Der Mann war mittleren Alters; er trug einen Anzug von guter Qualität, aber unauffälligem Schnitt. Er hielt etwas in der rechten Hand, das wie eine halbautomatische Pistole aussah, und einen Opernführer in der linken. Am Revers prangte eine weiße Nelke.
Nightingale fiel sofort, zuerst auf die Knie, dann kippte er nach vorn aufs Gesicht. Der Stock fiel ihm aus der Hand und klapperte über die Steinplatten.
Der Mann im Anzug schaute mich an. Im Licht der Natriumdampflampen der Straßenbeleuchtung wirkten seine Augen blass und farblos. Er zwinkerte mir zu. »So macht man das«, sagte er.
Man kann einem Mann mit Pistole davonlaufen, vor allem in derart trüben Lichtverhältnissen, solange man daran denkt, im Zickzack und so schnell wie möglich zu laufen. Ich will nicht sagen, dass mir diese Option nicht verlockend erschien, aber wenn ich davonlief, hätte niemand den Mann daran hindern können, noch einen Schritt näher zu treten und Nightingale eine Kugel in den Kopf zu jagen. Für solche Situationen sah meine Ausbildung vor, dass ich langsam zurückwich und dabei beruhigend auf den Revolverhelden einredete: Reden schafft Vertrauen und konzentriert die Aufmerksamkeit des Übeltäters auf den Polizisten, so dass sich die Zivilisten absetzen können. Haben Sie mal Die blaue Lampe mit Jack Warner und Dirk Bogarde gesehen? Während meiner Ausbildung in Hendon wurde uns eine Szene aus dem Film gezeigt, in der PC Dixon, dargestellt von Warner, erschossen wird. Das Drehbuch war von einem Expolizisten geschrieben worden, der offenbar genau wusste, wovon er redete, denn Dixon stirbt nur deshalb, weil er ein Dinosaurier ist, der blöderweise direkt auf einen bewaffneten Verdächtigen zuläuft. Unsere Ausbilder machten uns absolut klar: nicht auf den Bewaffneten zugehen, nicht drohen, sondern weiterreden und langsam zurückweichen. Ein Verdächtiger, der glaubt, dass sich seine Lage durch den Mord an einem Polizisten in irgendeiner Weise verbessern ließe, muss schon einzigartig dumm oder politisch motiviert sein oder sich, was auch schon vorgekommen ist, durch diplomatische Immunität absolut sicher fühlen. Jedenfalls kann es auf diese Weise gelingen, ein bisschen Zeit zu schinden, bis eine bewaffnete Eingreiftruppe auftaucht und dem Blödmann das Hirn wegpustet.
Ich glaubte nicht, dass mir die Rückzugsoption etwas bringen würde – ganz offensichtlich handelte es sich hier um eine von Henry Pykes sequestrierten Puppen; der Typ würde also keine Sekunde zögern, mich oder Nightingale zu erschießen, egal wie ruhig ich auf ihn einredete.
Aber um ganz ehrlich zu sein: In diesem Augenblick dachte ich überhaupt nichts, sondern in meinem Hirn lief nur eine einzige logische Sequenz ab: Nightingale am Boden – Pistole – Zauberspruch!
»Impello!«, sagte ich so ruhig wie möglich und ließ den linken Fuß des Mannes einen Meter hochsteigen. Er schrie, als sein Körper nach oben gerissen und dann nach rechts gekippt wurde. Vermutlich verlor ich dabei ein wenig von meiner Konzentration, denn ich hörte ein deutliches Knacken – in seinem Fuß zerbrach ein Knochen. Die Pistole fiel ihm aus der Hand, und er ruderte wild mit den Armen, als er auf den Boden zurückstürzte. Ich trat näher, kickte die Pistole über die Straße weg und versetzte ihm einen Tritt gegen den Kopf, ziemlich hart, um ganz sicherzugehen.
Eigentlich hätte ich ihm gleich Handschellen anlegen sollen, aber hinter mir lag Nightingale auf der Straße und sein Keuchen deutete auf akute Atemnot hin, ich vermutete einen Lungendurchschuss. Zehn Zentimeter unter der Schulter war ein Einschussloch zu erkennen, aber als ich ihn sanft auf die Seite drehte, sah ich zu meiner Erleichterung keine Austrittswunde. Meine Erste-Hilfe-Ausbildung in Bezug auf Brustschussverletzungen war absolut eindeutig – jede Sekunde, die man herummurkst, ist eine weitere Sekunde, die der Notarzt später kommt.
Ich wusste, dass unser Eingreifteam den Schuss nicht gehört haben konnte, sonst wäre es längst da gewesen, und ich hatte mein Airwave zerstört, als ich den Zauberspruch gegen den Revolverhelden anwandte. Dann fiel mir die Trillerpfeife in der Brusttasche meiner Uniformjacke ein. Ich fummelte sie heraus, steckte sie zwischen die Lippen und blies hinein, so stark ich konnte.
Eine Polizeipfeife in der Bow Street. Einen Augenblick lang spürte ich eine Verbindung, wie ein Vestigium, mit der Nacht, den Straßen, dem schrillen Pfeifton, dem Geruch von Blut und meiner eigenen Angst, mit all den anderen uniformierten Polizisten Londons über alle Zeiten hinweg, die sich fragten, warum zum Teufel ausgerechnet sie so spät hier draußen noch Dienst tun mussten. Oder vielleicht war es auch nur eine kleine Panikattacke, das kann man wirklich leicht durcheinanderbringen.
Nightingales Atem wurde unregelmäßig und schwächer.
»Weiteratmen«, sagte ich. »Das ist eine Gewohnheit, die man nicht ohne Weiteres aufgeben sollte.«
Dann hörte ich Sirenen näher kommen – es war ein wunderschöner Klang.
Das Problem mit dem Kameradennetzwerk besteht darin, dass du nie ganz sicher sein kannst, ob es gerade aktiv ist und ob es in deinem Interesse funktioniert oder im Interesse eines anderen Kameraden. Ich jedenfalls begann zu vermuten, dass es nicht in meinem Interesse funktionierte, als sie mir eine Tasse Kaffee und zwei Kekse in den Vernehmungsraum brachten. Polizeikameraden, die in einer wohlwollenden Atmosphäre vernommen werden, können sich nämlich ihren Kaffee gefälligst selbst in der Kantine holen. Zimmerservice kriegt man nur, wenn man unter Verdacht steht. Und wir waren in meinem alten Revier Charing Cross, es war also nicht so, als wäre mir der Weg zur Kantine nicht wohlbekannt.
Inspector Nightingale war noch am Leben, so viel immerhin sagten sie mir, bevor sie mir den Stuhl auf der falschen Seite des Vernehmungstisches zuwiesen. Man hatte ihn in das brandneue Traumazentrum der Uniklinik gebracht; sein Zustand wurde als »stabil« bezeichnet, ein Ausdruck, hinter dem sich alles Mögliche verbergen konnte.
Ich blickte auf die Uhr: halb vier am Morgen. Weniger als vier Stunden waren vergangen, seit Nightingale angeschossen worden war. Wenn man eine Weile in einer großen Institution gearbeitet hat, bekommt man ein Gefühl für ihren bürokratischen Gezeitenwechsel. Ich spürte förmlich, dass die Flut eingesetzt hatte und dass gewissermaßen ein Hammer dabei war, auf mich herabzuschwingen. Da ich erst seit zwei Jahren Polizist war und trotzdem schon spüren konnte, dass ein Hammer auf mich herabschwang, musste es ein sehr großer Hammer sein. Ich hatte eine ziemlich genaue Vorstellung, wer ihn in Bewegung gesetzt hatte, konnte aber momentan nichts anderes tun, als auf der falschen Seite des Vernehmungstisches sitzen zu bleiben, in Gesellschaft einer Tasse schlechten Kaffees und zweier Schokoladekekse.
Manchmal ist es besser, einfach nur stillzuhalten und den ersten Schlag wegzustecken. Auf diese Weise erkennt man wenigstens, was der andere gegen dich in der Hand hat, und er legt dabei seine Absichten offen. Wenn du auf solche Dinge Wert legst, kannst du dich gleich entschieden auf der richtigen Seite positionieren, nämlich der von Gesetz und Ordnung. Und wenn der Schlag so heftig ist, dass er dich zu Boden schickt? Nun, das Risiko musst du eben eingehen.
Der stumpfe Gegenstand, den sie sich ausgesucht hatten, überraschte mich dann doch, obwohl ich mich bemühte, ein neutrales Gesicht zu machen. Detective Chief Inspector Seawoll und Detective Sergeant Stephanopoulos traten ein und setzten sich mir gegenüber an den Tisch. Stephanopoulos klatschte eine Akte vor sich auf den Tisch. Sie war viel zu dick, als dass sie in den letzten paar Stunden entstanden sein konnte, also hatten sie die Akte wohl mit leerem Papier ein bisschen aufgepolstert. Stephanopoulos lächelte mich schmallippig an, während sie die Zellophanhüllen von den Audiokassetten riss und die Kassetten in den Rekorder schob. Eine der beiden Kassetten war für mich und meinen Rechtsanwalt bestimmt, damit nicht aus dem Kontext gerissene Aussagen gegen mich verwendet werden konnten, und die andere war für die Polizei, damit sie beweisen konnte, dass sie mich nicht mit einer mit Stahlkugeln gefüllten Socke auf Rücken, Schenkel und Hintern hatten schlagen müssen, um mich zu einem Schuldbekenntnis zu überreden. Beide Tonbänder waren eigentlich völlig überflüssig, denn dort, wo ich saß, befand ich mich genau im Fokus der Überwachungskamera über der Tür. Die Unterhaltung wurde live in den Beobachtungsraum weiter vorn im Korridor übertragen, und nach dem theatralischen Eintreten von Seawoll und Stephanopoulos zu urteilen, beobachtete dort irgendein höheres Tier die Vernehmung – mindestens ein Deputy Assistant Commissioner, vermutete ich.
Das Aufnahmegerät wurde angeschaltet und Seawoll erklärte, dass ich, er selbst und Stephanopoulos anwesend seien. Er wies mich darauf hin, dass ich nicht unter Arrest stand, sondern lediglich der Polizei bei ihren Ermittlungen half. Theoretisch konnte ich also aufstehen und gehen, wann immer ich wollte, sofern ich Lust verspürte, mich umgehend von meiner Polizeikarriere zu verabschieden. Glauben Sie bloß nicht, der Gedanke sei mir nicht gekommen.
Seawoll bat mich, für das Protokoll noch einmal die Art der Operation zu erläutern, die Nightingale und ich durchführten, als er niedergeschossen wurde.
»Das wollen Sie wirklich im Protokoll haben?«, fragte ich.
Seawoll nickte, also erstattete ich vollumfänglich Bericht und erläuterte unsere Theorie, dass Henry Pyke ein Wiedergänger sei, ein Vampir-Geist mit Rachegelüsten, der die traditionelle Geschichte von Punch und Judy nachspielte, dabei aber reale Menschen als Puppen benutzte, und dass wir uns einen Weg überlegt hatten, wie wir selbst die Geschichte infiltrieren konnten, damit Nightingale Henry Pykes’ Knochen aufspüren und zermahlen konnte. Stephanopoulos konnte ein gequältes Aufstöhnen nicht unterdrücken, als ich über die magischen Aspekte des Falles berichtete; Seawolls Miene blieb undurchdringlich. Als wir zu der Schießerei kamen, fragte er mich, ob ich den Schützen erkannt hätte.
»Nein«, antwortete ich. »Wer war er?«
»Er heißt Christopher Pinkman«, sagte Seawoll. »Und er bestreitet, auf irgendjemanden geschossen zu haben. Behauptet, er habe sich auf dem Heimweg von der Oper befunden, als ihn auf der Straße zwei Männer angriffen.«
»Wie erklärt er dann, dass er eine Pistole hatte?«, fragte ich.
»Er behauptet, er habe keine Pistole gehabt. Er sagt aus, er könne sich nur daran erinnern, aus der Oper gekommen zu sein, und als Nächstes erinnert er sich, dass er von Ihnen gegen den Kopf getreten wurde.«
»Und an den extremen Schmerz in seinem gebrochenen Fußknöchel«, ergänzte Stephanopoulos. »Außerdem erlitt er ernsthafte Prellungen und Blutergüsse, als er auf die Straße geschleudert wurde.«
»Wurde er schon auf Schmauchspuren untersucht?«, fragte ich.
»Er ist Chemielehrer an der Westminster School«, sagte Stephanopoulos.
»Scheiße«, sagte ich. Der Schmauchspur-Test war berüchtigt für seine Unzuverlässigkeit, und wenn der Verdächtige auch noch beruflich häufig mit Chemikalien hantierte, würde kein forensischer Gutachter der Welt vor Gericht bezeugen, dass es wahrscheinlich oder gar gesichert sei, dass er eine Waffe abgefeuert hatte. In meinem Hirn nahm ein furchtbarer Gedanke Gestalt an.
»Aber Sie haben doch die Waffe gefunden – oder?«, fragte ich.
»Am Tatort wurde keine Waffe sichergestellt«, sagte Stephanopoulos.
»Ich habe sie über das Straßenpflaster gekickt.«
»Es wurde keine Waffe sichergestellt«, wiederholte Stephanopoulos sehr langsam.
»Ich hab sie doch gesehen!«, sagte ich. »Eine halbautomatische Pistole.«
»Es wurde nichts gefunden.«
»Und womit wurde dann Nightingale niedergeschossen?«
»Das«, sagte Seawoll, »hofften wir von Ihnen zu erfahren.«
»Wollen Sie damit sagen, ich hätte auf ihn geschossen?«
»Haben Sie?«, fragte Stephanopoulos.
Mein Mund war plötzlich sehr trocken. »Nein«, sagte ich heiser. »Habe ich nicht, und wenn keine Waffe gefunden wurde, womit hätte ich dann auf ihn schießen sollen?«
»Angeblich können Sie Dinge durch Ihre Gedanken bewegen«, sagte Stephanopoulos.
»Nicht durch meine Gedanken.«
»Womit denn dann?«
»Durch Magie.«
»Okay, dann eben durch Magie«, sagte Stephanopoulos.
»Wie schnell können Sie etwas bewegen?«, fragte Seawoll.
»Nicht so schnell wie eine Kugel.«
»Ach«, sagte Stephanopoulos. »Wie schnell wäre das denn?«
»Dreihundertfünfzig Meter in der Sekunde«, sagte ich. »Aus einer modernen Pistole. Schneller aus einem Gewehr.«
»Wie viel ist das in guter alter britischer Maßeinheit?«, wollte Seawoll wissen.
»Weiß ich nicht«, antwortete ich. »Wenn Sie mir einen Taschenrechner leihen, kann ich es ausrechnen.«
»Wir möchten Ihnen ja gern glauben«, sagte Stephanopoulos, offenbar in der Rolle des »netten Bullen« – die unglaubwürdigste Rollenbesetzung in der Geschichte des Polizeiwesens. Ich zwang mich, tief durchzuatmen. Ich hatte zwar keine Fortgeschrittenenkurse in Verhörtechniken belegt, aber ich kannte die Grundlagen und wusste daher, dass sie diese Vernehmung viel zu schlampig führten. Ich blickte zu Seawoll, und er sah mich mit diesem »Endlich-merkt-er-was«-Blick an, den Lehrer, vorgesetzte Polizeibeamte und Mütter der oberen Mittelschicht so gut draufhaben.
»Was genau möchten Sie glauben?«, fragte ich.
»Dass es wirklich Magie gibt«, sagte Seawoll und schenkte mir ein wissendes Lächeln. »Können Sie uns vielleicht ein bisschen was vorführen?«
»Das wäre keine gute Idee«, sagte ich. »Es könnte gewisse Nebenwirkungen geben.«
»Klingt mir nach billiger Ausrede«, meinte Stephanopoulos. »Welche Art von Nebenwirkungen?«
»Wahrscheinlich würde es Ihre Handys, Palms, Laptops und andere elektronische Geräte im Raum zerstören.«
»Was ist mit dem Kassettengerät?«
»Das auch.«
»Und die Überwachungskamera?«
»Wie das Kassettengerät«, sagte ich. »Sie können Ihre Telefone schützen, indem Sie die Akkus herausnehmen.«
»Ich glaube Ihnen kein Wort«, sagte Stephanopoulos und beugte sich aggressiv über den Tisch, wobei sie geschickt vor der Kamera hinter ihr verbarg, dass sie gleichzeitig den Akku aus ihrem erstaunlich damenhaft-zierlichen Nokia-Handy nahm.
»Ich denke, wir wollen eine Demonstration sehen«, sagte Seawoll.
»Wie umfangreich?«, fragte ich.
»Zeigen Sie uns, wozu Sie fähig sind, mein Junge«, antwortete Seawoll.
Ich hatte einen langen Tag hinter mir und war ziemlich erledigt, daher konzentrierte ich mich auf die einzige Forma, die ich auch in einer Krisensituation zuverlässig zustande brachte – ich produzierte ein Werlicht. Unter der hellen Beleuchtung der Neonröhre wirkte es blass und schmächtig. Seawoll war nicht beeindruckt, aber Stephanopoulos’ breites Gesicht verzog sich zu einem so strahlenden Lächeln unverhohlener Freude, dass ich sie einen Moment lang als kleines Mädchen in einem mit Plüschponys vollgestopften rosa Kinderzimmer sah. »Es ist wunderschön«, hauchte sie.
Eine Tonbandkassette hatte sich im Gerät völlig verwickelt und ein heilloses Durcheinander angerichtet, die andere hatte schlicht den Geist aufgegeben. Durch meine Experimente wusste ich, dass ich die Intensität des Werlichts um einiges steigern musste, um die Kamera auszuschalten. Ich konzentrierte mich darauf, das Werlicht noch ein wenig heller zu machen, als die »Gestalt« in meinem Kopf aus dem Ruder lief und ich plötzlich eine Lichtsäule erzeugte, die bis zur Decke hochzuckte. Sie war leuchtend blau und klar abgegrenzt wie ein Laserstrahl. Als ich meine Hand bewegte, zuckte der Lichtstrahl über die Wände – gewissermaßen mein ganz persönlicher Suchscheinwerfer.
»Ich hatte eigentlich etwas Subtileres erwartet«, sagte Seawoll.
Ich ließ die Lichtsäule verschwinden und versuchte mich an die »Gestalt« zu erinnern, aber es war wie der Versuch, sich an einen Traum zu erinnern, der einem entschlüpft, bevor man ihn richtig fassen kann. Ich wusste, ich würde viel Zeit im Labor verbringen müssen, um die Form wieder einzufangen, aber wie Nightingale gleich zu Beginn gesagt hatte – zu wissen, dass die Forma irgendwo existiert, ist schon die halbe Miete.
»Hat das gereicht für die verdammte Kamera?«, fragte Seawoll, und als ich nickte, seufzte er erleichtert auf. »Wir haben knapp eine halbe Minute«, fuhr er fort. »Ich hab noch nie so viel Scheiße heranrollen sehen seit damals, als de Menezes erschossen wurde, also, mein Junge, ich kann dir nur raten, dir möglichst schnell ein Loch zu suchen, in das du dich verkriechen kannst, und dort drinzubleiben, bis diese ganze Scheiße vorbei und tief und fest und auf ewig begraben ist.«
»Und was ist mit Lesley?«, fragte ich.
»Darüber brauchst du dir keinen Kopf zu machen. Für Lesley bin ich zuständig.«
Was bedeutete, dass Seawoll sich als Lesleys Beschützer in Szene setzte – wer an sie herankommen wollte, musste erst mal über ihn gehen. Da mein eigener Boss derzeit in einem Bett im University College Hospital lag und durch Schläuche beatmet wurde, schien es eher unwahrscheinlich, dass Nightingale in ähnlicher Weise als mein Beschützer auftreten würde. Ich rede mir gern ein, dass Seawoll seinen Schutz auch auf mich ausgedehnt hätte, wenn ihm das möglich gewesen wäre, aber da bin ich mir keineswegs sicher. Immerhin sagte er nicht, dass ich auf mich selbst aufpassen müsse – das war ohnehin klar.
»Was zum Henker machen wir jetzt?«, fragte Seawoll.
»Das fragen Sie mich?«
»Verdammt, den Tisch frag ich nicht!«, bellte Seawoll.
Ich zuckte die Schultern. »Weiß ich nicht. Sir. Es gibt vieles, was ich nicht weiß.«
»Dann sollten Sie schleunigst anfangen, sich weiterzubilden, Constable«, sagte Seawoll. »Ich weiß nicht, wie Sie das sehen, aber ich persönlich glaube nicht, dass dieser Mr. Henry Pyke jetzt mit dem Morden aufhören wird – oder glauben Sie das etwa?«
Ich schüttelte stumm den Kopf.
Stephanopoulos grunzte und tippte auf ihre Armbanduhr.
»Ich lasse Sie laufen«, sagte Seawoll. »Weil wir diesem ganzen verdammten Geisterscheiß ein Ende machen müssen, bevor irgendein Obermufti in der Met noch auf die Idee kommt, den Erzbischof von Canterbury hinzuzuziehen.«
»Ich werde mein Bestes tun«, erklärte ich.
Seawoll bedachte mich mit einem Blick, der klar besagte, dass mein Bestes verdammt noch mal das Mindeste war. »Wenn wir wieder anfangen«, sagte er, »will ich sicher sein, dass Ihr Hirn eingeschaltet ist, bevor Sie Ihren Mund in Bewegung setzen. So wie nach der Sache in Hampstead – alles klar?«
»Kristallklar«, versicherte ich ihm.
Die Tür flog krachend auf und ein Mann steckte den Kopf herein. Er war mittleren Alters, hatte grau meliertes Haar, breite Schultern und außerordentlich buschige Augenbrauen. Selbst wenn ich ihn nicht von seinem Webprofil erkannt hätte, wäre mir klar gewesen, dass Deputy Assistant Commissioner Richard Folsom eines der ganz großen Tiere im Dschungel war. Er krümmte den Zeigefinger in Seawolls Richtung und sagte: »Alex, auf ein Wort, bitte.«
Seawoll blickte das zerstörte Kassettengerät an, sagte: »Vernehmung unterbrochen«, und nannte die Uhrzeit. Dann stand er auf und folgte Folsom gehorsam wie ein braver Untergebener aus dem Raum. Stephanopoulos unternahm den halbherzigen Versuch, mir einen ihrer bösen Blicke zu widmen, aber ich fragte mich, ob sie noch immer ihre Sammlung von Plüschponys besaß.
Kurz darauf kehrte Seawoll zurück und erklärte uns, dass wir die Vernehmung in einem anderen Raum mit funktionierender Überwachungstechnik fortsetzen würden. Woselbst wir dann auch die altehrwürdige Tradition fortsetzten, unverschämt nach Strich und Faden zu lügen, dabei aber nichts als die Wahrheit zu sagen. Aufgrund der Aussage eines selbstverständlich gänzlich durchschnittlichen Informanten mussten Nightingale und ich davon ausgehen, dass die sinnlosen Angriffe in und um das Londoner West End nicht von einer Einzelperson durchgeführt worden waren, sondern dass es sich um eine Bande handelte und dass wir diese möglicherweise in der Bow Street aufspüren konnten. Bei unseren Ermittlungen dort waren wir dann von Unbekannten angegriffen worden.
»Deputy Assistant Commissioner Folsom ist besonders besorgt wegen einer möglichen Gefährdung des Royal Opera House«, sagte Seawoll. Offenbar hatte Folsom kurz nach seiner Beförderung in den Rang eines Commander nähere Bekanntschaft mit Verdi geschlossen und war zum Opernfreund geworden. Unter Polizisten eines gewissen Ranges und Alters sind plötzliche Anfälle von kulturellem Snobismus keine Seltenheit, es ist eigentlich eine normale Midlife-Crisis, nur aufgepeppt mit jeder Menge Kronleuchter und fremden Sprachen.
»Wir glauben zwar, dass der Fokus der Aktivitäten in der Bow Street liegt«, erklärte ich. »Aber bisher haben unsere Ermittlungen keine Anhaltspunkte für eine greifbare Verbindung zur Oper erbracht.«
Um sechs Uhr hatten wir uns auf eine Darstellung der Ereignisse geeinigt, die Seawoll Folsom verkaufen konnte, und ich schlief fast in meinem Stuhl ein. Ich erwartete, suspendiert oder doch jedenfalls darauf hingewiesen zu werden, dass mir irgendein Disziplinarverfahren oder eine interne Ermittlung bevorstehe, aber gegen sieben Uhr morgens ließen sie mich ohne irgendetwas dergleichen endlich laufen.
Seawolls Angebot, mich im Auto mitzunehmen, lehnte ich ab und ging stattdessen zu Fuß, etwas zittrig vor Anspannung und Schlafmangel, die St. Martin’s Lane entlang. Im Laufe der Nacht war das Wetter umgeschlagen. Ein kalter Wind blies über den schmutzigblauen Himmel. An Samstagen setzt der Hauptverkehr später ein; die Straßen lagen daher noch in der Stille des frühen Morgens, als ich die New Oxford Street überquerte und mich dem Folly näherte. Ich rechnete mit dem Schlimmsten und wurde nicht enttäuscht. Auf der Straßenseite gegenüber war zumindest ein ziviles Polizeifahrzeug geparkt. Ich konnte niemanden im Auto sehen, aber ich winkte trotzdem freundlich.
Ich betrat das Haus durch die Vordertür, weil es besser ist, den Ereignissen direkt ins Auge zu blicken, außerdem war ich zu geschafft, um den Weg um das Haus herum durch den Garten zum Hintereingang zu nehmen. Ich hatte Polizisten erwartet; zu tun bekam ich es mit ein paar Soldaten in voller Kampfmontur und Gewehren. Sie trugen Tarnkleidung und weinrote Baretts mit dem Abzeichen eines Fallschirmjägerregiments. Zwei traten mir an der Garderobe in den Weg, zwei weitere standen verborgen zu beiden Seiten der Haustür, bereit, jeden von den Flanken her auszuschalten, der blöd genug war, zwei voll bewaffnete Paras anzugreifen. Offenbar sorgte sich jemand ernsthaft um die physische Sicherheit des Folly.
Sie hoben zwar nicht die Gewehre, um mir den Weg zu versperren, aber sie begegneten mir mit jener Art bedrohlicher Nonchalance, die das Leben in den Straßen von Belfast in der Zeit vor dem Friedensabkommen sehr abwechslungsreich gemacht haben musste. Einer nickte in Richtung der Nische, in der in den besseren Tagen des Folly der Türsteher gewartet hatte, bis er gebraucht wurde. Die Nische war jetzt von einem weiteren Fallschirmjäger besetzt, der die Abzeichen eines Sergeant auf der Schulter und einen Becher Tee in der einen Hand und eine Ausgabe der Daily Mail in der anderen hatte. Ihn kannte ich bereits, es war Frank Caffrey, Nightingales Verbindungsmann zur Feuerwehr. Frank nickte mir freundlich zu und winkte mich zu sich. Ich schaute mir die Streifen auf Franks Schulter genauer an: Das hier war das 4. Bataillon des Fallschirmjägerregiments, das, wie ich wusste, zur Territorial Army gehörte. Frank musste wohl Reservist dort sein, was zumindest erklären würde, wie er sich die Phosphorgranaten hatte beschaffen können. Ich vermutete, dass auch der Auftritt hier zum Kameradennetzwerk gehörte. Zumindest konnte ich ziemlich sicher sein, dass Frank einer von Nightingales Jungs war. Außer ihm sah ich keine Offiziere. Wahrscheinlich saßen sie in ihrer Kaserne und drückten fest beide Augen zu, während die Unteroffiziere die Angelegenheit regelten.
»Ich darf Sie nicht reinlassen«, erklärte Frank. »Nicht solange es Ihrem Boss nicht besser geht oder ein offizieller Vertreter benannt wurde.«
»Auf wessen Befehl?«, fragte ich.
»Ach, das gehört alles zur Abmachung«, sagte Frank. »Nightingale und das Regiment haben schon lange miteinander zu tun, man könnte sagen, es gibt da ein paar alte Schulden.«
»Ettersberg?«, riet ich.
»Manche Schulden kann man niemals zurückzahlen«, sagte Frank. »Und manche Jobs müssen einfach gemacht werden.«
»Ich muss rein. Ich muss unbedingt etwas in der Bibliothek nachschlagen.«
»Tut mir leid, mein Junge. Die Abmachung ist eindeutig, kein nicht genehmigter Zugang durch den Hauptperimeter hindurch.«
»Hauptperimeter?«, wiederholte ich. Frank wollte mir mit diesem Wort offenbar etwas sagen, aber der Schlafentzug machte mich verflixt begriffsstutzig. Er musste es tatsächlich wiederholen, bevor ich kapierte, was er damit andeutete: Die Garage befand sich außerhalb des Sperrrings.
Also trat ich wieder ins blasse Sonnenlicht hinaus und ging zur Garage hinüber. Dort stand ein verbeulter Renault Espace mit so offensichtlich falschen Nummernschildern, dass er nur einem der Fallschirmjäger gehören konnte. Ich überprüfte kurz, dass der Jaguar abgeschlossen war, zog eine Abdeckplane unter einem Arbeitstisch hervor und deckte den Oldtimer ab. Schließlich stieg ich müde die Treppe zum Obergeschoss der Remise hinauf – nur um entdecken zu müssen, dass mir Tyburn zuvorgekommen war.
Sie wühlte gerade durch die Kisten und Truhen und den ganzen alten Krempel, den ich am hinteren Ende aufgetürmt hatte. Das Bild von Molly und das Porträt des Mannes, den ich für Nightingales Vater hielt, lehnten an der Wand. Ich schaute zu, als sie sich hinkniete und unter das Sofa griff, um eine weitere Truhe hervorzuziehen.
»So was nannte man früher einen Schiffskoffer«, sagte sie, ohne sich umzudrehen. »Er hat die richtige Höhe, dass man ihn unter das Bett schieben kann. So konnte man die Sachen, die man für unterwegs brauchte, separat packen.«
»Sie meinen, der Diener konnte das tun«, sagte ich. »Oder die Zofe.«
Tyburn nahm vorsichtig ein gefaltetes Leinenjackett aus dem Schiffskoffer und legte es auf das Sofa. »Die meisten Leute hatten keine Diener«, sagte sie. »Sie mussten so zurechtkommen.« Dann fand sie, wonach sie gesucht hatte, und stand auf. Sie trug einen eleganten schwarzen italienischen Hosenanzug aus Seide und dazu vernünftige schwarze Schuhe. Auf ihrer Stirn war immer noch ein Bluterguss zu sehen, wo sie von einem Marmorfragment getroffen worden war. Sie zeigte mir, was sie gefunden hatte: eine schlichte Plattenhülle aus braunem Karton, in der anscheinend eine alte 78er-Schellackplatte steckte. »Duke Ellington und Adelaide Hall, Creole Love Call, das Originallabel von Black and Gold Victor«, sagte sie. »Und er hat das in einem Koffer auf dem Speicher.«
»Wollen Sie sie auf Ebay verhökern?«, fragte ich.
Sie warf mir einen kalten Blick zu. »Sie wollen wohl Ihre Sachen abholen?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht?«
Sie zögerte. »Bitte. Nur zu.«
Die meisten meiner Kleider waren im Folly und daher unzugänglich, aber weil Molly nie im Kutschenhaus sauber machte, fand ich wenigstens ein Sweatshirt und eine Jeans, die hinter das Sofa gefallen waren. Mein Laptop war dort, wo ich ihn hingestellt hatte, auf einem Stapel Magazine. Nach der Laptoptasche musste ich länger suchen. Tyburn ließ mich die ganze Zeit nicht aus den Augen. Es war, wie wenn man im Badezimmer von seiner Mutter beobachtet wird.
Manchmal gibt es Dinge, wie Frank schon gesagt hatte, die man einfach tun muss, ohne Rücksicht auf die Kosten. Ich richtete mich auf und drehte mich zu Tyburn um. »Hören Sie, die Sache mit dem Brunnen tut mir wirklich leid.«
Einen Augenblick lang dachte ich, es würde funktionieren, ich schwöre, ich sah etwas in ihrem Blick, ein Weichwerden, ein Wiedererkennen – irgendetwas –, aber dann verschwand es wieder und die kühle Wut war wieder da.
»Ich habe mich über Sie erkundigt«, sagte sie. »Ihr Vater ist ein Junkie, schon seit gut dreißig Jahren.«
Eigentlich sollte es nicht wehtun, wenn jemand so etwas zu mir sagt. Seit ich zwölf wurde, weiß ich, dass mein Dad abhängig ist. Er ging ziemlich sachlich damit um, als ich es herausgefunden hatte, und bemühte sich, mir begreiflich zu machen, was das bedeutete – er wollte nicht, dass ich in seine Fußstapfen trat. Er gehörte zu den wenigen Leuten im Vereinigten Königreich, die ihr Heroin auf Rezept bezogen, was damit zu tun hatte, dass sein Hausarzt ein großer Fan der erfolglosesten Jazzlegende Londons war. Mein Dad war seither nie mehr clean gewesen, aber er hatte seine Sucht unter Kontrolle und deshalb sollte es eigentlich nicht wehtun, wenn die Leute ihn einen Junkie nennen. Aber natürlich tut es weh.
»Verdammt«, sagte ich, »dass er mir das verheimlicht hat. Ich bin echt geschockt.«
»In Ihrer Familie sind Enttäuschungen ja wohl an der Tagesordnung«, sagte sie. »Ihr Chemielehrer war von Ihnen so enttäuscht, dass er sogar einen Leserbrief an den Guardian schrieb. Sie waren sein blauäugiger Liebling, bildlich gesprochen.«
»Ich weiß. Mein Dad hat den Zeitungsausschnitt in sein Sammelalbum geklebt.«
»Wenn man Sie wegen schweren Fehlverhaltens feuert, wird er dann den Zeitungsausschnitt mit der Meldung auch in sein Sammelalbum kleben?«
»Deputy Assistant Commissioner Folsom«, sagte ich. »Er ist einer von Ihren Boys, nicht wahr?«
Tyburn lächelte dünn. »Ich behalte aufstrebende Karrieren gern im Auge.«
»Sie haben ihn um den kleinen Finger gewickelt, hm? Schon erstaunlich, was manche Leute tun, wenn sie dafür ein bisschen herumfummeln dürfen.«
»Werden Sie doch erwachsen, Peter. Hier geht es um Macht und Interessenwahrung, und nur weil fast Ihr ganzes Denken über Ihre äußeren Geschlechtsorgane funktioniert, heißt das noch lange nicht, dass das auch bei allen anderen Menschen der Fall ist.«
»Freut mich zu hören, denn irgendjemand muss ihm mal sagen, dass er sich die Augenbrauen stutzen lassen sollte«, sagte ich. »Stammte die Pistole von Ihnen?«
»Seien Sie doch nicht absurd.«
»Es ist Ihr Stil. Jemand anders finden, der Ihre Probleme für Sie löst. Machiavelli wäre stolz auf Sie.«
»Haben Sie jemals auch nur einen Satz von Machiavelli gelesen?«, fragte sie. Ich zögerte, und sie zog die richtige Schlussfolgerung. »Ich schon«, sagte sie. »Und zwar im Original. Auf Italienisch.«
»Und warum taten Sie das?«
»Für mein Examen. In St. Hilda’s, Oxford. Geschichte und Italienisch.«
»Mit Auszeichnung natürlich.«
»Natürlich. Jetzt werden Sie auch verstehen, warum mich Nightingales ausgeblichener Adel keineswegs beeindruckt.«
»Noch mal – stammte die Pistole von Ihnen?«
»Nein, sie stammte nicht von mir«, antwortete sie. »Ich brauchte diesen Fehlschlag gar nicht in Szene zu setzen. Es war sowieso nur eine Frage der Zeit, bis Nightingale etwas vermasseln würde. Obwohl nicht einmal ich erwartet hatte, dass er so dumm sein würde, sich niederschießen zu lassen. Trotzdem stört die ganze Sache natürlich sehr.«
»Warum sind Sie nicht im Haupthaus? Warum stecken Sie hier in der Remise fest? Das Folly ist sehr eindrucksvoll, es hat eine schier unglaubliche Bibliothek und Sie könnten ein Vermögen verdienen, wenn Sie es als Drehort an Filmgesellschaften vermieten würden.«
»Alles zu seiner Zeit«, sagte sie.
Ich fummelte meine Schlüssel aus der Tasche. »Hier – ich leihe Ihnen die Hausschlüssel. Sie können die Fallschirmjäger bestimmt überreden, Sie ins Haus zu lassen.« Sie wandte sich von meiner ausgestreckten Hand ab.
»Die ganze Sache hat wenigstens ein Gutes«, sagte sie. »Wir haben endlich die Gelegenheit, rational zu entscheiden, wie wir mit diesen Dingen umgehen.«
»Sie können nicht ins Haus, stimmt’s?« Ich dachte an Beverley Brook und ihre abträglichen Kraftfelder.
Sie bedachte mich mit ihrem Herzoginnenblick, dem alten arroganten geldschweren Starren, das die Frauen der Fußballstars niemals beherrschen werden, und für einen kurzen Moment floss es förmlich aus ihr heraus, der Gestank von Abwasserkanälen und Geld und Handel, Abmachungen, die bei Brandy und Zigarren geschlossen wurden. Und weil Tyburn eine moderne Frau war, lag auch ein Hauch von Cappuccino und sonnengetrockneten Tomaten darin. »Haben Sie alles, was Sie hier holen wollten?«, fragte sie.
»Der Fernseher gehört mir«, sagte ich.
Sie sagte, ich könne ihn abholen, wann immer ich wollte. »Was hat er nur in Ihnen gesehen?«, fragte sie mit einem Kopfschütteln. »Warum ausgerechnet Sie als Hüter der geheimen Flamme?«
Ich fragte mich, was zum Teufel die geheime Flamme war. »Einfach Glück, schätze ich.«
Sie würdigte mich keiner Antwort, drehte mir den Rücken zu und befasste sich wieder mit dem Inhalt der Truhen und Kisten. Und ich fragte mich, wonach sie wirklich suchte.
Auf meinem Weg über den Vorplatz des Kutschenhauses hörte ich ein gedämpftes Bellen hinter mir und blickte mich um. Ein blasses, trauriges Gesicht beobachtete mich von einem Fenster im zweiten Stock: Molly. Sie hielt Toby eng an ihre Brust gepresst. Ich blieb stehen und winkte ihnen zu, in möglichst optimistischer Weise. Dann ging ich los, um nachzuschauen, ob Nightingale noch lebte.
Vor Nightingales Krankenzimmer hielt ein bewaffneter Polizist Wache. Ich zeigte ihm meinen Dienstausweis, und er forderte mich auf, meine Taschen im Flur abzustellen. In einer modernen Intensivstation kann es erstaunlich still sein; die Überwachungsgeräte geben nur Geräusche von sich, wenn etwas nicht in Ordnung ist, und da Nightingale selbst atmen konnte, gab es auch kein Beatmungsgerät, das Darth-Vader-artig vor sich hin keuchte.
In dem sauberen, pflegeleichten, pastellfarbenen Polyester-Bettzeug sah er alt aus und fehl am Platz. Ein Arm lag schlaff auf der Bettdecke, daran waren ein halbes Dutzend Schläuche und Kabel angeschlossen. Sein Gesicht wirkte abgehärmt und grau; er hielt die Augen geschlossen. Aber sein Atem ging kräftig und regelmäßig und musste nicht unterstützt werden. Auf dem Betttisch stand eine Schale mit Trauben; ein Strauß blauer Wildblumen war, meiner Meinung nach ziemlich unordentlich, in eine Vase gesteckt worden.
Ich stand eine Weile neben dem Bett und fand, dass ich etwas sagen sollte, aber es fiel mir nichts ein. Ich überprüfte kurz, ob ich beobachtet wurde, dann nahm ich seine Hand und drückte sie sanft – sie fühlte sich erstaunlich warm an. Ich glaubte etwas zu spüren, eine vage Ahnung von feuchten Tannen, Holzrauch und Leinen, aber es war so schwach, dass ich nicht hätte sagen können, ob es ein Vestigium gewesen war oder nicht. Dann merkte ich, dass ich vor lauter Müdigkeit buchstäblich hin und her schwankte. In einer Zimmerecke stand ein Stuhl mit Armlehnen, hergestellt aus laminierter Spanplatte und mit feuerresistentem Hartschaum überzogenem Polyester, viel zu unbequem, um darauf schlafen zu können. Ich setzte mich, ließ den Kopf zur Seite sinken und war in weniger als dreißig Sekunden eingeschlafen.
Einmal wachte ich kurz auf, als Dr. Walid und ein paar Krankenschwestern um Nightingales Bett herumwuselten. Ich starrte sie verständnislos an, und als Dr. Walid sah, dass ich wach war, befahl er mir weiterzuschlafen, jedenfalls glaube ich, dass er das sagte.
Später wurde ich vom Kaffeeduft geweckt. Dr. Walid brachte mir einen großen Pappbecher Latte und so viele Zuckerbeutel, wie ich sonst ungefähr in einem Monat verbrauchte.
»Wie geht es ihm?«, fragte ich.
»Er wurde in die Brust geschossen«, sagte Dr. Walid. »Diese Art von Verletzung macht einem naturgemäß eine Weile zu schaffen.«
»Wird er wieder gesund?«
»Er wird am Leben bleiben«, antwortete er. »Aber ich kann nicht sagen, ob er sich ganz erholen wird. Auf jeden Fall ist es ein gutes Zeichen, dass er selbstständig atmen kann.«
Ich nippte am Kaffee und verbrannte mir die Zunge.
»Sie haben mich aus dem Folly ausgesperrt«, sagte ich.
»Ich weiß.«
»Können Sie mich wieder ins Haus bringen?«
Er lachte. »Ich doch nicht. Ich bin nur ein ziviler Berater mit ein wenig esoterischer Erfahrung. Solange Nightingale außer Gefecht ist, liegt die Entscheidung, wer Zugang zum Folly bekommt, beim Commissioner, wenn nicht sogar noch höher oben.«
»Beim Innenminister?«, fragte ich.
Dr. Walid zuckte die Schultern. »Mindestens. Wissen Sie schon, was Sie jetzt tun wollen?«
»Haben Sie hier einen Internetzugang?«, fragte ich.
Wenn man in einem Lehrkrankenhaus wie dem UCH durch die richtigen Türen geht, hört es auf, ein Krankenhaus zu sein und wird zu einem medizinischen Forschungs- und Verwaltungszentrum. Dort hatte Dr. Walid sein Büro und auch Studenten, wie ich ein wenig schockiert zur Kenntnis nahm. »Ich bringe ihnen kein esoterisches Zeug bei«, erklärte er, sondern er sei, ohne sich selbst beweihräuchern zu wollen, ein weltbekannter Gastroenterologe. »Jeder braucht eben ein Hobby«, meinte er.
»Meins wird ab sofort Jobsuche sein«, sagte ich düster.
»Dann würde ich zuerst mal eine Dusche nehmen«, empfahl Dr. Walid, »sofern Sie Vorstellungsgespräche planen.«
Dr. Walids Arbeitszimmer war ein schmaler Raum mit einem Fenster am hinteren Ende; die beiden langen Wände waren von Bücherregalen bedeckt. Auf sämtlichen waagerechten Flächen lagen Akten, medizinische Fachzeitschriften und Nachschlagewerke aufgestapelt. An einem Ende eines schmalen Regals, das als Schreibtisch diente, ragte ein Computer schüchtern aus einem Meer von Papier heraus. Ich stellte meine Taschen in einer Ecke ab und schloss meinen Laptop ans Stromnetz an, um die Akkus aufzuladen. Den Modem-Anschluss entdeckte ich hinter einem Stapel von GUT – Internationales Journal für Gastroenterologie und Hepatologie. Ein fröhlicher Untertitel verkündete, dass GUT von Gastroenterologen weltweit zum besten Fachjournal für Gastroenterologie gewählt worden sei. Ich war nicht sicher, ob ich die Schlussfolgerung, die man daraus ziehen musste – dass es offenbar weit mehr als nur eine Fachzeitschrift gab, die sich mit nichts anderem als dem reibungslosen Funktionieren meiner Eingeweide befasste – beruhigend oder besorgniserregend finden sollte. Der Modem-Anschluss sah verdächtig manipuliert aus und entsprach definitiv nicht der Standardeinrichtung eines Krankenhauses des staatlichen Gesundheitswesens. Als ich Dr. Walid danach fragte, sagte er nur, er lege Wert darauf, manche seiner Akten unzugänglich gespeichert zu wissen.
»Unzugänglich für wen?«, fragte ich.
»Andere Forscher. Es gibt immer welche, die meine Arbeit ausspionieren wollen.« Anscheinend waren die Hepatologen die schlimmsten. »Was ist schon von Leuten zu erwarten, die ständig mit Galle hantieren?«, fragte Dr. Walid und sah enttäuscht aus, weil ich den Witz nicht kapierte.
Zu meiner Zufriedenheit stellte ich fest, dass ich mit dem Anschluss gut arbeiten konnte, und machte mich zuerst mal auf den Weg zum Personalbadezimmer weiter vorn im Korridor. Ich duschte in einer Kabine, die groß genug war, dass darin nicht nur ein Paraplegiker samt Rollstuhl, sondern auch seine Pflegerin und ihr Blindenhund Platz gefunden hätten. Sogar Seife lag bereit, der typische antibiotische Seifenblock mit Zitronenduft, der die obere Schicht meiner Epidermis praktisch sofort zur Auflösung brachte.
Während ich duschte, dachte ich über die technischen Aspekte des Schusses auf Nightingale nach. Allen schrillen Fantasien der Daily Mail zum Trotz kann man nicht einfach in irgendeinen Pub spazieren und eine Handfeuerwaffe erwerben, vor allem kein High-End-Produkt wie die Halbautomatik, mit der Christopher Pinkman in der vergangenen Nacht so unerfahren herumgefuchtelt hatte. Was wiederum bedeutete, dass es Henry Pyke unmöglich gewesen sein musste, Pinkman in den nicht mal zwanzig Minuten in Stellung zu manövrieren, die zwischen unserer Ankunft beim Royal Opera House und unserem Verlassen des Gebäudes durch den Bühneneingang verstrichen waren. Henry Pyke musste vorher gewusst haben, dass wir vorhatten, ihn in der Bow Street in die Falle zu locken, und das wiederum ließ nur drei Optionen als Erklärung übrig: Entweder konnte er in die Zukunft blicken, oder er konnte die Gedanken anderer Menschen lesen, oder jemand, der von unserem Plan wusste, zählte zu seinen sequestrierten Puppen.
Zukunftsvorhersage schloss ich aus, nicht nur, weil ich ein überzeugter Anhänger des Ursächlichkeitsprinzips bin, sondern auch, weil Henry Pyke bisher nie etwas getan hatte, aus dem wir hätten folgern können, dass er über Zukunftswissen verfügte. Meine Studien in der allgemeinen Bibliothek des Folly hatten ergeben, dass es so etwas wie Gedankenlesen nicht gab, zumindest nicht in der Form, dass man die Gedanken einer Person wie bei einer Fernsehsendung aus dem Off hören könnte. Das bedeutete, dass irgendwer Henry Pyke – oder jemandem, der von Henry Pyke sequestriert worden war – von unserem Plan erzählt haben musste. Nightingale war es nicht. Ich war es nicht. Damit blieb eigentlich nur die Mordkommission. Angesichts der Tatsache, dass Stephanopoulos und Seawoll schon ein Problem damit hatten, auch nur mit den offiziellen Vertretern der magischen Künste über Magie zu reden, konnte ich mir nicht vorstellen, dass sie mit ihrem Team darüber sprechen würden, und Lesley würde sich vermutlich so verhalten wie ihre Vorgesetzten.
Mit einem angenehmen Gefühl auf der rotgeschrubbten Haut trat ich aus der Dusche und trocknete mich mit einem Duschtuch ab, das so oft gewaschen worden war, dass es die Oberflächenstruktur von grobkörnigem Schmirgelpapier angenommen hatte. Die Kleider, die ich aus der Remise geholt hatte, waren nicht gerade frisch gewaschen, aber zumindest sehr viel sauberer als die Klamotten, die ich auf dem Leib gehabt hatte. Nachdem ich in den gesichtslosen Korridoren ein paarmal falsch abgebogen war, gelang es mir endlich, wieder zu Dr. Walids Arbeitszimmer zurückzufinden.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte er.
»Menschlich.«
»Das sollte fürs Erste reichen«, meinte er. Dann zeigte er mir, wo die Kaffeemaschine stand, und ließ mich allein, so dass ich endlich mit meinem Job weitermachen konnte.
Seit die Menschheit aufhörte, ziellos durch die Steppe zu stolpern, und damit anfing, den eigenen Nahrungsbedarf auf Feldern anzubauen, hat sich die menschliche Gesellschaft immer komplexer entwickelt. Und seit wir aufhörten, mit unseren Blutsverwandten zu schlafen, und lernten, Mauern, Tempel und ein paar anständige Nachtclubs zu bauen, ist die menschliche Gesellschaft sogar so komplex geworden, dass es für eine einzelne Person irgendwann nicht mehr möglich war, sie zu erfassen. Das war die Geburtsstunde der Bürokratie. Eine Bürokratie zerlegt die Komplexität in eine Reihe ineinandergreifender Systeme; man muss nicht verstehen, wie die Systeme zusammenwirken, und nicht einmal mehr begreifen, welche Funktion das eigene Teilsystem im Ganzen hat, man muss nur den eigenen Job halbwegs ordentlich tun, und die ganze Maschinerie bleibt quietschend und scheppernd in Bewegung. Je verschiedenartiger die Funktionen sind, die eine Organisation zu erfüllen hat, desto komplexer werden die ineinandergreifenden Systeme und Subsysteme. Wenn man zum Beispiel wie die Metropolitan Police dafür zuständig ist, Terrorangriffe zu verhindern, häusliche Streitereien zu schlichten und Autofahrer davon abzuhalten, beliebige Fußgänger über den Haufen zu fahren, dann werden die Systeme ausgesprochen komplex. Zum System der Met gehört die Vorschrift, dass jede Operative Kommandoeinheit, auch kurz OCU genannt, Zugang zu den Datenbanken von HOLMES2 und CRIMINT haben muss, entweder durch eine der HOLMES-Anwenderstationen oder durch ein spezielles Softwareprogramm, das auf einem autorisierten Laptop installiert ist. Das alles ist Aufgabe des Direktorats für Informationen, und weil sich seine Zuständigkeit nur auf das eigene Teilsystem bezieht, trifft es keine Unterscheidung zwischen der für schwere und organisierte Kriminalität zuständigen OCU und dem Folly, das man einfach zu einer weiteren Operativen Kommandoeinheit gemacht hatte, weil niemand eine Ahnung hatte, wie man es sonst in das Organisationsraster der Met hätte eingliedern sollen. Das alles war zwar einem Mann wie Inspector Nightingale völlig egal, aber für jemanden wie den Schreiber dieser Zeilen bedeutete es, dass ich nicht nur eine legale Kopie der HOLMES2-Schnittstelle auf meinem Laptop installieren konnte, sondern auch mit denselben Zugriffsprivilegien ausgestattet war wie beispielsweise der Leiter der OCU für Mord und Schwerverbrechen.
Und das war auch ganz gut so, denn einer meiner Verdächtigen hieß nun mal Chief Inspector Seawoll und so ein Ziel nimmt man nicht ins Visier, wenn man nicht absolut sicher ist, dass man es gleich beim ersten Versuch zu Boden schickt. Detective Sergeant Stephanopoulos, die ebenfalls von vornherein in die Operation eingeweiht gewesen war, stellte für mich eine ähnlich harte Nuss dar, sofern ich nicht zur zweitgrößten Lachnummer in der Met werden wollte – Was ist eigentlich aus dem DC geworden, der die Stephanopoulos beschuldigte, unwissentlich zum Instrument eines bösartigen Wiedergängers geworden zu sein? Dr. Walid war mein Verdächtiger Nummer drei, und deshalb erklärte ich ihm nicht, was ich hier eigentlich trieb. Lesley war Verdächtige Nummer vier, und dann gab es noch den Verdächtigen Nummer fünf, und der machte mir am meisten Angst: ich selbst. Zwar war es nicht mehr zu beweisen, aber ich war mir ziemlich sicher: In der ganzen Zeit von Skirmishs Ermordung bis zu dem Punkt, als er sein eigenes Kind aus dem Fenster warf, hatte Brandon Coopertown keinen blassen Schimmer gehabt, dass er etwas anderes als der vernünftige Mann war, der er immer gewesen war.
Nach der Dusche hatte ich eine Zeit lang mein Gesicht im Spiegel angestarrt und versucht, genug Mut zusammenzuraffen, um den Mund zu öffnen und hineinzuschauen. Schließlich schloss ich die Augen und grub die Finger in meine Wangen – noch nie in meinem Leben war ich so froh, meinen Prämolar zu fühlen. Das hieß aber lediglich, dass Henry Pyke mein Gesicht nicht gestreckt hatte – noch nicht.
Ich rief HOLMES auf und loggte mich mit Usernamen und Passwort ein. Formell betrachtet gehörte beides Inspector Nightingale, und formell betrachtet hätte beides auch deaktiviert werden sollen, sobald er selbst deaktiviert worden war, aber dazu hatte wohl noch niemand die Zeit gefunden – Trägheit und Schwerfälligkeit sind, wie man weiß, weitere Merkmale von Zivilisationen und ihren Bürokratien. Ich begann am Anfang, also mit dem Mord an William Skirmish in Covent Garden am 26. Januar.
Drei Stunden und zwei Kaffees später fand ich, wonach ich suchte. Ich war mittlerweile bei dem Fall Framline angekommen. Dieser hatte damit begonnen, dass der Fahrradkurier an der Londoner Themseuferstraße, The Strand, von seinem Fahrrad gestoßen worden war. Man hatte ihn zum UCH gebracht, wo er Dr. Framline tätlich angegriffen hatte. Ein Uniformierter hatte ihm noch am Unfallort eine Aussage abringen können, während sie auf den Krankenwagen warteten. Der Kurier hatte ausgesagt, ein Auto habe ihn überholt und vorsätzlich von der Straße gedrängt. Lesley hatte mir gesagt, der Unfall habe sich an einer der wenigen Stellen ereignet, die nicht von einer Überwachungskamera abgedeckt wurden. Doch nach der ersten Aussage war der Fahrradkurier direkt vor der U-Bahn-Station Charing Cross von der Straße gedrängt worden. Nun gab es aber, seit die nordirische Terrororganisation IRA die Londoner Bahnhöfe in den 1990er-Jahren als legitime Anschlagsziele bezeichnet hatte, vor keinem Londoner Bahnhof auch nur einen einzigen toten Winkel mehr. Ich wühlte mich tief in die Eingeweide des HOLMES-Archivs, wo tatsächlich eine bedauernswerte Seele der Mordkommission sämtliche relevanten Aufzeichnungen jeder einzelnen funktionsfähigen Kamera, vom Trafalgar Square bis zum Old Bailey, abgespeichert hatte. Keine einzige der Dateien war mit einem schlüssigen Namen versehen, deshalb kostete es mich gute eineinhalb Stunden, bis ich die Videoaufzeichnung gefunden hatte, nach der ich suchte. Der Fahrradkurier hatte keine klare Aussage über die Automarke machen können, aber nach der Aufzeichnung gab es keinen Zweifel, dass es sich um einen ramponierten Honda Accord handelte, der ihn absichtlich von der Straße abgedrängt hatte. Die Auflösung des Filmmaterials war nicht hoch genug, um den Fahrer oder das Autokennzeichen zu erkennen, aber schon bevor ich ihn anhand weiterer Kameraaufzeichnungen bis zur hochauflösenden Kamera an den Laternenmasten auf dem Trafalgar Square verfolgt hatte, wusste ich ohne jeden Zweifel, wem der Wagen gehörte.
Und das ergab auch einen Sinn. Sie war dabei gewesen, als Coopertown seine Frau und sein Kind umbrachte. Sie war bei dem Zwischenfall im Kino und beim Angriff auf Dr. Framline dabei. Sie war dabei, als wir die Operation vor der Oper planten, und sie war mit der Eingreiftruppe rechtzeitig genug eingetroffen, um die Pistole verschwinden zu lassen.
Lesley May war meine Hauptverdächtige. Sie war Teil des Ganzen, war von Henry Pyke als wichtige Figur für sein irres Schauspiel von Aufruhr und Rache sequestriert worden. Ich fragte mich, ob sie von Anfang an Teil des Spiels gewesen war, von der ersten Nacht an, als William Skirmish der Kopf abgeschlagen wurde und ich zum ersten Mal Nicholas Wallpenny begegnet war. Und dann fiel mir Pretty Polly aus dem Piccini-Rollenbuch wieder ein – das stille Mädchen, von dem Punch verliebt träumt, nachdem er seine Frau und sein Kind um die Ecke gebracht hat. Er küsst sie ausgesprochen lautstark, wobei sie »nix dagegen« zu haben scheint, und dann singt er: Hätt’ ich die Frauen alle vom alten König Sol, ich würd’ sie alle töten für meine Pretty Poll.
Ich hatte nichts gespürt bei Lesley, also war es vielleicht möglich, eine Sequestration zu verschleiern, oder vielleicht war ich auch nicht so stark sensibilisiert, wie ich gedacht hatte. Nightingale hatte mir immer gesagt, dass es eine Lebensaufgabe sei, ein Vestigium von den vielen kleinen Stimmungsschwankungen zu unterscheiden, die man empfindet. Ich hatte einfach eine Annahme getroffen, wem ich vertrauen konnte und wem nicht – diesen Fehler würde ich nicht noch einmal machen.
Wir hatten mal einen Fall, bei dem eine Mutter ihren Sohn am Covent Garden verloren hatte. Sie war auf altmodische Art und Weise sehr englisch, trug ein teures Kleid mit Blumenmuster und eine hübsche Handtasche, und hatte im West End nur ein wenig shoppen und dann mit ihrem Sohn das Londoner Transportmuseum besuchen wollen. Dann hatte sie sich einen Moment lang von einer Schaufensterauslage ablenken lassen. Als sie sich wieder umdrehte, war ihr sechsjähriger Sohn verschwunden.
Ich erinnere mich noch sehr deutlich, wie sie aussah, als sie mich und Lesley entdeckte und zu uns kam. Äußerlich behielt sie einen Anschein der Ruhe, die sprichwörtliche traditionelle britische Gefasstheit, aber ihre Augen verrieten sie – sie zuckten nach rechts und links, sie kämpfte mühsam gegen den Drang an, in alle Richtungen zugleich laufen zu wollen. Ich versuchte sie zu beruhigen, während Lesley die Sache weitermeldete und die Suche einleitete. Ich weiß nicht mehr, was ich zu ihr sagte, irgendwelche beruhigenden Floskeln, aber noch während ich mit ihr redete, sah ich, dass sie fast unmerklich zu zittern begonnen hatte. Mir war klar, dass da vor meinen Augen ein Mensch aus den Fugen zu geraten drohte. Der Sechsjährige tauchte knapp eine Minute später wieder auf, er wurde von einem netten Pantomimen aus einer der tiefer gelegenen Ebenen der Markthalle heraufgebracht. Ich beobachtete die Mutter, als ihr Sohn wieder erschien, sah, wie sich reine Erleichterung auf ihr Gesicht legte und wie die Furcht in ihr Innerstes zurückgesaugt wurde, bis nur noch die energische, praktische Frau im Sommerkleid und mit vernünftigen Schuhen zurückblieb.
Doch erst jetzt begriff ich ihre Furcht, die nicht ihr selbst galt, sondern einem anderen Menschen. Lesley war sequestriert worden. Henry Pyke hatte sich in ihrem Kopf eingenistet, und zwar schon vor mindestens drei Monaten. Ich versuchte mich zu erinnern, wie sie bei unserer letzten Begegnung ausgesehen hatte. War irgendetwas in ihrem Gesicht anders gewesen? Dann fiel mir ihr typisches Lächeln ein, das breite Grinsen, bei dem sie jede Menge Zähne zeigte. Hatte sie mich in letzter Zeit angelächelt? Ich dachte schon. Wenn Henry Pyke in ihr die Dissimulo ausgelöst hatte, sie also in Punchinellas Form verwandelt hätte, wäre es ihr unmöglich gewesen, ihre ruinierten Zähne zu verbergen. Ich wusste zwar nicht, wie ich Henry Pyke aus ihrem Kopf vertreiben konnte, aber wenn ich rechtzeitig zu ihr gelangte, bevor der Wiedergänger ihr Gesicht zerstörte, würde ich vielleicht wenigstens das verhindern können.
Als Dr. Walid wieder in sein Arbeitszimmer zurückkehrte, war mein Plan fertig.
»Nämlich?«, fragte er.
Ich erzählte es ihm. Auch er fand den Plan miserabel.