgemein bekannt: leicht abzulenken – heftig darüber grübelte, wie ich wohl Lesley in mein Zimmer im Folly schmuggeln könnte. Deshalb war ich doch einigermaßen überrascht, als die ehrbare Frau aus der Mittelschicht, die in ihrem guten Mantel vor uns stand, sich plötzlich über den Tresen warf und Mr. Ranatunga an der Kehle packte, um ihn zu erwürgen.
Ihr Name war Celia Munroe, wohnhaft in Finchley, und sie war mit ihren Töchtern Georgina und Antonia sowie deren Freundinnen Jennifer und Alexandra ins West End gekommen, um ihnen mal eine Extrafreude zu machen. Der Ärger begann damit, dass Mrs. Munroe fünf Voyager-Film-Bons vorlegte, die zum verbilligten Bezug der Tickets berechtigten. Mr. Ranatunga wies darauf hin, dass die Gutscheine in diesem Kino nicht galten, Mrs. Munroe wollte wissen, warum, aber Mr. Ranatunga konnte ihr nicht erklären, warum, da sich das Management seiner Firma nicht die Mühe gemacht hatte, ihn über die Gutscheinaktion zu informieren. Mrs. Munroe brachte daraufhin ihre Unzufriedenheit zum Ausdruck, und zwar mit einer Gewalttätigkeit, die nicht nur Mr. Ranatunga, sondern auch Lesley und mich völlig überraschte – und, wie sie bei ihrer Vernehmung erklärte, auch Mrs. Munroe selbst.
Lesley und ich wollten gleich nach dem Beginn des Streits eingreifen, aber wir fanden nicht einmal die Zeit, zu fragen, worum es eigentlich ging, als Mrs. Munroe bereits angriff. Es passierte sehr schnell, und wie es oft bei völlig unerwarteten Ereignissen der Fall ist, brauchten auch wir ein paar Sekunden, bis uns klar wurde, was geschah. Glücklicherweise hatten wir schon genügend Straßenerfahrung, um nicht vor Schreck zu erstarren; wir packten Mrs. Munroe von beiden Seiten an den Schultern und versuchten sie von dem armen Mr. Ranatunga wegzureißen. Aber ihr Griff um seinen Hals war so fest, dass er quer über den Tresen mitgezerrt wurde. Inzwischen waren die Mädchen halb hysterisch, und anscheinend begann das älteste Kind, Antonia, von hinten auf mich einzuschlagen, was ich allerdings in diesem Moment gar nicht spürte. Mrs. Munroes Mund war zu einem wütenden Fletschen verzerrt, an Hals und Armen traten die Sehnen hervor. Mr. Ranatungas Gesicht lief jetzt dunkel an und seine Lippen wurden schon blau.
Lesley trieb ihren Daumen in den Druckpunkt an Mrs. Munroes Handgelenk. Die Frau ließ so plötzlich los, dass ich mit ihr rückwärts zu Boden stürzte. Sie landete auf mir und es gelang mir schließlich, ihr die Arme an den Leib zu pressen, aber erst, nachdem sie mir einen brutalen Ellbogenstoß in die Rippen versetzt hatte. Ich nutzte meine Vorteile – Gewicht und Stärke –, um sie von mir weg auf den nach Popcorn riechenden Teppichboden zu wälzen, wo sie mit dem Kopf nach unten zu liegen kam. Natürlich hatte ich keine Handschellen dabei, deshalb presste ich ihr die Hände auf dem Rücken zusammen und hielt sie fest. Rechtlich gesehen bleibt einem nicht viel anderes übrig, als einen Verdächtigen formell festzunehmen, wenn man ihn erst einmal angefasst hat. Ich betete ihr den hübschen Spruch von ihren Rechten vor, woraufhin sie einfach schlaff wurde. Lesley hatte sich inzwischen nicht nur um den verletzten Mr. Ranatunga gekümmert, sondern auch die Kinder eingesammelt und den Zwischenfall beim Revier in Charing Cross gemeldet.
»Wenn ich Sie loslasse«, sagte ich zu Mrs. Munroe, »sind Sie dann brav?«
Sie nickte stumm. Ich ließ sie los, und sie rollte sich auf den Rücken und setzte sich auf.
»Ich wollte doch nur ins Kino«, jammerte sie. »Als ich jung war, ging man einfach ins örtliche Odeon und kaufte eine Karte und legte das Geld dafür hin und dann kriegte man die Karte. Und wieso ist jetzt alles so kompliziert, und seit wann gibt’s denn diese beschissenen Nachos, und was verdammt ist überhaupt ein Nacho?« Eines der Mädchen kicherte verlegen.
Lesley kritzelte in ihr polizeiliches Notizbuch. Denn wie es so schön in der Rechtsbelehrung heißt: Alles, was man sagt, kann gegen einen verwendet werden – und dafür muss es natürlich irgendwo festgehalten sein.
»Ist der Junge verletzt?«, fragte mich Mrs. Munroe besorgt. »Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte. Ich wollte eigentlich nur mit jemandem reden, der wenigstens halbwegs Englisch beherrscht. Letzten Sommer war ich in Bayern in den Ferien und jeder konnte Englisch, und sogar ziemlich gut. Aber dann bring ich meine Kinder hier ins West End in London und alle sind Ausländer und ich versteh kein Wort von dem, was sie sagen.«
Ich vermutete, dass das irgendeinem Eierkopf in einem dieser akademischen Politikberatungsinstitute schon reichen würde, um den Vorfall zu einem rassistisch motivierten Verbrechen hochzustilisieren. Deshalb warf ich Lesley einen warnenden Blick zu; sie seufzte und hörte auf zu schreiben.
»Ich wollte doch einfach nur ins Kino«, jammerte Mrs. Munroe wieder.
Die Rettung erschien in Gestalt von Inspector Neblett, der uns nur mit einem unfreundlichen Blick bedachte und knurrte: »Kann man euch nicht mal eine Sekunde aus den Augen lassen?« Mir konnte er damit nichts vormachen – garantiert hatte er diesen Spruch die ganze Zeit auf der Herfahrt einstudiert.
Jedenfalls marschierten wir alle ins Revier, um die Verhaftung zum Abschluss zu bringen und den Papierkram zu erledigen. Das kostete mich drei Stunden meines Lebens, und die würde ich wahrscheinlich nicht so schnell zurückkriegen. Am Ende landeten wir, wie alle Polizisten auf Überstunden, in der Kantine, wo wir Tee tranken und Formulare ausfüllten.
»Wo ist die Case Progression Unit, wenn man sie braucht?«, seufzte Lesley.
»Siehst du, wir hätten doch Die sieben Samurai anschauen sollen«, sagte ich.
»Meinst du nicht auch, dass die ganze Sache irgendwie seltsam war?«, fragte sie.
»Wie, seltsam?«
»Na ja, Frau mittleren Alters knallt plötzlich durch und greift jemand im Kino an, vor den Augen ihrer Kinder. Bist du sicher, dass du nichts gespürt hast …?« Sie wedelte mit den Fingern.
»Hab nicht so darauf geachtet«, gab ich zu. Wenn ich daran zurückdachte, kam es mir so vor, als ob da etwas gewesen sein könnte, ein plötzliches Aufzucken von Brutalität und irrem Gelächter, aber die Erinnerung daran war so vage und flüchtig, dass sie ebenso gut reine Einbildung sein mochte.
Gegen neun kam Mr. Munroe mit einem Entlassungsgesuch und den Eltern der anderen Kinder, und eine Stunde später wurde Mrs. Munroe auf Kaution aus dem polizeilichen Gewahrsam entlassen. Beträchtlich früher, als Lesley und ich mit dem Papierkram fertig waren. Ich war so geschafft, dass ich sogar meine Pläne in Bezug auf Lesley vergaß, mich einfach verabschiedete und mich von einem Einsatzwagen zum Russell Square zurückbringen ließ.
Inzwischen besaß ich einen brandneuen Schlüssel für den Lieferanteneingang auf der Rückseite und musste mich daher nicht unter Sir Isaacs missbilligendem Blick ins Haus schleichen. Das Atrium war nur schwach beleuchtet, aber als ich die erste Treppe hinaufstieg, glaubte ich eine bleiche Gestalt unten vorbeigleiten zu sehen.
Es ist ein sicheres Anzeichen dafür, dass man wirklich nobel untergebracht ist, wenn das Frühstück in einem anderen Raum serviert wird als das Abendessen und nicht nur auf anderem Porzellan. Das Folly hatte tatsächlich ein eigenes »Frühstückszimmer«. Die Fenster gingen nach Südosten, so dass das trübe Januarlicht hereinfallen konnte und man Aussicht auf die Remise und die Stallungen hatte. Obwohl nur Nightingale und ich zum Frühstück erschienen, waren auch alle anderen Tische ordentlich mit frischen weißen Tischtüchern gedeckt, es war genug Platz da für fünfzig Leute. Das Frühstücksbüffet bestand aus einer Reihe von versilberten Platten mit Räucherfisch, Eiern, Speck, Blutwurst sowie einem Schellfischgericht mit Reis und Erbsen, das Nightingale als Kedgeree identifizierte. Er schien angesichts der schieren Menge von Nahrungsmitteln genau so befremdet wie ich.
»Ich glaube fast, Molly ist möglicherweise ein wenig zu enthusiastisch bezüglich des neuen Mitbewohners«, meinte er, während er sich eine Portion Kedgeree nahm. Ich nahm mir ein wenig von allem und Toby erhielt ein paar Würstchen, ein Stückchen Blutwurst und eine Schale Wasser.
»Unmöglich, dass wir beide das alles essen«, sagte ich. »Was macht sie mit den Resten?«
»Ich habe gelernt, bestimmte Fragen lieber nicht zu stellen«, antwortete Nightingale.
»Warum denn das?«
»Weil ich nicht sicher bin, ob ich die Antwort wissen will.«
Meine erste richtige Lektion in Magie fand in einem der Laboratorien statt, die im hinteren Teil des Hauses im Erdgeschoss lagen. Die anderen Laboratorien waren früher für Forschungsprojekte benutzt worden, aber dieses war ein Lehrsaal und glich ein wenig dem Chemieraum eines altertümlichen Gymnasiums. Hüfthohe Tische, auf denen in regelmäßigen Abständen Gashähne für Bunsenbrenner angebracht waren, sowie weiße Porzellanbecken, die in das polierte Holz eingelassen waren. An einer Wand hing sogar ein Periodensystem, auf dem allerdings sämtliche Elemente fehlten, die seit dem Zweiten Weltkrieg entdeckt worden waren.
»Zuerst füllen wir eines der Becken mit Wasser«, sagte Nightingale und drehte an dem Griff am unteren Ende eines langen Auslaufs, der die Form eines Schwanenhalses hatte. Ein fernes Klopfgeräusch war zu hören, der schwarze Schwanenhals zitterte, dann spuckte er widerwillig einen Schwall braunes Wasser aus.
Wir traten schnell einen Schritt zurück.
»Seit wann ist der Raum nicht mehr benutzt worden?«, fragte ich.
Das Klopfen wurde lauter und schneller und schließlich floss das Wasser gleichmäßig aus dem Hahn, schmutzigbraun zuerst, dann wurde es immer klarer. Das Klopfen erstarb allmählich. Als völlig klares Wasser kam, drückte Nightingale den Stöpsel in den Abfluss und ließ das Becken dreiviertel voll laufen.
»Wenn man diesen Zauberspruch versucht«, sagte er, »sollte man immer ein Becken voll Wasser in der Nähe haben. Reine Vorsichtsmaßnahme.«
»Machen wir ein Feuer?«
»Nur, wenn Sie etwas falsch machen. Ich führe Ihnen den Spruch vor; Sie müssen aber genau aufpassen – so wie bei den Vestigia bei der Leiche. Verstanden?«
»Vestigia«, nickte ich. »Kapiert.«
Nightingale hielt die rechte Hand in die Höhe, die Handfläche nach oben, und ballte sie zur Faust. »Beobachten Sie meine Hand genau.« Er öffnete die Faust. Und plötzlich erschien, nur wenige Zentimeter über seiner Handfläche, ein Lichtball. Hell, aber nicht blendend hell, so dass ich ihn direkt anschauen konnte.
Nightingale schloss die Hand wieder und der Lichtball verschwand. »Noch mal?«, fragte er.
Ich denke, bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich immer noch auf eine rationale Erklärung gehofft. Aber als ich jetzt sah, wie leicht es Nightingale fiel, dieses Zauberlicht hervorzubringen, wurde mir klar, wie die rationale Erklärung lautete: Magie gab es wirklich. Die nächste logische Frage war natürlich: Wie funktionierte sie?
»Noch mal«, nickte ich.
Er öffnete die Hand und das leuchtende Gebilde erschien erneut. Die Lichtquelle schien ungefähr die Größe eines Golfballs zu haben; die Oberfläche schimmerte wie Perlmutt. Ich beugte mich vor, konnte aber nicht ausmachen, ob das Licht aus dem Inneren der Kugel kam oder von der Oberfläche.
Nightingale schloss die Faust. »Seien Sie vorsichtig«, warnte er. »Ihr Augenlicht könnte Schaden nehmen.«
Ich blinzelte und sah rote Flecken. Er hatte recht; ich hatte mich von der Weichheit des Lichts täuschen lassen und zu lange hineingeschaut. Ich spritzte mir ein wenig Wasser in die Augen.
»Bereit für einen neuen Versuch?«, fragte Nightingale. »Versuchen Sie, sich auf die Empfindung zu konzentrieren, genau wie ich – Sie sollten etwas fühlen können.«
»Etwas?«
»Magie ist wie Musik. Jeder hört sie anders. Wir haben zwar einen technischen Begriff dafür, nämlich Forma, aber das Wort sagt Ihnen bestimmt nicht mehr als ›etwas‹, nicht wahr?«
»Darf ich die Augen dabei schließen?«, fragte ich.
»Unbedingt.«
Und ich fühlte tatsächlich »etwas«, wie eine kurze Ahnung im Augenblick der Schöpfung. Wir wiederholten die Übung, bis ich sicher war, dass ich mir das »Etwas« nicht nur einbildete. Nightingale wollte wissen, ob ich noch irgendwelche Fragen hätte. Ich fragte ihn, wie man den Zauber nannte.
»Gemeinhin ist er unter dem Namen Werlicht bekannt.«
»Können Sie ihn auch unter Wasser ausführen?«
Nightingale schob seine Faust in das Wasserbecken. Trotz des unbequemen Winkels brachte er ohne erkennbare Schwierigkeiten ein Werlicht zustande.
»Also hat es nichts mit Oxidation zu tun«, murmelte ich.
»Konzentration«, befahl Nightingale. »Zuerst die Magie, dann die Wissenschaft.«
Ich versuchte mich zu konzentrieren, aber worauf?
»Ich werde Sie jetzt auffordern«, sagte er, »die Faust genauso zu öffnen, wie ich es getan habe. Im selben Augenblick müssen Sie sich das in Gestalt vorstellen, was Sie spürten, als ich das Werlicht erzeugte. Denken Sie einfach, Sie müssten nach dem Schlüssel zu einer Tür suchen. Haben Sie verstanden?«
»Hand«, sagte ich gehorsam, »Gestalt, Schlüssel, Schloss, Tür.«
»Genau. Und nun fangen Sie an.«
Ich holte tief Luft, streckte den Arm aus und öffnete die Faust – nichts geschah. Nightingale lachte nicht, aber es wäre mir lieber gewesen, er hätte gelacht. Ich atmete tief durch, versuchte mir die »Gestalt« vorzustellen, was immer das heißen mochte, und öffnete wieder die Hand.
»Ich zeige es Ihnen noch mal«, sagte Nightingale. »Und Sie machen es nach.«
Er erzeugte das Werlicht, ich versuchte die Gestalt der Forma zu erspüren und das Werlicht nachzuahmen. Den Lichtball brachte ich zwar nicht zustande, aber dieses Mal glaubte ich ein schwaches Echo der Forma zu fühlen, es war so ähnlich wie ein Fetzen Musik aus einem schnell vorbeifahrenden Auto.
Wir wiederholten die Sache viele Male, bis ich die Gestalt der Forma zu erahnen begann, obwohl ich die Gestalt in meiner Vorstellung nicht selbst erzeugen konnte. Der Vorgang musste Nightingale vertraut sein, denn er wusste immer genau, in welchem Stadium ich mich befand.
»Üben Sie zwei Stunden lang weiter«, sagte er schließlich, »sagen wir, bis zum Mittagessen, und danach noch mal für zwei Stunden. Den Rest des Tages haben Sie frei.«
»Ist das alles?«, wollte ich wissen. »Muss ich denn keine alten Sprachen lernen oder die Theorie der Magie?«
»Das ist nur der erste Schritt. Wenn Sie das hier nicht meistern, ist alles andere nicht mehr wichtig.«
»Also ist es eine Art Aufnahmeprüfung?«
»Im Grunde ist jede Lehre eine einzige lange Aufnahmeprüfung«, antwortete er. »Haben Sie den ersten Schritt erst einmal gemeistert, verspreche ich Ihnen, dass Sie jede Menge Stoff zu lernen bekommen. Latein natürlich, ferner Griechisch, Arabisch, technisches Deutsch. Ganz zu schweigen davon, dass Sie die Laufarbeit für alle meine Ermittlungen übernehmen werden.«
»Wie schön. Das sind genau die Anreize, die ich brauche.«
Nightingale lachte und ließ mich allein weiterüben.