Am nächsten Morgen erkundigte sich Lesley, wie die Geisterjagd gelaufen war. Wir hingen vor Nebletts Büro herum, denn hier sollte mir heute der Todesstoß versetzt werden. Wir mussten eigentlich nicht hier sein, aber weder Lesley noch ich konnten die leidige Warterei noch länger ertragen.
»Es gibt Schlimmeres als die CPU«, sagte ich.
Darüber dachten wir eine Weile nach.
»Verkehr«, sagte Lesley. »Das ist viel schlimmer.«
»Aber man darf dann in Superschlitten herumfahren, 5er BMW, Mercedes M-Klasse.«
»Weißt du was, Peter?«, fragte Lesley. »Du bist eigentlich ein sehr oberflächlicher Mensch.«
Ich wollte gerade widersprechen, als Neblett seine Bürotür öffnete. Er schien keineswegs überrascht, uns hier zu sehen, und reichte Lesley einen Brief, die ihn seltsamerweise nur zögernd öffnete.
»Sie werden in Belgravia erwartet«, sagte Neblett. »Also los, beeilen Sie sich.« In Belgravia befindet sich das Quartier der Mordkommission von Westminster. Lesley winkte mir kurz zu, drehte sich um und hüpfte tatsächlich den Korridor entlang.
Neblett blickte ihr nach. »Die hätte es bei der Diebesjagd weit gebracht«, sagte er. Dann fasste er mich ins Auge und runzelte die Stirn. »Sie dagegen … ich weiß wirklich nicht, was aus Ihnen werden soll.«
»Ein Polizist, der einen aktiven und wertvollen Beitrag leistet, Sir«, sagte ich.
»Ein frecher Hund, das sind Sie«, knurrte Neblett. Und reichte mir nicht einen Briefumschlag, sondern einen kleinen Zettel. »Sie werden für Chief Inspector Thomas Nightingale arbeiten.« Auf dem Zettel waren Name und Adresse eines japanischen Restaurants an der New Row notiert.
»Welcher Bereich?«, fragte ich.
»Wirtschaftskriminalität und Spezialermittlungen, soweit ich weiß«, sagte Neblett. »Man will Sie in Zivil sehen, also beeilen Sie sich gefälligst.«
»Wirtschaftskriminalität und Spezialermittlungen« war eigentlich eher ein Sammelbegriff für eine Unmenge spezialisierter Einheiten, alles von Kunst und Antiquitäten über Einwanderung bis hin zur Computerkriminalität. Für mich war nur wichtig: Die CPU gehörte nicht dazu. Ich beeilte mich wegzukommen, bevor er es sich noch anders überlegte, aber ich lege Wert auf die Feststellung, dass ich im Flur keinen Moment lang hüpfte.
New Row ist eine schmale Fußgängerstraße zwischen Covent Garden und St. Martin’s Lane, mit einem Tesco-Supermarkt am einen Ende und verschiedenen Theatern am anderen. Tokyo A Go Go war ein Bentō-Restaurant ungefähr in der Mitte der Straße, eingeklemmt zwischen einer Privatgalerie und einem Sportgeschäft für Mädchen. Das Restaurant war lang, aber kaum breit genug für zwei Tischreihen, und war nach der minimalistischen japanischen Art kaum dekoriert – glatt gewienerte Holzböden, Tische und Stühle aus lackiertem Holz und jede Menge rechte Winkel und Reispapier.
Nightingale saß an einem Tisch am anderen Ende; er aß Bentō aus einer schwarz lackierten Pappschachtel. Als ich an seinen Tisch trat, erhob er sich und schüttelte mir die Hand. Ich setzte mich ihm gegenüber und er fragte, ob ich etwas essen wolle. Ich lehnte dankend ab, denn ich war ziemlich nervös und habe es mir zur Gewohnheit gemacht, meinem Magen in diesem Zustand niemals kalten Reis zuzumuten. Nightingale bestellte Tee und erkundigte sich, ob es mir etwas ausmache, wenn er weiteraß.
Artig verneinte ich und schaute zu, wie er geschickt mit den Essstäbchen hantierte.
»Ist er zurückgekommen?«, fragte Nightingale.
»Wer?«
»Ihr Geist. Nicholas Wallpenny: Schnüffler, Kammerjäger, Gelegenheitsdieb. Bis zu seinem Tod wohnhaft in der Gemeinde St. Giles. Haben Sie eine Ahnung, wo er beerdigt sein könnte?«
»Auf dem Friedhof der Schauspielerkirche?«
»Sehr gut«, nickte Nightingale und holte mit den Stäbchen schnell und geübt ein kleines Stück Ente aus der Schachtel. »Also: Ist er zurückgekommen?«
»Nein, ist er nicht«, gab ich zu.
»Geister sind kapriziös«, sagte er. »Als Zeugen sind sie ziemlich unzuverlässig.«
»Wollen Sie damit sagen, dass es wirklich Geister gibt?«
Nightingale wischte sich die Lippen sorgfältig mit der Serviette ab. »Sie haben doch mit einem gesprochen. Was glauben Sie?«
»Ich warte auf eine Bestätigung durch einen Vorgesetzten«, antwortete ich. »Sir.«
Er legte die Serviette weg und griff gelassen nach der Teetasse. »Geister gibt es wirklich.« Er trank einen Schluck.
Ich starrte ihn sprachlos an. Ich persönlich glaube nicht an Geister, auch nicht an Feen oder Götter, und während der letzten paar Tage hatte ich mich wie ein Zuschauer einer Zaubershow gefühlt – eigentlich hatte ich nur darauf gewartet, dass der Zauberer vor den Vorhang treten und mich auffordern würde, eine Karte auszuwählen, irgendeine Karte. Ich war nicht bereit, an Geister zu glauben, aber so ist das mit empirischen Erfahrungen – sie sind real.
Und wenn es also wirklich Geister gab?
»Lassen Sie mich raten, Sir: Gleich werden Sie mir erzählen, dass es eine geheime Einheit der Met gibt, deren Aufgabe darin besteht, Geistern nachzuspüren, oder Gespenstern, Dämonen, Feen, Hexen, Hexenmeistern, Elfen, Trollen …« Ich hob beide Hände. »Sie dürfen mich ruhig unterbrechen, mir fallen sowieso gerade keine übernatürlichen Wesen mehr ein.«
»Sie haben nicht mal einen Bruchteil von dem aufgezählt, was es gibt«, sagte Nightingale gelassen.
»Außerirdische?« Das musste ich einfach fragen.
»Noch nicht.«
»Und die geheime Einheit der Met?«
»Besteht nur aus mir, fürchte ich.«
»Und Sie wollen, dass ich in … äh … in Ihre Einheit eintrete?«
»Dass Sie mich unterstützen«, sagte Nightingale, »bei dieser Ermittlung.«
»Sie glauben also, dass sich bei diesem Mord etwas Übernatürliches ereignete?«
»Warum schildern Sie mir nicht zuerst einmal, was Ihr Zeuge zu erzählen hatte?«, schlug er vor. »Dann sehen wir vielleicht ein wenig klarer, wohin das alles führt.«
Also schilderte ich ihm mein Gespräch mit Nicholas und die Sache mit dem Kleiderwechsel des mörderischen Gentleman. Und die Aufzeichnungen der Überwachungskamera und die Annahme der Mordkommission, dass zwei verschiedene Personen auf dem Video zu sehen waren. Als ich geendet hatte, winkte er die Kellnerin herbei, um zu zahlen.
»Ich wünschte, ich hätte das alles schon gestern erfahren«, murmelte er. »Aber vielleicht finden wir trotzdem noch eine Spur.«
»Eine Spur wovon, Sir?«, fragte ich.
»Vom Unheimlichen«, sagte Nightingale. »Es hinterlässt immer eine Spur.«
Nightingales Wagen war ein Jaguar, ein echter Mark II mit dem XK6-Motor und 3,8 Litern Hubraum. In den Sechzigern hätte mein Dad glatt seine Trompete verkauft, wenn er dafür ein solches Auto hätte besitzen dürfen, und das hieß damals eine Menge. Der Wagen war nicht in makellosem Zustand, sondern hatte ein paar kleine Dellen in der Karosserie und die Ledersitze zeigten erste Risse, aber als Nightingale den Zündschlüssel drehte und der Sechszylinder zu brummen anfing, war alles perfekt, worauf es wirklich ankam.
»Sie haben die Oberstufe in naturwissenschaftlichen Fächern abgeschlossen«, sagte Nightingale, als er den Wagen in den Verkehr einfädelte. »Warum haben Sie dann nicht ein Studium in einem davon aufgenommen?«
»Ich habe mich ablenken lassen, Sir«, antwortete ich. »Meine Abschlussnoten waren nicht gerade berauschend, es reichte nicht für die Studiengänge, die ich wollte.«
»Aha. Und worin bestand die Ablenkung? Musik vielleicht? Haben Sie eine Band gegründet?«
»Nein, Sir. Nichts, was so interessant gewesen wäre.«
Wir fuhren über den Trafalgar Square und nutzten das diskrete Blaulicht der Metropolitan Police an der Windschutzscheibe, um schneller durch Pall Mall zu kommen, dann am Buckingham-Palast vorbei und nach Victoria. Ich konnte mir nur zwei Orte denken, zu denen wir unterwegs sein konnten: die Polizeistation in Belgravia, wo die Mordkommission ihr Einsatzzentrum eingerichtet hatte, oder das Pathologische Institut von Westminster, wo Skirmishs Leiche aufbewahrt wurde. Ich hoffte, dass es das Einsatzzentrum sein würde, aber natürlich war es das Leichenschauhaus.
»Aber Sie kennen sich mit naturwissenschaftlichen Methoden aus?«, fragte Nightingale nach einer Weile.
»Jawohl, Sir«, antwortete ich und beschloss, gelegentlich mein Wissen über Bacon, Descartes und Newton aufzufrischen. Beobachtung, Hypothese, Experiment und … den Rest würde ich nachlesen, wenn ich wieder vor meinem Laptop saß.
»Gut«, sagte Nightingale, »denn ich brauche jemanden mit einer gewissen Objektivität.«
Ganz klar das Leichenschauhaus, dachte ich.
Die offizielle Bezeichnung lautet Iain West Forensic Suite. Es ist einer der gelungeneren Versuche des Innenministeriums, seine Pathologie-Institute so cool wirken zu lassen wie die in den amerikanischen TV-Serien. Damit schmutzige Polizisten die Leichen nicht mit den geringsten Verunreinigungen besudeln konnten, hatte man einen besonderen Beobachterraum eingerichtet, in den Live-Autopsien über Videokameras übertragen werden konnten. Dadurch wurde selbst die grausigste Obduktion auf nichts weiter als ein paar schauerliche Bilder reduziert, so ähnlich wie in einer TV-Doku. Ich war sehr dafür, die Sache vom Beobachtungsraum aus zu verfolgen, aber Nightingale erklärte, wir müssten so nahe wie möglich an die Leiche heran.
»Warum?«, wollte ich wissen.
»Weil es außer Sehen und Hören auch noch andere Sinne gibt.«
»Reden wir hier von außersinnlicher Wahrnehmung?«
»Gehen Sie einfach unvoreingenommen an die Sache heran«, sagte Nightingale.
Wir mussten saubere Schutzanzüge und Gesichtsmasken überziehen, bevor man uns erlaubte, uns dem Autopsietisch zu nähern. Wir waren keine Angehörigen, daher hatte sich niemand die Mühe gemacht, den Spalt zwischen den Schultern und dem Kopf abzudecken. Ich beglückwünschte mich, dass ich vorhin kein Bentō gegessen hatte.
Vermutlich war William Skirmish im Leben ein recht unauffälliger Mann gewesen. Mittleres Alter, Größe knapp über dem Durchschnitt, körperlicher Zustand leicht schwabbelig, aber nicht dick. Es fiel mir überraschend leicht, den abgetrennten Kopf mit dem ungleichmäßig gezackten Rand an der Stelle zu betrachten, wo er eigentlich auf dem Hals hätte sitzen sollen. Die meisten Leute denken, ein junger Polizist bekommt als ersten Toten immer ein Mordopfer zu sehen, aber die Wahrheit ist weniger spannend: Gewöhnlich handelt es sich um das Opfer eines Autounfalls. Meinen ersten Toten hatte ich am zweiten Tag meiner Ausbildung zu Gesicht bekommen – ein Fahrradkurier, dem ein Kleintransporter den Kopf abgetrennt hatte. Zwar gewöhnt man sich nicht unbedingt an den Anblick, aber zumindest lernt man dabei, dass es noch viel schlimmer sein könnte. Es war nicht gerade angenehm, Mister Kopflos genauer zu betrachten, aber ich gebe zu, dass es weniger schrecklich war, als ich mir vorgestellt hatte.
Nightingale trat nahe an den Autopsietisch und steckte praktisch die Nase in den Spalt zwischen Kopf und Körper. Nach kurzer Zeit trat er zurück, schüttelte den Kopf und wandte sich zu mir um. »Helfen Sie mir mal, ihn umzudrehen.«
Ich verspürte kein großes Verlangen, die Leiche anzufassen, nicht mal mit den Schutzhandschuhen, aber natürlich durfte ich jetzt nicht die Nerven verlieren. Der Körper war schwerer, als ich erwartet hatte, kalt und starr kippte er auf den Bauch. Ich trat schnell ein paar Schritte zurück, aber Nightingale winkte mich wieder näher.
»Ich möchte, dass Sie Ihr Gesicht so nahe wie möglich an seinen Nacken bringen, die Augen schließen und mir sagen, was Sie spüren«, befahl er.
Ich zögerte.
»Ich versichere Ihnen, dass Ihnen der Grund dafür gleich klar wird«, sagte er.
Gesichtsmaske und Augenschutz halfen ein bisschen, denn so war die Gefahr gering, dass ich den Toten versehentlich küsste. Ich folgte Nightingales Anweisung und schloss die Augen. Zuerst nahm ich nur den Geruch von Desinfektionsmittel, rostfreiem Stahl und frisch gewaschener Haut wahr, doch nach ein paar Augenblicken sickerte noch etwas anderes in meine Wahrnehmung, ein Kratzen und Hecheln, eine feuchte Schnauze, ein wedelnder Schwanz.
»Nun?«, fragte Nightingale.
»Ein Hund«, sagte ich. »Ein kleiner kläffender Köter.«
Knurren, Bellen, Schreien, blitzlichtartiges Glitzern nasser Straßensteine, Stöcke, Lachen – ein irres, schrilles Gelächter.
Ich fuhr zurück und richtete mich auf.
»Gewalt? Gelächter?«, erkundigte sich Nightingale. Ich nickte stumm.
»Was war das?«, fragte ich schließlich verwirrt.
»Das Unheimliche«, antwortete Nightingale. »Sie können es mit einem optischen Effekt vergleichen. Wenn man in helles Licht schaut und dann die Augen schließt, bleibt ein sogenanntes Nachbild zurück. Was Sie soeben wahrgenommen haben, ist ein solches Nachbild, eine Art Spur, und deshalb spricht man von einem Vestigium, das lateinische Wort für Spur.«
»Und woher weiß ich, dass ich mir das alles nicht nur einbilde?«, wollte ich wissen.
»Das ist Erfahrungssache. Nach einer Weile lernen Sie, den Unterschied zu erkennen.«
Zu meiner Erleichterung wandte er sich von der Leiche ab, und wir verließen den Raum.
»Aber ich habe kaum etwas wahrgenommen«, sagte ich, während wir die Schutzkleidung ablegten. »Ist es immer so schwach?«
»Diese Leiche liegt seit zwei Tagen in der Kühlkammer«, sagte er. »Außerdem bleiben die Vestigia in einem toten Körper nicht sehr lange erhalten.«
»Dann muss also das, was es auslöste, sehr stark gewesen sein«, vermutete ich.
»Richtig. Wir dürfen deshalb annehmen, dass der Hund sehr wichtig ist, und müssen den Grund dafür herausfinden.«
»Vielleicht hatte Mr. Skirmish einen Hund?«
»Ja«, antwortete Nightingale, »und damit fangen wir an.«
Wir hatten uns umgezogen und waren auf dem Weg zum Ausgang, als uns das Schicksal einholte.
»Ich hab gerüchteweise gehört, dass in diesem Bau ein furchtbarer Gestank ausgebrochen ist – und verdammt noch mal, es stimmt!«, ertönte eine laute Stimme hinter uns.
Wir blieben stehen und drehten uns um.
Detective Chief Inspector Alexander Seawoll war ein hochgewachsener Mann, knapp zwei Meter groß, mit fassähnlicher Brust, Bierbauch und einer Stimme, die die Toten aus den Gräbern treiben konnte. Er stammte aus Yorkshire oder einer ähnlichen Gegend, und wie viele Nordengländer mit Problemen war er nach London gezogen, weil das eine billigere Alternative zu einer psycho-therapeutischen Behandlung war. Ich kannte ihn nur dem Ruf nach, und dieser Ruf besagte, dass man sich unter absolut gar keinen Umständen mit ihm anlegen durfte. Jetzt stürmte er durch den Korridor auf uns zu wie ein Bulle mit einer Überdosis Steroiden im Blut, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht hinter Nightingales Rücken in Deckung zu gehen.
»Das ist verdammt noch mal meine Ermittlung!«, donnerte Seawoll. »Ist mir scheißegal, mit wem Sie gerade rummachen, aber ich will nicht, dass dieser Akte-X-Scheiß meinen ordentlichen polizeilichen Ermittlungen in die Quere kommt!«
»Ich versichere Ihnen, Inspector«, sagte Nightingale ruhig, »dass ich nicht die Absicht habe, Ihnen in die Quere zu kommen.«
Seawoll drehte den Kopf halb in meine Richtung. »Und wer zum Teufel ist das?«
»Das ist Police Constable Peter Grant. Er arbeitet mit mir zusammen.«
Das verschlug Seawoll für einen Augenblick die Sprache. Er musterte mich eingehend, dann wandte er sich wieder an Nightingale. »Sie nehmen einen Lehrling auf?«
»Möglicherweise«, antwortete Nightingale.
»Das werden wir ja sehen«, knurrte Seawoll. »Schließlich gibt es eine Abmachung.«
»Die Umstände können sich ändern.«
»Nichts ändert sich verdammt noch mal so sehr«, bellte Seawoll, aber mir schien, dass er nicht mehr ganz so selbstsicher wirkte. Wieder starrte er auf mich herab. »Ich geb dir einen guten Rat, mein Junge«, sagte er leise. »Lauf von diesem Mann weg, solange du noch kannst.«
»Wäre das alles?«, erkundigte sich Nightingale gelassen.
»Mischen Sie sich einfach nicht in meine Ermittlungen ein«, sagte Seawoll.
»Ich tue, was nötig ist«, sagte Nightingale. »So lautet die Abmachung.«
»Die Umstände können sich verdammt noch mal ändern«, knurrte Seawoll. »Wenn mich die Herren jetzt bitte entschuldigen wollen – meine Darmspülung ist schon überfällig.«
Er stampfte durch den Korridor zurück, stieß krachend die Flügeltür auf und verschwand.
»Was ist das für eine Abmachung?«, fragte ich.
»Nicht wichtig. Kommen Sie – schauen wir mal, ob wir vielleicht diesen Hund finden können.«
Im Norden wird der London Borough of Camden von zwei Hügeln begrenzt, der westliche Hügel heißt Hampstead, der östliche Highgate, und Hampstead Heath, einer der größten Parks in London, breitet sich zwischen ihnen aus. Von den Hügeln fällt das Land zur Themse und zu den Flussauen ab, die jedoch längst unter dem heutigen Zentrum Londons verschwunden sind.
Dartmouth Park, wo William Skirmish gewohnt hatte, lag auf den unteren Hängen von Highgate Hill, und Hampstead Heath war von dort bequem zu Fuß zu erreichen. Er hatte die Erdgeschosswohnung eines umgebauten viktorianischen Reihenhauses bewohnt, das Eckhaus in einer von Bäumen gesäumten Straße, die man fast bis zur Bewusstlosigkeit verkehrsberuhigt hatte.
Noch weiter hügelabwärts lagen Kentish Town, Leighton Road und das Viertel, in dem ich aufgewachsen war. Einige meiner Klassenkameraden hatten nicht weit von Skirmishs Wohnung gewohnt, deshalb kannte ich auch dieses Viertel recht gut.
An einem der Fenster im Obergeschoss tauchte ein Gesicht hinter den Vorhängen auf, als wir unsere Ausweise dem uniformierten Polizisten zeigten, der an der Tür Wache stand. Wie in vielen umgebauten Reihenhäusern hatte man auch hier in den früher eleganten Vorraum eine Zwischenwand eingezogen und ihn so in zwei schmale, düstere Korridore geteilt. Statt einer gab es nun zwei Haustüren, die nebeneinander eingebaut worden waren. Die rechte Tür stand halb offen, war aber symbolisch mit einem Polizeiband versperrt. Die linke Tür führte vermutlich zu der Wohnung, in der jemand hinter den Vorhängen hervorgespäht hatte.
Skirmishs Wohnung war ordentlich aufgeräumt. Die Möbel waren ein stilistisches Sammelsurium – wie es meist der Fall ist bei ganz normalen Leuten, die nicht den Ehrgeiz verspüren, bei ihrer Wohnungseinrichtung jeden Modetrend der Möbelindustrie mitzumachen. Weniger Bücherregale, als ich bei einem Medienmenschen erwartet hätte. Dafür besaß er viele Fotos, aber bei den meisten Bildern, auf denen Kinder zu sehen waren, handelte es sich um Schwarz-Weiß-Fotos oder alte, verblassende Instamatic-Bilder.
»Ein Leben in stiller Verzweiflung«, kommentierte Nightingale. Ich wusste, dass das ein Zitat war, wollte ihm aber nicht die Genugtuung verschaffen, nach dem Autor zu fragen.
Was immer Chief Inspector Seawoll sein mochte, ein Idiot war er jedenfalls nicht. Wir sahen sofort, dass sein Ermittlungsteam gut und gründlich gearbeitet hatte. Auf dem Telefon, den Türknaufen und -zargen waren Puderreste der Spurensicherung zu sehen; Bücher waren von den Regalen genommen und manche verkehrt herum wieder zurückgestellt worden. Dies schien Nightingale mehr zu ärgern, als eigentlich angebracht gewesen wäre. »Schlamperei«, brummte er. Schubladen waren herausgezogen, durchsucht und nicht mehr ganz zurückgeschoben worden, als Zeichen, dass sie bereits durchsucht worden waren. Garantiert war alles, was irgendwie bemerkenswert war, aufgezeichnet und in HOLMES eingegeben worden – vermutlich von armen Schweinen wie Lesley. Aber das Ermittlungsteam wusste nichts von meinen übersinnlichen Kräften und dem Vestigium des bellenden Hundes.
Und es gab tatsächlich einen Hund. Entweder das oder Skirmish hatte eine besondere Vorliebe für PAL-Fleischbrocken in Soße, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass sein stilles Leben dermaßen verzweifelt gewesen war.
Ich wählte Lesleys Handynummer.
»Befindet sich irgendwo in deiner Nähe ein HOLMES-Terminal?«, fragte ich.
»Seit ich hier angefangen habe, sitze ich ununterbrochen vor dem verdammten Ding! Sie haben mich für die Dateneingabe und den ganzen Scheiß mit der Aussagenüberprüfung eingeteilt.«
»Echt?«, sagte ich und gab mir Mühe, nicht schadenfroh zu klingen. »Rate mal, wo ich grade bin?«
»Du bist in Skirmishs verdammter Wohnung in Dartmouth Park«, sagte sie verbittert.
»Woher weißt du das?«
»Weil es DCI Seawoll hier gerade durch die ganze Etage brüllt. Wer ist Inspector Nightingale?«
Ich schaute zu Nightingale hinüber, der mich ungeduldig anstarrte. »Erzähl ich dir später. Kannst du mal schnell etwas für mich nachprüfen?«
»Klar doch«, sagte Lesley. »Was genau?«
»Als das Ermittlungsteam die Wohnung durchsuchte, haben sie da einen Hund gefunden?«
Ich hörte, wie sie auf die Tastatur hämmerte und einen Suchbefehl über die wichtigsten Dateien laufen ließ. »Im Bericht wird kein Hund erwähnt.«
»Danke«, sagte ich. »Du hast soeben einen wertvollen Beitrag geleistet.«
»Dafür zahlst du sämtliche Drinks heute Abend«, fauchte sie und legte auf.
Ich erzählte Nightingale von dem fehlenden Hund.
»Besuchen wir mal die neugierige Nachbarin«, sagte Nightingale. Offenbar hatte er das Gesicht am Fenster ebenfalls bemerkt.
Neben den Haustüren war über den Klingelknöpfen eine Türsprechanlage angebracht. Nightingale hatte kaum auf die Taste gedrückt, als der Türöffner bereits zu summen anfing und eine Stimme sagte: »Kommen Sie nur rauf, mein Lieber.« Noch einmal summte es und auch die innere Tür öffnete sich. Dahinter führte eine leicht angestaubte, aber ansonsten saubere Treppe nach oben, und als wir hinaufstiegen, hörten wir einen kleinen Hund kläffen. Die ältere Dame, die uns oben erwartete, hatte keine silberblau gefärbten Haare (ich wundere mich sowieso immer, wie jemand auf die Idee kommen kann, sich die Haare silberblau färben zu lassen?), sie trug keine fingerlosen Handschuhe und hielt offenbar auch nicht eine Menge Katzen in der Wohnung. Trotzdem hatte sie etwas an sich, das mich vermuten ließ, dass sie all diese Dinge in nicht allzu ferner Zukunft ernsthaft in Erwägung ziehen würde. Sie war recht groß für eine kleine alte Dame, mager und gelenkig und nicht im Geringsten senil. Sie stellte sich uns als Mrs. Shirley Palmarron vor.
Wir wurden in ein Wohnzimmer gebeten, das anscheinend seit den siebziger Jahren keine größeren Veränderungen mehr erfahren hatte. Sie bot uns Tee und Kekse an. Während sie in der Küche beschäftigt war, bellte der Hund, ein weiß-braun gefleckter Kurzhaarterrier, ununterbrochen und wedelte mit dem Schwanz. Offenbar wusste er nicht, wer von uns beiden die größere Bedrohung darstellte, denn er schwang unablässig den Kopf hin und her, bis Nightingale direkt mit dem Zeigefinger auf seine Schnauze zeigte und leise etwas murmelte. Der Hund hörte schlagartig auf zu bellen, kippte steif auf die Seite, schloss die Augen und schlief ein.
Ich starrte Nightingale an, aber er hob nur eine Augenbraue.
»Ist Toby eingeschlafen?«, erkundigte sich Mrs. Palmarron, als sie mit dem Teetablett hereinkam. Nightingale sprang auf, half ihr, das Tablett auf den Teetisch zu stellen, und wartete, bis sich unsere Gastgeberin gesetzt hatte, bevor er selbst wieder Platz nahm.
Toby strampelte ein wenig mit den Beinen und knurrte leise im Schlaf. Offensichtlich würde nichts außer dem Tod diesen Köter gänzlich zum Schweigen bringen.
»Er ist recht lebhaft«, erklärte Mrs. Palmarron, während sie den Tee eingoss.
Da nun Toby endlich einigermaßen still war, fand ich Gelegenheit, mich umzusehen. In Mrs. Palmarrons Wohnung gab es nichts, was auf einen Hund hindeutete. Auf dem Kaminsims standen Fotos, vermutlich von Mr. Palmarron und ihren Kindern, aber es gab weder Chintz noch irgendwelche Porzellanfigürchen. Keinen Hundekorb neben dem offenen Kamin und keine Hundehaare in den Ecken des Sofas. Ich nahm Notizbuch und Kuli heraus.
»Gehört er Ihnen?«, fragte ich.
»Um Himmels willen, nein!«, rief Mrs. Palmarron aus. »Er gehörte dem armen Mr. Skirmish, aber ich kümmere mich schon eine ganze Weile um ihn. Er ist ein recht nettes Tier, wenn man sich erst einmal an ihn gewöhnt hat.«
»Er war also schon vor Mr. Skirmishs Tod hier?«, fragte Nightingale.
»Oh ja. Sie müssen wissen, Toby entzieht sich dem Arm des Gesetzes, er ist sozusagen auf der Flucht.«
»Welches Verbrechen hat er begangen?«, wollte Nightingale wissen.
»Er wird wegen eines Überfalls mit Körperverletzung gesucht«, erklärte Mrs. Palmarron. »Er hat einen Mann gebissen. Direkt in die Nase. Man rief die Polizei und so weiter.« Sie blickte auf Toby hinunter, der offenbar im Traum Ratten jagte. »Wenn ich dir nicht erlaubt hätte, hier Zuflucht zu suchen, mein Kleiner, dann hätten sie dich in den Hundeknast gesteckt oder dir gleich die Nadel gegeben.«
Ich rief das Polizeirevier in Kentish Town an, wo ich zum Revier von Hampstead weiterverbunden wurde, wo man mir mitteilte, ja, es sei ein Anruf wegen eines Hundeangriffs auf der Hampstead Heath eingegangen, kurz vor Weihnachten, aber das Opfer habe keine Anzeige erstattet und das sei alles, was im Bericht stehe. Sie gaben mir Namen und Adresse des Opfers durch: Brandon Coopertown, Downshire Hill, Hampstead.
»Sie haben den Hund verhext«, sagte ich, als wir das Haus verließen.
»Nur ein kleines bisschen«, wehrte Nightingale bescheiden ab.
»Also gibt es wirklich Magie«, sagte ich. »Und Sie sind … was denn nun?«
»Ein Zauberer.«
»Wie Harry Potter!«
Nightingale seufzte. »Nein, nicht wie Harry Potter.«
»Wieso nicht?«
»Ich bin schließlich keine fiktive Romanfigur«, antwortete er.
Wir stiegen in den Jaguar und fuhren nach Westen, südlich an der Hampstead Heath vorbei und dann hügelaufwärts nach Hampstead hinein. Das Gewirr von schmalen Straßen hier oben war mit BMWs und riesigen Geländewagen zugeparkt. Die Häuser in dieser Gegend gab es nur für siebenstellige Summen zu kaufen, und wenn hier jemand »ein Leben stiller Verzweiflung« führte, dann hatte die stille Verzweiflung ganz bestimmt nichts mit Geldmangel zu tun.
Nightingale parkte den Jaguar in einer Parkbucht, die für Anwohner reserviert war. Wir gingen Downshire Hill hinauf und suchten nach der richtigen Hausnummer. Das Haus befand sich mitten in einer Reihe großer, villenähnlicher viktorianischer Doppelhäuser, die in vornehmer Entfernung von der Straße standen. Es war prächtig herausgeputzt, mit neugotischen Fenstern und Türen, Erkerfenstern und einem professionell gepflegten Vorgarten, und weil keine Sprechanlage vorhanden war, stand zu vermuten, dass den Coopertowns das ganze Ding gehörte.
Als wir uns der Haustür näherten, hörten wir ein Baby weinen. Nach der Tonlage zu urteilen, hatte es sich eine schöne, ausführliche Quengelei vorgenommen und würde womöglich den ganzen Rest des Tages weiterschreien. In einem derart teuren Haus rechnete ich fest damit, dass die Tür von einem Kindermädchen oder wenigstens einem Au-Pair-Mädchen geöffnet werden würde, aber stattdessen machte eine Frau auf, die zu abgekämpft aussah, um nur Angestellte zu sein.
Augusta Coopertown war etwa Ende zwanzig, groß, blond und Dänin. Über ihre Staatsangehörigkeit wussten wir sehr schnell Bescheid, weil sie uns fast sofort über diese Tatsache informierte. Vor dem Baby hatte sie eine attraktive, schlanke Figur besessen, aber die Schwangerschaft hatte ihre Hüften verbreitert und ein paar Pfund Fett auf ihre Schenkel gelegt. Das ließ sie ebenfalls ziemlich bald in das Gespräch einfließen. Augusta zufolge war all das die Schuld der Engländer, die niemals den hohen Standards entsprechen konnten, die eine Skandinavierin, die etwas auf sich hielt, erwarten würde. Das alles war mir neu, aber vielleicht gibt es in dänischen Geburtskliniken ein Fitnessstudio direkt neben dem Kreißsaal.
Wir saßen in ihrem Wohnsalon mit durchbrochener Wand zum Esszimmer. Die Böden waren mit hellen Holzdielen belegt und überhaupt war hier mehr gelaugtes Kiefernholz verarbeitet worden, als man für die Herstellung von hundert Saunakabinen benötigen würde. Trotz Augustas Bemühungen hatte es das Baby bereits geschafft, die gnadenlos sterile Sauberkeit ihres Haushalts ernsthaft zu gefährden. Ein Fläschchen war zwischen die massiven Eichenfüße des Sideboards gerollt, auf der Bang & Olufson-Stereoanlage lag ein zerknitterter Strampelanzug und es roch stark nach saurer Milch und Aufgestoßenem.
Das Baby lag in seinem vierhundert Pfund teuren Bettchen und schrie immer noch.
Familienporträts hingen in geschmackvollem Arrangement über dem betont schlichten Kaminsims. Brandon Coopertown war ein gut aussehender Mann Mitte vierzig mit schwarzem Haar und schmalem Gesicht. Während sich Mrs. Coopertown um dies und jenes kümmerte, nahm ich heimlich ein Foto mit meiner Handykamera auf.
»Vergesse immer, dass man mit diesen Dingern auch fotografieren kann«, murmelte Nightingale.
»Willkommen im 21. Jahrhundert«, sagte ich. »Sir.«
Nightingale sprang höflich auf, als Mrs. Coopertown leicht gehetzt zurückkam, aber dieses Mal hatte ich aufgepasst und sprang ebenfalls auf.
»Darf ich fragen, was Ihr Mann beruflich macht?«, erkundigte sich Nightingale.
Er war Fernsehproduzent, und zwar ein erfolgreicher, der mit mehreren Filmpreisen der British Academy of Film and Television Arts ausgezeichnet worden war, und verkaufte seine Formate sogar in die Vereinigten Staaten – was auch das garantiert sündteure Domizil (mindestens siebenstellig, schätzte ich) erklärte. Er hätte sogar noch erfolgreicher sein können, aber das engstirnige britische Fernsehen behinderte total seinen Aufstieg in die ultimativen Höhen der internationalen Filmproduktion. Wenn die Engländer nur endlich aufhören würden, Programme zu machen, für die sich höchstens das einheimische Publikum interessierte, oder wenn sie auch mal Schauspieler einsetzen würden, die wenigstens halbwegs attraktiv waren …
So faszinierend Mrs. Coopertowns Anmerkungen zur Provinzialität des britischen Fernsehens auch waren, irgendwann mussten wir doch die Frage nach dem Zwischenfall mit dem Hund stellen.
»Auch das ist absolut typisch britisch«, erklärte Mrs. Coopertown. »Natürlich wollte Brandon keine Anzeige erstatten, er ist schließlich Engländer. Wollte kein Aufhebens machen. Der Polizist hätte den Hundebesitzer trotzdem anzeigen müssen! Das Tier war eindeutig eine Gefahr für die Öffentlichkeit – der Hund hat den armen Brandon direkt in die Nase gebissen!«
Das Baby legte eine Pause ein und wir hielten alle den Atem an, aber dann rülpste es nur und begann wieder zu weinen. Ich warf Nightingale einen auffordernden Blick zu und verdrehte die Augen in Richtung Baby, vielleicht hatte er ja noch eine Babyvariante des Zauberspruchs für Toby in petto, aber er schaute mich nur irritiert an und runzelte die Stirn. Möglicherweise hatte er ein ethisches Problem damit, Babys zu verhexen.
Mrs. Coopertown zufolge war das Baby völlig friedlich gewesen, bis die Sache mit dem Hund passiert war, aber jetzt, nun, jetzt dachte Mrs. Coopertown, dass ihr Kind vielleicht zahnte oder eine Kolik oder gar Sodbrennen hatte. Ihr Hausarzt hatte keine Ahnung und war ihr gegenüber dermaßen kurz angebunden gewesen, dass sie überlegte, ob nicht eine private Krankenversicherung angezeigt war.
»Wie hat es der Hund geschafft, Ihren Mann in die Nase zu beißen?«, fragte ich.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Mrs. Coopertown zurück.
»Sie haben doch gesagt, Ihr Mann sei in die Nase gebissen worden. Der Hund ist sehr klein. Wie konnte er an seine Nase kommen?«
»Mein Mann war so dumm, sich zu ihm hinabzubeugen«, erklärte sie. »Wir gingen gerade spazieren, wir alle drei, da rannte dieser Hund daher. Mein Mann bückte sich, um ihn zu kraulen, und schnapp!, ohne Vorwarnung biss ihn der Hund in die Nase. Mir kam die Sache zuerst richtig komisch vor, aber dann fing Brandon an zu schreien, und dann kam auch noch dieser widerliche kleine Mann angelaufen und fing an zu brüllen, ›He Sie, was haben Sie mit meinem armen Hund gemacht, lassen Sie ihn sofort in Ruhe!‹«
»Der ›widerliche kleine Mann‹ war wohl der Hundebesitzer?«, fragte Nightingale.
»Widerlicher kleiner Köter, widerlicher kleiner Mann«, nickte Mrs. Coopertown.
»Und Ihr Mann – war er sehr verstört?«
»Wie kann man das wissen, bei einem Engländer?«, fragte Mrs. Coopertown. »Ich lief los, um etwas zu holen, womit wir das Blut stillen konnten, und als ich zurückkam, lachte Brandon – für euch ist doch alles nur ein Witz! Sogar die Polizei musste ich selber rufen. Sie kamen, Brandon zeigte ihnen seine Nase und alle fingen an zu lachen. Alle waren glücklich und zufrieden, selbst der widerliche kleine Köter war glücklich und zufrieden.«
»Aber Sie waren nicht glücklich und zufrieden?«, fragte ich.
»Darum geht es nicht«, entgegnete Mrs. Coopertown streng. »Wenn ein Hund einen Menschen beißt, was hindert ihn dann, ein Kind oder ein Baby zu beißen?«
»Darf ich fragen, wo Sie Dienstagnacht waren?«, fragte Nightingale.
»Wo ich jede Nacht bin«, antwortete sie. »Hier, und ich habe mich um unseren Sohn gekümmert.«
»Und wo war Ihr Mann?«
Augusta Coopertown: nervtötend, ja; blond, ja; dumm, nein. »Warum wollen Sie das wissen?«, fragte sie misstrauisch.
»Nicht so wichtig«, sagte Nightingale.
»Ich dachte, Sie sind wegen der Sache mit dem Hund hier?«
»Sind wir auch«, nickte Nightingale. »Aber wir möchten gern noch ein paar Einzelheiten mit Ihrem Mann klären.«
»Glauben Sie etwa, ich hätte das alles erfunden?«, fragte Mrs. Coopertown. Jetzt lag der Blick eines erschreckten Kaninchens in ihren blauen Augen, den alle rechtschaffenen Bürger spätestens nach fünf Minuten bekommen, wenn sie von der Polizei befragt werden. Bleiben sie zu lange ruhig und gelassen, ist das ein Zeichen, dass sie professionelle Bösewichte sind, oder Ausländer, oder einfach dumm. Für alle drei Eigenschaften könnten sie eingebuchtet werden, wenn sie nicht aufpassen. Sollten Sie jemals von der Polizei verhört werden, ist mein Rat, ruhig zu bleiben, aber schuldig dreinzuschauen: das ist die sicherste Schiene.
»Keineswegs«, versicherte Nightingale. »Aber da er nun mal der wichtigste Zeuge ist, brauchen wir seine Aussage.«
»Er ist in Los Angeles«, sagte sie. »Kommt heute Nacht zurück.«
Nightingale legte seine Karte auf den Tisch und versprach Mrs. Coopertown, dass er, und damit spreche er auch für sämtliche redlichen Polizisten, Angriffe durch kleine kläffende Köter sehr ernst nehme und dass er sich wieder melden werde.
»Was haben Sie dort drin gespürt?«, wollte Nightingale wissen, als wir zu seinem Jaguar zurückgingen.
»Im Sinne von irgendwelchen Vestigium?«, fragte ich.
»Vestigium ist der Singular; der Plural lautet Vestigia«, erklärte Nightingale. »Also: Spürten Sie Vestigia?«
»Um ehrlich zu sein, nein. Nichts. Nicht mal einen kümmerlichen Hauch.«
»Ein weinendes Kind. Eine verzweifelte Mutter. Ein abwesender Vater. Ganz zu schweigen von einem Haus dieses Alters«, überlegte Nightingale laut. »Da müsste doch irgendetwas vorhanden sein.«
»Sie kam mir ein wenig wie ein Sauberkeitsfreak vor«, sagte ich. »Vielleicht hat sie alle Magie weggeputzt?«
»Irgendjemand hat das ganz bestimmt getan. Morgen unterhalten wir uns mal mit ihrem Mann. Jetzt gehen wir zum Covent Garden zurück und versuchen festzustellen, ob wir nicht doch noch eine Spur finden können.«
»Es ist jetzt drei Tage her«, wandte ich ein. »Wären da die Vestigia nicht längst verschwunden?«
»Steine halten Vestigia recht gut. Darum haben alte Gebäude so viel Charakter. Dennoch wird es nicht leicht festzustellen sein – nicht mit all den Fußgängern und der übernatürlichen Komponente des Bezirks.«
Wir hatten den Jaguar erreicht. »Können Tiere Vestigia wahrnehmen?«, fragte ich.
»Hängt vom Tier ab«, antwortete Nightingale.
»Angenommen, dieses spezielle Tier hat etwas mit dem Fall zu tun?«
»Warum müssen wir in deinem Zimmer trinken?«, wollte Lesley wissen.
»Weil sie mich nicht mit dem Hund ins Pub lassen«, sagte ich.
Lesley, die auf meinem Bett hockte, beugte sich hinunter und kraulte Toby hinter den Ohren. Der Hund jaulte leise vor Vergnügen und schob den Kopf zwischen Lesleys Knie. »Du hättest ihnen sagen sollen, dass es sich um einen geisterjagenden Hund handelt«, meinte sie.
»Wir jagen nicht nach Geistern. Wir suchen nach Spuren von übernatürlicher Energie.«
»Hat er wirklich behauptet, ein Zauberer zu sein?«
Langsam bedauerte ich, Lesley alles erzählt zu haben. »Ja. Und ich habe auch gesehen, wie er einen Zauberspruch anwandte und so.«
Wir tranken ein paar Flaschen Grolsch aus einer Kiste, die Lesley bei der Weihnachtsfeier entführt und hinter einem losen Stück Gipskartonplatte in der Kleinküche versteckt hatte.
»Erinnerst du dich an den Typen, den wir letzte Woche wegen eines Überfalls verhaftet haben?«
»Wie könnte ich den vergessen?« Schließlich war ich bei der Rangelei brutal gegen eine Wand geknallt worden.
»Ich denke mal«, sagte Lesley bedächtig, »dass dein Kopf doch mehr abbekommen hat, als wir dachten.«
»Es ist alles total real. Der Geist, die Magie, einfach alles.«
»Dann müsste doch alles irgendwie verändert wirken?«, fragte sie.
»Nein, denn es war schon die ganze Zeit da, direkt vor deiner Nase. Nichts hat sich geändert, deshalb bemerkst du auch keine Veränderungen.« Ich trank den letzten Schluck aus der Flasche. »Klaro?«
»Ich hab dich immer für einen Skeptiker gehalten. Für einen, der in wissenschaftlichen Kategorien denkt.«
Ich gestikulierte mit der neuen Flasche, die sie mir in die Hand drückte. »Okay«, sagte ich. »Also, du weißt, mein Dad spielte Jazz.«
»Klar. Du hast mich ihm mal vorgestellt, weißt du noch? Ich fand ihn echt nett.«
Ich unterdrückte ein Stöhnen. »Und du weißt auch, dass es beim Jazz darum geht, um eine Melodie herum zu improvisieren?«
»Tatsächlich? Und ich dachte immer, man singt über Käse und wie man die Hosenträger festmacht.«
»Sehr witzig. Jedenfalls hab ich meinen Dad gefragt« (als er mal nüchtern war – aber das sagte ich nicht laut), »woher er weiß, was er spielen muss. Und er sagte, wenn man die Grundlinie einer Melodie findet, weiß man es einfach, weil es dann perfekt ist. Du findest die richtige Grundlinie und brauchst ihr nur noch zu folgen.«
»Und was hat das mit deiner Geisterjagd zu tun?«
»Was Nightingale tun kann, passt genau zu der Art und Weise, wie ich die Welt wahrnehme – es ist die richtige Grundlinie.«
Lesley lachte. »Du möchtest also Zauberer werden.«
»Ich weiß nicht.«
»Du lügst«, stellte sie fest. »Du willst sein Lehrling werden und Magie lernen und auf einem Besen reiten.«
»Ich glaub nicht, dass echte Zauberer auf einem Besen reiten«, sagte ich.
»Würdest du mal kurz über das nachdenken, was du da eben gesagt hast? Und überhaupt, woher willst du das wissen? Er könnte ja genau in diesem Moment irgendwo durch die Lüfte fegen.«
»Weil, wenn du ein Auto wie seinen Jaguar besitzt, du ganz bestimmt nicht auf einem Besen durch die Lüfte dümpeln willst.«
»Okay, überzeugendes Argument«, nickte Lesley und wir stießen mit den Flaschen an.
Covent Garden, nachts, wieder mal. Dieses Mal mit Hund.
Außerdem war es Freitagnacht, was bedeutete, dass Unmengen junger Menschen sturzbesoffen und in zwanzig Sprachen grölend durch die Straßen zogen. Ich musste Toby tragen, um ihn in dem dichten Gedränge nicht zu verlieren. Er genoss den Transport auf seine Weise – abwechselnd knurrte er die Touristen an, leckte mein Gesicht oder versuchte, die Nase unter die Achseln irgendwelcher Passanten zu stecken.
Ich hatte Lesley die Chance geboten, ein paar unbezahlte Überstunden zu machen, doch seltsamerweise hatte sie abgelehnt. Aber ich hatte ihr das Foto von Brandon Coopertown gemailt, und sie hatte versprochen, die Angaben über ihn in HOLMES einzugeben. Kurz nach elf kamen Toby und ich auf die Piazza und entdeckten Nightingales Jaguar, der so dicht neben der Schauspielerkirche geparkt war, wie man es gerade noch riskieren konnte, wenn man nicht abgeschleppt werden wollte.
Nightingale stieg aus, als ich näher kam. Er hielt denselben Stock mit Silberknauf in der Hand, den ich schon beim ersten Zusammentreffen bemerkt hatte. Ich fragte mich, ob der Stock irgendeine spezifische Bedeutung hatte, abgesehen davon, dass er natürlich einen ausgesprochen nützlichen stumpfen Gegenstand in kritischen Situationen darstellte.
»Wie wollen Sie vorgehen?«, fragte Nightingale.
»Sie sind der Experte, Sir.«
»Ich habe in der Fachliteratur nachgeschlagen«, sagte Nightingale. »Aber sie war nicht besonders ergiebig.«
»Es gibt dazu eine Fachliteratur?«
»Constable, Sie wären erstaunt, wenn Sie wüssten, über welche Dinge es Fachliteratur gibt.«
»Wir haben zwei Optionen, Sir«, sagte ich. »Entweder geht einer von uns mit ihm am Tatort herum, oder wir lassen ihn laufen und folgen ihm dann einfach.«
»Ich denke, wir sollten beides in dieser Reihenfolge tun. Ich gehe mit ihm los, und Sie bleiben hier bei der Kirche und halten die Augen offen.«
Er sagte nicht, wonach ich die Augen offen halten sollte, aber ich konnte es mir schon denken. Genau wie ich vermutet hatte, waren Nightingale und Toby kaum um die Ecke der Markthallen verschwunden, als ich ein »Psst!« hörte. Ich drehte mich um. Nicholas Wallpenny stand hinter einer Säule und winkte mich zu sich.
»Hier herüber, Wachtmeister«, zischte Nicholas. »Bevor er zurückkommt.« Er zog mich hinter die Säule. Hier, im Schatten, kam mir Nicholas solider und weniger beunruhigend vor. »Wisst Ihr, mit was für einem Mann Ihr Euch da einlasst?«
»Ja – Sie sind ein Geist.«
»Ich meine nicht mich!«, sagte Nicholas. »Sondern den mit dem schönen Anzug und dem Silberknaufprügel.«
»Inspector Nightingale? Er ist mein Boss.«
»Ich will mich nicht in Eure Angelegenheiten einmischen, aber wenn ich Ihr wäre, würde ich mir einen anderen Boss suchen. Jemand, der nicht berührt ist.«
»Berührt von was?«
»Fragt ihn doch einmal nach seinem Geburtsjahr«, flüsterte Nicholas.
Ich hörte Toby kläffen und Nicholas war plötzlich nicht mehr da.
»So machen Sie sich hier keine Freunde, Nicholas«, sagte ich in die Leere.
Schon kam Nightingale mit Toby zurück und hatte nichts zu berichten. Ich erzählte ihm nichts von dem Geist und stellte auch die Frage nicht, die mir der Geist empfohlen hatte. Ich denke immer, es ist wichtig, den Vorgesetzten nicht mit Informationen zu belasten, die er nicht benötigt.
Ich hob Toby hoch, so dass sein absurdes Hundegesicht auf einer Höhe mit meinem Gesicht war, wobei ich versuchte, den Geruch von Pal-Fleischstücken in Soße zu ignorieren.
»Hör zu, Toby. Dein Herrchen ist tot. Ich selbst mach mir nichts aus Hunden. Mein Boss hier würde dein Fell kalt lächelnd zu einem Paar Fäustlinge verarbeiten, ohne mit der Wimper zu zucken. Deine Zukunftsaussichten stellen sich folgendermaßen dar: ein Freifahrtschein zum Hundeasyl in Battersea – und danach der Lange Schlaf. Du hast nur eine einzige Chance, dem großen Zwinger im Hundehimmel zu entgehen, und die besteht darin, deinen möglicherweise vorhandenen hündischen siebten Sinn zu benutzen und den Mann … das Wesen aufzuspüren, das dein Herrchen ermordet hat. Hast du das kapiert?«
Toby hechelte und bellte dann einmal.
»Das muss reichen«, sagte ich und setzte ihn wieder ab. Er trabte sofort zu der Säule und hob ein Hinterbein.
»Ich würde ihn nicht zu Fäustlingen verarbeiten«, bemerkte Nightingale.
»Nein?«
»Er ist ein Kurzhaarterrier«, erklärte er. »Als Fäustlinge sehen die schrecklich aus. Würde aber vielleicht eine akzeptable Fellmütze abgeben.«
Toby schnüffelte auf dem Pflaster herum, nahe bei der Stelle, an der die Leiche seines Besitzers gelegen hatte. Er blickte auf, bellte einmal und schoss in Richtung King Street davon.
»Verdammt«, sagte ich.
»Folgen Sie ihm!«, befahl Nightingale, aber da hatte ich mich schon in Bewegung gesetzt. Detective Chief Inspectors laufen nicht einfach los – dafür haben sie schließlich ihren Constable. Ich sprintete hinter Toby her, der wie alle rattenähnlichen Hunde recht flink sein konnte, wenn er wollte. Er raste am Tesco-Supermarkt vorbei und die New Row hinunter, seine kleinen Beine wirbelten unter ihm wie in einem billigen Zeichentrickfilm. Nach zwei Jahren Jagd auf Betrunkene am Leicester Square hatte ich eine ziemlich gute Kondition, deshalb holte ich tatsächlich ein wenig auf. Toby flitzte über die St. Martin’s Lane und bog auf der anderen Seite in den St. Martin’s Court ein. Ich verlor an Boden, als ich um eine Schlange holländischer Touristen herumkurven musste, die eben aus dem Noël Coward Theatre kamen.
»Polizei!«, brüllte ich. »Aus dem Weg!«
( »Haltet den Hund!« schrie ich nicht, ich habe schließlich auch meinen Stolz.)
Toby sauste an der Sheekey Oyster Bar und an dem Delikatessenimbiss an der Ecke vorbei und schoss über die Charing Cross Road, eine der belebtesten Straßen Londons. Ich musste erst nach beiden Seiten schauen, bevor ich die Straße überquerte, aber ich hatte Glück: Toby hatte bei einer Bushaltestelle angehalten und hob an einem Ticketautomaten das Bein.
Der Bastard schenkte mir jenen selbstzufriedenen Blick, den wohl alle kleinen Hunde auf der ganzen Welt draufhaben, wenn sie sich wieder mal nicht so benehmen, wie man es von ihnen erwartet, oder wenn sie gerade deinen gepflegten Vorgartenrasen umgebuddelt haben. Ich überprüfte, welche Busse hier anhielten – tatsächlich gehörte auch die Linie 24 dazu, die nach Camden Town, Chalk Farm und Hampstead fuhr.
Nach einer Weile kam auch Nightingale, und wir zählten die Überwachungskameras. Es gab mindestens fünf, die einen guten Blick auf die Bushaltestelle hatten, ganz zu schweigen von den Kameras, die die Londoner Verkehrsbetriebe routinemäßig in ihren Bussen installiert hatten. Ich sprach eine Nachricht auf Lesleys Mailbox und bat sie, die Kameraaufzeichnungen der Linie 24 zu überprüfen. Ich denke mal, dass ihr meine Bitte richtig viel Freude machte.
Sie rächte sich mit einem Anruf um acht Uhr am nächsten Morgen.
Ich hasse den Winter. Und ich hasse es, im Dunkeln aufzuwachen.
»Schläfst du eigentlich nie?«, murmelte ich.
»Der frühe Vogel fängt den Wurm«, antwortete sie. »Das Foto, das du mir geschickt hast, das von Brandon Coopertown? Er ist anscheinend kaum zehn Minuten nach dem Mord am Leicester Square in einen Bus der Linie 24 gestiegen.«
»Hast du Seawoll informiert?«
»Natürlich! Ich liebe dich innig, das weißt du, aber ich setze doch nicht wegen dir meine Karriere aufs Spiel.«
»Was genau hast du ihm gesagt?«
»Dass ich einen Hinweis auf Zeuge A hätte, einen von mehreren Hundert, die in den letzten zwei Tagen eingegangen sind, möchte ich hinzufügen.«
»Was hat er gesagt?«
»Dass ich der Sache nachgehen soll«, sagte Lesley.
»Mrs. Coopertown sagte, dass ihr Mann heute zurückkommt.«
»Umso besser.«
»Kannst du mich abholen?«, fragte ich.
»Klar. Was ist mit Voldemort?«
»Er hat meine Handynummer.«
Ich hatte noch Zeit für eine Dusche und einen Kaffee und wartete vor dem Haus auf Lesley. Sie fuhr in einem zehn Jahre alten Honda Accord vor, der so aussah, als sei er für zu viele Drogenrazzien eingesetzt worden. Sie warf mir einen missvergnügten Blick zu, als Toby auf den Rücksitz sprang.
»Der Wagen ist nur ausgeliehen!«, sagte sie.
»Konnte ihn nicht allein in meinem Zimmer lassen.« Toby schnüffelte bereits in den Spalten zwischen den Sitzen herum, der Himmel allein mochte wissen, was er dort roch. »Bist du sicher, dass es Coopertown war?«
Lesley reichte mir ein paar Ausdrucke. Die Sicherheitskamera im Bus war so angebracht, dass sie jeden, der die Treppe heraufkam, voll erfasste. Das Gesicht war klar zu erkennen – er war es.
»Sind das Blutergüsse?«, fragte ich. Auf Coopertowns Wangen und Hals waren dunkle Flecken zu sehen. Lesley wusste es nicht, meinte aber, dass es eine kalte Nacht gewesen sei; die Flecken könnten deshalb auch vom konsumierten Alkohol stammen.
Der Verkehr an diesem Samstag war nicht grauenhaft, sondern nur schrecklich, wir brauchten gerade mal eine halbe Stunde nach Hampstead. Als wir in Downshire Hill einbogen, entdeckte ich leider die vertraute silberne Form des Jaguar, der zwischen den Range Rovers und BMWs geparkt war. Toby begann zu kläffen.
»Schläft der eigentlich nie?«, wollte Lesley wissen.
»Ich vermute, er hat das Haus die ganze Nacht observiert.«
»Jedenfalls ist er nicht mein Boss«, erklärte Lesley. »Deshalb ziehe ich den Job hier durch. Kommst du mit?«
Wir ließen Toby im Auto und gingen auf das Gartentor zu. Inspector Nightingale stieg aus dem Jaguar und trat uns kurz vor dem Tor in den Weg. Ich stellte fest, dass er denselben Anzug trug wie gestern Abend.
»Peter«, sagte er und nickte Lesley zu, »und Constable May. Darf ich daraus folgern, dass Ihre Suche erfolgreich war?«
Selbst die kesseste aller kessen Frauen wagte es nicht, einem ranghohen Polizeibeamten die Auskunft zu verweigern. Lesley erzählte ihm von den Aufzeichnungen der Überwachungskamera im Bus und dass wir zu neunzig Prozent sicher seien, dass Brendon Coopertown zumindest Zeuge A, wenn nicht sogar der Mörder sei, worauf auch das Verhalten unseres Geisterjagdhundes hindeutete.
»Haben Sie seine Flugdaten überprüft?«, fragte Nightingale.
Ich schaute Lesley an, die nur die Schultern zuckte. »Nein, Sir«, sagte ich.
»Er hätte also in Los Angeles sein können, als der Mord geschah?«
»Wir wollten ihn gerade befragen, Sir«, sagte ich.
Toby begann zu bellen, nicht sein gewöhnliches enervierendes Kläffen, sondern ein richtiges wütendes Bellen. Einen Augenblick lang glaubte ich etwas zu spüren, eine Welle von Emotion, so ungefähr wie die Aufregung, wenn man im Stadion in einer dichten Menschenmenge steht und ein Tor fällt.
Nightingales Kopf fuhr herum, und er starrte zum Haus der Coopertowns hinüber.
Im selben Augenblick hörten wir eine Fensterscheibe zersplittern und eine Frau schreien.
»Constable! Warten Sie!«, brüllte Nightingale, aber Lesley war bereits durch das Gartentor gestürmt und rannte durch den Vorgarten. Dann blieb sie so abrupt stehen, dass Nightingale und ich beinahe gegen sie geprallt wären. Sie blickte auf etwas hinunter, das auf dem Rasen lag.
»Mein Gott«, flüsterte sie.
Ich blickte genauer hin. Mein Hirn scheute vor dem Gedanken zurück, dass jemand ein Baby aus dem Fenster im Obergeschoss geworfen haben könnte. Es versuchte mich zu überzeugen, dass das, was ich sah, nur ein Stoffbündel oder eine Puppe war, aber es war nicht so.
»Rufen Sie den Notarzt!«, bellte Nightingale und rannte die Stufen zur Haustür hinauf. Ich griff nach dem Handy, während sich Lesley neben dem Baby auf die Knie fallen ließ. Sie drehte den kleinen Körper um und tastete nach dem Puls. Ich gab die Notrufnummer ein und meldete die Adresse. Lesley beugte sich dicht über das Kind und begann die Mund-zu-Mund-Beatmung. Ihr Mund bedeckte vorschriftsmäßig Mund und Nase des Babys.
»Grant, hierher!«, rief Nightingale. Seine Stimme klang fest und sachlich, aber ihr Ton trieb mich sofort die Treppe hoch. Nightingale hatte anscheinend die Haustür eingetreten, denn ich musste über ihre Bruchstücke springen, um in den Flur zu gelangen. Dort blieb ich stehen, da ich nicht sicher war, woher der Lärm kam.
Die Frau schrie noch einmal – es kam von oben. Gleichzeitig ein dumpfes Geräusch, als ob jemand einen Teppich ausklopfte. Eine Stimme, ich hielt sie für eine Männerstimme, aber sehr schrill, kreischte: »Hast du jetzt immer noch Kopfweh?«
An die Treppe kann ich mich nicht erinnern, aber plötzlich stand ich hinter Nightingale oben am Treppenabsatz. Augusta Coopertown lag mit dem Gesicht nach unten am hinteren Ende des Flurs, ein Arm hing ausgestreckt zwischen den Geländerstäben hinunter. Ihr Haar war nass von Blut, unter einer Wange bildete sich eine Blutlache. Ein Mann stand leicht über sie gebeugt, einen mindestens eineinhalb Meter langen Schlagstock in der Hand. Er keuchte vor Anstrengung.
Nightingale zögerte keine Sekunde. Er stürmte einfach vorwärts, die Schultern gesenkt, offensichtlich wollte er den Mann mit einem Rugby-Angriff zu Fall bringen. Ich stürmte ebenfalls los, mit dem vagen Plan, ihn an den Armen festzuhalten, wenn Nightingale ihn zu Fall gebracht hatte. Der Mann wirbelte herum und stieß Nightingale geradezu lässig, aber so kraftvoll zurück, dass der Inspector gegen das Geländer krachte.
Ich starrte sein Gesicht an. Vermutlich war er Brandon Coopertown, aber eigentlich war das nicht mehr festzustellen. Ich sah eines seiner Augen, aber ein großer Hautlappen war über die Nase weggerissen worden und bedeckte das andere Auge. Wo der Mund gewesen war, befand sich jetzt nur noch ein blutiger Schlund, gesprenkelt mit weißen Flecken, vielleicht Knochensplitter und zertrümmerte Zähne. Ich war so geschockt, dass ich stolperte und hinfiel, was mir das Leben rettete, denn Coopertown hatte den Prügel blitzschnell herumgeschwungen. Der Schlag zischte knapp über meinen Kopf hinweg.
Ich stürzte zu Boden und der Mistkerl rannte einfach über mich drüber, ein Fuß presste sich auf meinen Rücken und drückte mir den Atem aus der Lunge. Er lief polternd die Treppe hinunter, während ich mich herumrollte und mühsam wieder auf Hände und Knie hochrappelte. An den Händen spürte ich etwas Nasses und merkte, dass sich eine dicke Blutspur über den Flur und die Stufen zog.
Im unteren Flur krachte es, dann war ein schwerer Aufschlag zu hören.
»Stehen Sie auf, Constable!«, befahl Nightingale.
»Was … zum Teufel … war das?«, fragte ich, als er mir auf die Füße half. Ich schaute die Treppe hinunter – Coopertown, oder wer immer der Mann war, lag zu meiner Erleichterung mit dem Gesicht nach unten im Flur.
»Ich habe wirklich keine Ahnung«, sagte Nightingale. »Achten Sie darauf, nicht in die Blutspur zu treten.«
Ich lief so schnell es ging die Treppe hinunter. Das frische Blut war hellrot, arterielles Blut. Ich vermutete, dass es aus dem Loch im Gesicht förmlich herausgeschossen war. Unten beugte ich mich über den Körper und fühlte vorsichtig nach dem Puls. Ich fand keinen.
»Was ist passiert?«, fragte ich.
»Peter«, sagte Inspector Nightingale, »ich möchte, dass Sie jetzt von der Leiche zurücktreten und vorsichtig aus dem Haus gehen. Wir dürfen den Tatort nicht noch mehr verunreinigen, als es ohnehin schon der Fall ist.«
Aus diesem Grund gibt es Verfahrensregeln, Ausbildung, Drill: Damit man weiter funktioniert, auch wenn das Gehirn zu geschockt ist, um selbstständig denken zu können – fragen Sie nur mal irgendeinen Soldaten.
Ich trat aus dem Haus ins helle Tageslicht.
Aus der Ferne hörte ich Sirenen.