6
Die Remise

Tagsüber, wenn ich nicht gerade im Labor war oder lernte oder unterwegs war, gehörte es zu meinen Pflichten, auf die Türglocke zu achten und gegebenenfalls die Haustür zu öffnen. Allerdings klingelte es äußerst selten. Als es zum ersten Mal geschah, brauchte ich daher eine Weile, um das Geräusch überhaupt zu identifizieren.

Wie sich herausstellte, kam uns Beverley Brook besuchen. Sie trug eine cyanblaue Steppjacke und hatte die Kapuze über den Kopf gezogen.

»Das dauert aber«, sagte sie vorwurfsvoll. »Verdammt kalt hier draußen!«

Ich lud sie ein, näher zu treten, aber sie schaute mich schräg an und erklärte, das wolle sie lieber nicht tun.

»Mum sagt, ich soll nicht ins Haus gehen – sie sagt, für unsereins ist das abträglich.«

»Abträglich?«

»Es gibt hier magische Kraftfelder und solches Zeug«, sagte Beverley.

Das ergab einen gewissen Sinn, dachte ich, und erklärte auch, warum sich Nightingale wegen der Sicherheit keine großen Gedanken machte.

»Warum bist du dann da?«, fragte ich.

»Na«, antwortete Beverley, »wenn sich eine Mamaflussgöttin und ein Papaflussgott sehr lieben …«

»Irre witzig.«

»Mum sagt, dass am University College Hospital was Seltsames abgeht und dass du mal nachschauen solltest.«

»Was Seltsames?«

»Sie sagt, es ist in den Nachrichten.«

»Wir haben keinen Fernseher«, sagte ich.

»Nicht mal Free TV?«

»Überhaupt gar keinen.«

»Krass«, sagte Beverley. »Kommst du jetzt oder nicht?«

»Ich rede erst mal mit dem Inspector.«

Ich fand Nightingale in der Bibliothek, wo er sich irgendwelche Notizen machte. Ich hatte den starken Verdacht, dass es sich um meine Lateinhausaufgaben für morgen handelte. Ich erzählte ihm von Beverley, und er sagte, ich solle der Sache nachgehen. Als ich wieder hinunterkam, hatte sich Beverley immerhin in die Eingangshalle gewagt, stand aber so nahe wie möglich an der Schwelle. Erstaunt sah ich, dass Molly dicht bei ihr stand – die beiden steckten die Köpfe zusammen und tauschten flüsternd irgendwelche Vertraulichkeiten aus. Als sie mich kommen hörten, fuhren sie verdächtig schnell auseinander – ich spürte förmlich, wie meine Ohren heiß wurden. Molly huschte an mir vorbei und verschwand in den Tiefen des Hauses.

»Nehmen wir den Jag?«, erkundigte sich Beverley, als ich meinen Mantel anzog.

»Wieso wir? Willst du etwa mitkommen?«

»Ich muss«, sagte sie spitz. »Mum hat gesagt, ich soll moderieren.«

»Was moderieren?«

»Die Frau, die uns die Sache gemeldet hat, ist eine Akolythin. Sie gehört zu unseren Gefolgsleuten«, erklärte Beverley. »Sie redet nicht mit dir, wenn ich nicht dabei bin.«

»Okay«, sagte ich. »Gehen wir.«

»Und – nehmen wir nun den Jag oder nicht?«

»Red keinen Unsinn. Zur Uniklinik können wir von hier aus locker zu Fuß gehen.«

»Ach, Mann. Ich wollte so gern mal mit dem Jag fahren.«

Also nahmen wir den Jag und gerieten prompt in einen Verkehrsstau auf der Euston Road und mussten danach noch mal zwanzig Minuten nach einer Parklücke suchen. Nach meiner Schätzung hatten wir damit gut zweimal so lange gebraucht wie zu Fuß.

 

Das Universitätsklinikum, allgemein unter der Abkürzung UCH bekannt, nimmt zwei ganze Blocks zwischen der Tottenham Court Road und der Gower Street ein. Es war schon im 19. Jahrhundert gegründet worden. Sein Ruhm beruhte darauf, dass es dem Londoner University College als Lehrkrankenhaus diente. Außerdem erblickte dort einst auch ein gewisser Peter Grant, Zauberlehrling, das Licht der Welt. Seit jenem denkwürdigen Tag Mitte der achtziger Jahre hatte man allerdings die Hälfte des Komplexes zu einem blau-weiß glitzernden Turm umgebaut, so dass es jetzt wie ein Stück Brasilia aussah, das mitten im viktorianischen London eine Bruchlandung hingelegt hatte.

Der Eingangsbereich war eine riesige, aseptisch saubere Halle aus Unmengen von Glas und weißer Farbe, in der nur die zahlreichen Patienten, die dort herumschlurften, ein wenig störend wirkten. Als Polizist verbringt man eine Menge Zeit in der Notaufnahme, weil man dort Leute befragen muss, woher sie ihre Stichwunden haben, oder weil man aggressive Betrunkene bändigen oder selbst zusammengeflickt werden muss. Das ist einer der Gründe, warum so viele Polizisten Krankenschwestern heiraten – davon abgesehen haben Krankenschwestern auch mehr Verständnis für unzumutbare Schichtarbeitszeiten.

Beverleys Akolythin war eine solche Krankenschwester, ein blasses dünnes Ding mit purpurrotem Haar und australischem Akzent. Sie starrte mich misstrauisch an.

»Wer ist das?«, fragte sie Beverley.

»Ein Freund«, sagte Beverley und legte ihr die Hand auf den Arm. »Wir erzählen ihm alles.«

Die Frau entspannte sich und lächelte mich hoffnungsvoll an. Sie sah aus wie einer der Teenager aus der vorletzten Sekte, der meine Mutter eine Zeit lang angehört hatte. »Ist es nicht wundervoll, zu etwas zu gehören, das so real ist?«, sagte sie schwärmerisch.

Ich bestätigte ihr, dass es tatsächlich wundervoll sei, zu etwas zu gehören, das so real war, dass es aber auch ganz prima wäre, wenn sie mir erklären könne, was sie gesehen habe. Das Wort »prima« benutzte ich tatsächlich, und sie zuckte dabei nicht mit der Wimper, was mich aus verschiedenen Gründen etwas beunruhigte.

Wie sie erklärte, sei ein Fahrradkurier nach einem Verkehrsunfall mit dem Rettungswagen eingeliefert worden. Während er noch behandelt wurde, habe er plötzlich den Notarzt mitten ins Gesicht getreten. Der Angriff habe den Arzt völlig überrumpelt, aber nicht ernsthaft verletzt. Der Fahrradkurier sei von der Untersuchungsliege gesprungen und aus der Notaufnahme geflohen. Die Sicherheitsleute hätten ihn nicht aufhalten können.

»Warum kommen Sie damit zu uns?«, fragte ich.

»Na ja, sein Gelächter …«, antwortete die Krankenschwester zögernd. »Ich wollte gerade etwas holen, als ich dieses kreischende Gelächter hörte, so ähnlich wie ein Eichelhäher. Dann hörte ich Eric brüllen, das ist Dr. Framline, unser Notarzt, der verletzt war. Er fluchte wie ein Kesselflicker, und dann kam auch schon der Kurier aus seiner Untersuchungskabine gerannt und … und … mit seinem Gesicht stimmte was nicht.«

»Mit seinem Gesicht stimmte was nicht? Wie meinen Sie das?«

»Es stimmte eben etwas nicht«, sagte sie und zuckte mit den Schultern. Solche Aussagen machen Augenzeugen wie diese Krankenschwester zu absoluten Höhepunkten der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Ich seufzte. »Er raste so schnell an mir vorbei, dass ich nicht viel sehen konnte«, fügte sie hinzu, »aber trotzdem … es sah eben irgendwie seltsam aus.«

Sie führte mich in den Untersuchungsbereich der Notaufnahme, wo es passiert war, ein weiß und beige gestrichenes Abteil mit einer Untersuchungsliege, vom Rest des Raums durch Vorhänge abgetrennt. Kaum hatte ich das Abteil betreten, als mir auch schon das Vestigium, man beachte bitte die korrekte Verwendung des Singular, förmlich ins Gesicht sprang. Rohe Gewalt, irres Gelächter, getrockneter Schweiß, Leder. Genau wie beim armen William Skirmish, als er im Leichenschauhaus lag, nur fehlte hier ein lästiger kläffender Köter.

Noch vor zwei Monaten wäre ich in diese Untersuchungskabine getreten, hätte vielleicht ein bisschen gefröstelt und gedacht, dass hier irgendwas seltsam sei, und wäre wieder gegangen.

Beverley steckte den Kopf herein und wollte wissen, ob ich irgendwas entdeckt hätte.

»Ich muss mal dein Handy ausleihen«, sagte ich.

»Hast du kein eigenes?«

»Ist bei einem schiefgelaufenen Zauberversuch explodiert«, erklärte ich. »Frag nicht.«

Beverley zog einen Schmollmund und reichte mir ein erstaunlich klobiges Ericsson. Das Handy steckte in einer Latexhülle; die Tasten waren sehr groß und befanden sich unter einer durchsichtigen Plastikschutzfolie. »Es ist für den Unterwassereinsatz bestimmt«, sagte sie. »Frag nicht.«

»Kannst du eure Akolythin dazu bringen, Dr. Framlines Adresse rauszusuchen?«

Beverley zuckte die Schultern. »Klar. Aber denk dran – wer redet, zahlt.«

Während Beverley durch ihre Aufgabe abgelenkt war, nahm ich ihr Handy mit nach draußen auf den Beaumont Place, eine stille Fußgängerpassage zwischen dem alten und dem neuen Teil des Krankenhauses, und rief Nightingale an. Ich beschrieb kurz den Zwischenfall und das Vestigium; er stimmte zu, dass es den Versuch wert war, nach dem Kurier zu fahnden.

»Ich möchte gern ein Auge auf den Arzt haben«, sagte ich.

»Interessant«, kommentierte er. »Warum?«

»Ich denke an die Abfolge der Ereignisse im Zusammenhang mit dem Mord an Skirmish«, erklärte ich. »Toby beißt Coopertown in die Nase, damit fängt die Sache an, aber Coopertown dreht erst später durch, als er Skirmish in Covent Garden über den Weg läuft.«

»Sie denken also, der Mord wurde durch eine zufällige Begegnung ausgelöst?«

»Das ist es eben«, antwortete ich. »Lesley sagt, die MK hätte noch keinen Grund entdeckt, warum Skirmish in dieser Nacht überhaupt in Covent Garden war. Er nimmt einen Bus zum West End, begegnet Coopertown und kriegt den Kopf abgeschlagen. Keine Verabredungen, keine Freunde – nichts.«

»Und Sie meinen, beide Parteien seien beeinflusst worden?«, fragte Nightingale. »Dass also eine dritte Partei dafür gesorgt hat, dass sie sich begegnen?«

»Ist so etwas überhaupt möglich?«

»Alles ist möglich«, antwortete Nightingale. »Wenn Ihr Hund ebenso beeinflusst war wie sein Herrchen und Coopertown, wäre das eine Erklärung dafür, warum er auf die Vestigia so empfindlich reagierte.«

Mir fiel auf, dass Toby jetzt offenbar mein Hund war. »Also wäre es möglich?«

»Ja«, sagte er, aber ich hörte an seinem Ton, dass er skeptisch war.

»Und was wäre, wenn der Fahrradkurier nun Tobys Rolle spielt und der Arzt die von Coopertown?«, fragte ich. »Zumindest kann es nicht schaden, den Arzt unter Beobachtung zu stellen, bis wir den Kurier gefangen haben.«

»Schaffen Sie das allein?«, fragte Nightingale.

»Kein Problem«, antwortete ich.

»Gut«, sagte er. Er werde die Fahndung nach dem Fahrradkurier koordinieren. Ich hatte eben das Gespräch beendet, als Beverley vom Krankenhaus herübergeschlendert kam. Ihr Hüftschwung beeinflusste meine Blickrichtung. Sie bemerkte es natürlich und grinste, während sie mir einen Zettel hinhielt – Dr. Framlines Adresse.

»Wohin jetzt, Chef?«, fragte sie.

»Wo kann ich dich absetzen?«, fragte ich zurück.

»Nein, nein, nein«, sagte Beverley schnell. »Mum sagt, ich muss moderieren.«

»Du hast schon genug moderiert. Du darfst jetzt nach Hause gehen.«

»Ich will nicht nach Hause!«, protestierte sie. »Mum hat die ganze bucklige Verwandtschaft da, Ty und Effra und Fleet, ganz zu schweigen von den alten Damen. Du hast keine Ahnung, was bei denen abgeht.«

Tatsächlich hatte ich eine ziemlich genaue Vorstellung, was da abgehen würde, aber das wollte ich Beverley nicht auf die Nase binden.

»Komm schon, ich bin auch ganz brav«, drängte sie und schenkte mir einen ihrer großäugigen Blicke. »Ich lass dich auch noch mal mit meinem Handy telefonieren.«

Ich gab nach, bevor ihr Schmollmund zur bebenden Unterlippe eskalierte. »Aber du tust genau das, was ich dir sage.«

»Zu Befehl, Sir!«, sagte sie zackig und salutierte.

Mit einem Vintage-Jaguar kann man keine unauffällige Beschattung durchführen, deshalb fuhren wir zu Beverleys großer Enttäuschung zum Folly zurück und tauschten ihn gegen den Ford ein. Die Garage des Folly liegt auf der Rückseite und nimmt das gesamte Erdgeschoss der umgebauten Remise ein. Man kann noch die Originaltore erkennen, die hoch und breit genug waren, um eine vierspännige Kutsche durchfahren zu lassen, aber man hatte sie teilweise zugemauert und stattdessen nur ein bescheidenes Schiebetor eingebaut. Der Jaguar und der Ford verloren sich förmlich in einem Raum, der groß genug für vier Reisekutschen war.

Im Gegensatz zur Eingangshalle schien Beverley mit der Remise keinerlei Probleme zu haben. »Was ist denn aus den abträglichen magischen Kraftfeldern geworden?«, fragte ich.

»Hier drin nicht«, antwortete sie. »Bloß ein kleiner Schutzzauber an der Garagentür.«

Nightingale war nicht zu Hause, aber Molly hatte für mich in der Lobby eine Tesco-Plastiktüte mit Sandwiches bereitgestellt, die in Butterbrotpapier eingewickelt waren. Ich wollte lieber nicht wissen, womit sie belegt waren, irgendwie bezweifelte ich, dass es Chicken Tikka Masala war. Ich warf meine Tasche und die Sandwiches auf den Rücksitz des Ford, sorgte dafür, dass sich die Tochter der Flussgöttin ordentlich anschnallte, und fuhr los, um einem Stationsarzt auf die Nerven zu gehen.

 

Dr. Framline wohnte in einem kleinen viktorianischen Reihenhaus in der Romford Road in Newham. Das lag weiter östlich, als mir lieb war, aber es war keine schlechte Wohngegend. Ich fand tatsächlich eine Parkmöglichkeit, von der aus die Haustür recht gut zu sehen war, und stieg aus. Mir war klar, dass keine Macht der Erde Beverley im Auto zurückhalten konnte, also erlaubte ich ihr mitzukommen, aber mit der glasklaren Anweisung, die Klappe zu halten.

Es gab nur eine Türklingel. Der kleine Vorgarten hatte einem Kiesbelag weichen müssen, auf dem Mülltonnen und ein paar leere, grellrote Blumentöpfe herumstanden. Nachdem ich auf die Klingel gedrückt hatte, informierte mich eine fröhliche weibliche Stimme, dass sie schon komme. Die Stimme gehörte zu einer rundlichen Frau von dem Typ, der eine gute Persönlichkeit entwickelt, weil die einzige Alternative Selbstmord wäre.

Ich zeigte ihr meinen Dienstausweis. »Guten Tag, Ma’am. Mein Name ist Peter Grant, ich bin von der Polizei, und das hier ist meine Kollegin Beverley Brook, und sie ist ein Fluss in London.« Mit solchem Zeug kommt man bei Zivilisten in der Regel durch, weil ihr Hirn sofort in Erstarrungszustand verfällt, sobald sie das Wort »Polizei« hören.

Möglicherweise hatte ich hier ein wenig übertrieben, jedenfalls betrachtete die Frau Beverley mit gerunzelter Stirn und fragte: »Sagten Sie eben, dass sie ein Fluss ist?« Was wieder einmal zeigt, dass man im Dienst niemals aufschneiden sollte.

»Ist nur so ein Witz im Polizeirevier«, erklärte ich lahm.

»Scheint mir ein bisschen jung für eine Polizistin«, bemerkte die Frau.

»Ist sie auch nicht«, antwortete ich. »Sie macht ein Schnupperpraktikum.«

»Kann ich Ihren Ausweis noch einmal sehen?«, fragte die Frau.

Ich seufzte und reichte ihn ihr. Beverley kicherte.

»Ich kann Ihnen auch die Telefonnummer meines Vorgesetzten geben«, sagte ich. Damit hat man sie normalerweise in der Tasche, denn bei unseren geschätzten Bürgerinnen und Bürgern siegt meist doch die Faulheit über das Misstrauen.

»Kommen Sie wegen des Vorfalls im Krankenhaus?«, fragte die Frau.

»Ja«, antwortete ich erleichtert. »Genau das ist der Grund, warum wir hier sind.«

»Eric ist eben in die Stadt gegangen«, sagte sie. »Sie haben ihn knapp verpasst, er ist vor ungefähr einer Viertelstunde weggegangen.«

Das musste natürlich so kommen, dachte ich, innerlich stöhnend. »Wissen Sie, wohin er wollte?«

»Warum wollen Sie das wissen?«

»Wir glauben, dass wir seinen Angreifer in Kürze festnehmen können«, antwortete ich. »Wir müssen aber noch ein paar Einzelheiten von Dr. Framline bestätigen lassen. Wenn wir das sehr bald erledigen können, gelingt es uns vielleicht, den Angreifer noch heute zu verhaften.«

Das brachte sie endlich auf Trab und verschaffte mir nicht nur den Namen des Pubs, zu dem er unterwegs war, sondern auch seine Handynummer. Beverley musste sogar joggen, um mit mir Schritt halten zu können, als wir zum Auto zurückgingen.

»Warum so eilig?«, wollte sie beim Einsteigen wissen.

»Ich kenne den Pub«, erklärte ich. »Liegt an der Ecke Neal und Shelton Street.« Ich fuhr aus der Parklücke, ohne darauf zu warten, dass sich Beverley anschnallte. »Genau gegenüber liegt eine Fußgängerzone mit einer Filiale von Urban Outfitters.«

»Oh-oh. Urban Outfitters«, sagte Beverley. »Damit wäre dann auch dein Dr.-Denim-Hemd erklärt.«

»Hat mir meine Mum gekauft«, murmelte ich.

»Und du meinst, das macht es weniger peinlich?«

Ich jagte den Motor hoch, so gut es bei einem zehn Jahre alten Ford Escort eben ging. Wir überfuhren eine Reihe von roten Ampeln. Hinter mir gab es wütendes Protestgehupe. »In der Gegend hängen immer jede Menge Fahrradkuriere herum«, sagte ich. »Für den Pub und die Cafés sind sie ein gutes Geschäft, und sie haben da viele ihrer Geschäftskunden in der Nähe.«

Einzelne Regentropfen schlugen gegen die Windschutzscheibe und gingen schnell in einen richtigen Regen über. Ich musste das Tempo drosseln, als die Straßen nass wurden. Wie lange würde Dr. Framline mit dem öffentlichen Nahverkehr bis Covent Garden brauchen? Mindestens eine Stunde, aber er hatte einen Vorsprung und wir fuhren durch London, eine Stadt, in der die U-Bahn häufig viel schneller ist als das Auto.

»Ruf Dr. Framline an«, befahl ich Beverley.

Sie brummte, wählte die Nummer, hörte kurz zu und sagte: »Mailbox. Wahrscheinlich ist er in der U-Bahn

Ich nannte ihr Lesleys Nummer. »Vergiss nicht: Wer redet, zahlt«, sagte sie spitz.

»Ich kenne die Regeln«, nickte ich.

Beverley hielt das Handy an mein Ohr, damit ich nicht die Hände vom Steuer nehmen musste. Als Lesley sich meldete, hörte ich im Hintergrund den Lärm in der Ermittlungszentrale in Belgravia – wo die richtige Polizeiarbeit abging.

»Was ist mit deinem Handy passiert?«, fragte sie sofort. »Ich hab den ganzen Vormittag versucht, dich anzurufen.«

»Es ist bei einem Zauberversuch draufgegangen«, erklärte ich. »Gut, dass du mich daran erinnerst – kannst du mir ein Airwave besorgen?« Airwaves waren die supermodernen digitalen Handfunkgeräte der Polizei.

»Warum beantragst du nicht eins bei deinem Boss?«

»Du machst wohl Witze«, gab ich zurück. »Ich glaube nicht, dass Nightingale auch nur weiß, was ein Airwave ist. Oder überhaupt ein Funkgerät. Ich bin mir nicht mal sicher, was Telefone betrifft.«

Lesley sagte zu, uns in der Neal Street zu treffen.

Es regnete in Strömen, als wir den verkehrsberuhigten Teil der Earlham Street entlangkrochen. Ich hielt an der Ecke an, von wo aus wir einen freien Blick auf den Pub und den Treffpunkt der Fahrradkuriere hatten. Beverley blieb im Auto, während ich hinüberlief, um im Pub nachzuschauen, ob der Arzt schon eingetroffen war. Das war nicht der Fall; der Pub war praktisch leer.

Mein Haar war klatschnass, als ich wieder ins Auto stieg, aber ich hatte immer ein Handtuch in meiner Observationstasche und drückte damit das Wasser aus meinen Haaren. Aus irgendeinem Grund fand Beverley das ausgesprochen komisch.

»Lass mich das machen«, sagte sie.

Ich gab ihr das Handtuch. Sie beugte sich herüber und fing an, mir den Kopf trocken zu rubbeln, wobei sich eine ihrer Brüste an meine Schulter drückte und ich einen schier übermächtigen Zwang unterdrücken musste, den Arm um ihre Taille zu legen. Ihre Finger gruben sich in meinen Skalp.

»Kämmst du dich eigentlich jemals?«, fragte sie.

»Zu viel Mühe«, antwortete ich. »Ich trimme es nur jedes Frühjahr sehr kurz.«

Sie fuhr mit der Handfläche über meinen Hinterkopf und ließ sie dann leicht auf meinem Nacken liegen. Ich spürte ihren Atem an meinem Ohr.

»Du hast wirklich nicht viel von deinem Dad abgekriegt, was?« Beverley setzte sich wieder auf ihren Sitz zurück und warf das Handtuch auf den Rücksitz. »Deine Mum muss ziemlich enttäuscht gewesen sein, bestimmt dachte sie, du würdest schöne platte Haare von ihm erben.«

»Es hätte auch noch schlimmer kommen können«, sagte ich. »Zum Beispiel, wenn ich ein Mädchen geworden wäre.«

Unwillkürlich fasste sie an ihre eigenen Haare – geglättet und seitlich zu Rattenschwänzen zusammengebunden, die ihr bis auf die Schultern reichten. »Du hast ja keine Ahnung«, sagte sie. »Und das ist auch der Grund, warum du mich hier nicht aus dem Auto bekommst.« Sie nickte in Richtung der regennassen Straßen.

»Aber wenn du doch angeblich eine Göttin bist …«

»Orisa«, korrigierte mich Beverley. »Wir sind Orisa. Keine Geister oder Genii locorum – sondern Orisa.«

»Warum kannst du dann nicht was gegen das Wetter tun?«

»Erstens«, sagte sie übertrieben langsam und geduldig, »mischen wir uns nicht in das Wetter ein und zweitens sind wir hier in Nordlondon und dieser Bezirk gehört meinen älteren Schwestern.«

Ich hatte im Folly einen Stadtplan mit den Flüssen von London aus dem 17. Jahrhundert gesehen. »Das wären dann wohl Fleet und Tyburn?«, fragte ich.

»Du kannst sie Tyburn nennen, wenn du den Rest deiner Tage aufgehängt an einem Haken verbringen willst«, sagte Beverley. »Ansonsten sag lieber Lady Ty zu ihr, solltest du sie jemals kennenlernen. Du wirst sie allerdings nicht kennenlernen wollen. Und sie wird dich auch nicht kennenlernen wollen.«

»Ich folgere daraus, dass du mit ihnen nicht besonders gut auskommst?«, fragte ich.

»Fleet ist okay, nur ziemlich neugierig. Ty ist wahnsinnig eingebildet, wohnt in Mayfair, geht dauernd zu smarten Schickeria-Partys, kennt nur ›wichtige Leute‹.«

»Und ist Mamas Liebling?«

»Nur weil sie alles Mögliche mit den Politikern auskungelt«, erklärte Beverley. »Mit denen trinkt sie Tee auf der Terrasse des Parlaments. Während ich mit Nightingales Laufbursche in einem rostigen Vehikel hocke.«

»Ich hab dunkel in Erinnerung, dass du es warst, die nicht nach Hause gehen wollte.«

Im Rückspiegel sah ich Lesleys Auto, das hinter uns anhielt. Sie blendete mehrmals auf und stieg aus. Ich beugte mich schnell über die Sitzlehne und öffnete ihr die Hintertür. Der Regen klatschte mir so hart ins Gesicht, dass ich prusten musste, und Lesley warf sich praktisch auf den Rücksitz.

»Ich glaube, das gibt eine Überschwemmung«, sagte sie, griff nach meinem Handtuch und trocknete sich das Gesicht und die Haare. Dann wies sie mit einer knappen Kopfbewegung auf Beverley. »Und wer ist das?«

»Beverley, das ist Police Constable Lesley May.« Ich drehte mich zu Lesley um. »Das ist Beverley Brook, Flussgeist und seit fünf Jahren ungeschlagene Siegerin der Londoner Meisterschaft im Nonstop-Quatschen.« Beverley boxte mich in den Oberarm und Lesley nickte ihr ermutigend zu. »Ihre Mutter ist die Themse, musst du wissen«, fuhr ich fort.

»Ach, wirklich«, sagte Lesley. »Und wer könnte dann wohl dein Daddy sein?«

»Das ist ein bisschen kompliziert«, gab Beverley zu. »Mum sagt, sie hätte mich in einem Bach gefunden, als ich neben der Schnellstraße bei Kingston Vale vorbeitrieb.«

»In einem Weidenkorb?«, wollte Lesley wissen.

»Nein, nur so wie Treibgut.«

»Sie wurde spontan von den Midichlorianern gezeugt«, warf ich ein. Die beiden starrten mich verständnislos an. Krieg der Sterne hatten sie offenbar nicht gesehen. »Ach, vergesst es.«

»Ist der Typ schon gekommen?«, fragte Lesley.

»Niemand ist gekommen, seit wir hier sind«, sagte ich.

»Weißt du überhaupt, wie er aussieht?«, fragte sie.

Erst jetzt wurde mir klar, dass ich keinen blassen Schimmer hatte, wie Dr. Framline aussah. Ich hatte ja damit gerechnet, ihn bei sich zu Hause befragen zu können, bevor ich ihn beschattete. »Ich habe eine Beschreibung«, murmelte ich. Lesley warf mir einen mitleidigen Blick zu und zog eine Kopie des Fotos aus Dr. Framlines Führerschein heraus. »Er könnte wirklich ein ganz ordentlicher Polizist werden«, bemerkte sie zu Beverley, »wenn er sich nur mal auf die Details konzentrieren könnte.«

Dann gab sie mir etwas, das wie eine unförmige Mutanten-Mischung aus Nokia-Handy und Walkie-Talkie aussah: das Airwave-Handset. Ich schob es in die Innentasche meiner Jacke. Mit dem Ding in der Tasche würde ich wohl ziemlich krumm daherkommen.

»Ist er das?«, fragte Beverley plötzlich.

Wir starrten in den Regen hinaus. Zwei Leute näherten sich von der Neal Street her. Das Gesicht des Mannes passte zu dem auf dem Foto, abgesehen von dem Bluterguss unter dem linken Auge und den parallel aufgeklebten Streifen Wundpflaster, die offenbar den Riss auf seiner Wange zusammenhielten. Er hielt einen Schirm über sich und seine Begleiterin, eine leicht untersetzte Frau in einem grell orangefarbenen Regenmantel. Beide lächelten und wirkten recht glücklich.

Wir beobachteten sie schweigend. Vor dem Pub blieben sie kurz stehen, um den Schirm auszuschütteln, dann betraten sie das Lokal.

»Sagst du mir noch mal, warum wir hier sind?«, fragte Lesley.

»Habt ihr den Fahrradkurier schon gefunden?«, wollte ich wissen.

»Nein. Und ich glaube nicht, dass mein Chef es mag, wenn er von deinem Chef wie ein Laufbursche behandelt wird.«

»Sag ihm, willkommen im Club«, erwiderte ich.

»Das kannst du ihm selber sagen.«

»Was ist eigentlich auf den Sandwiches?«, fragte Beverley.

Ich öffnete die Tesco-Tasche und wickelte eines der Sandwichpakete aus: knuspriges Weißbrot mit Roastbeef und Dillgurken garniert mit Meerrettich, alles sehr lecker, aber einmal hatte Molly das Brot mit gebratenem Kalbshirn belegt, seither näherte ich mich ihren Sandwiches immer mit größter Vorsicht. Lesley dagegen, die alles aß und Aal in Aspik für eine Delikatesse hielt, machte sich sofort über die Sandwiches her. Beverley zögerte.

»Wenn ich etwas davon esse, gehe ich trotzdem dir gegenüber keine Verpflichtungen ein, oder?«, wollte sie wissen.

»Mach dir darüber keine Sorgen«, beruhigte ich sie. »Ich hab ein Raumspray in der Tasche.«

»Ich meine es ernst!«, sagte Beverley. »In Mums Wohnung lebt seit 1997 so ein Typ, der tauchte damals auf, um irgendwelche Möbel zu pfänden, trank eine Tasse Tee, aß einen Keks und ist seither nicht mehr weggegangen. Ich nenne ihn Onkel Bailiff. Er macht Reparaturen, wenn mal was kaputt ist, räumt auf und putzt, und meine Mutter wird ihn nie mehr weglassen.« Beverley rammte mir den Zeigefinger in die Brust. »Deshalb will ich wissen, welche Absichten du mit diesem Sandwich verfolgst.«

»Ich darf dir versichern, dass meine Absichten höchst ehrenhaft sind«, sagte ich und musste daran denken, wie knapp ich selber daran vorbeigeschrammt war, die Cremekekse in Mama Themses Wohnung zu essen.

»Schwöre es bei deiner magischen Kraft.«

»Ich habe keine magische Kraft.«

»Gutes Argument. Dann schwöre es beim Leben deiner Mutter.«

»Nein«, wehrte ich ab. »Das ist total kindisch.«

»Okay«, sagte Beverley. »Dann hole ich mir eben selbst was zu essen.« Sie stieß die Tür auf und stürmte wütend davon. Mir fiel auf, dass der Wutanfall pünktlich einsetzte, als es aufgehört hatte zu regnen.

»Ist das wahr?«, fragte Lesley.

»Welcher Teil?«

»Zaubersprüche, Essen und Verpflichtungen, Zauberer – und dieser Onkel Bailiff«, sagte sie. »Verdammt noch mal, Peter, das riecht doch nach Freiheitsberaubung, mindestens.«

»Manches davon stimmt«, antwortete ich. »Aber was und wie viel, weiß ich nicht. Ich glaube, Zauberer zu sein bedeutet herauszufinden, was wahr ist und was nicht.«

»Ist ihre Mutter wirklich die Göttin der Themse?«

»Sie hält sich dafür und ich habe sie kennengelernt und glaube allmählich, dass sie es sein könnte«, antwortete ich. »Jedenfalls verfügt sie über wirkliche Macht, also werde ich auch ihre Tochter so lange entsprechend behandeln, bis ich herausfinde, dass es bei ihr anders ist.«

Lesley beugte sich über die Sitzlehne und blickte mir direkt in die Augen.

»Und du – kannst du zaubern?«, fragte sie leise.

»Bisher kann ich nur einen einzigen Zauber.«

»Mach ihn mal vor.«

»Geht nicht«, sagte ich. »Wenn ich ihn jetzt vorführe, fliegt das Airwave in die Luft, außerdem das Radio und vermutlich auch die ganze Elektronik im Auto. So ist nämlich mein Handy draufgegangen – ich hatte es in der Hosentasche, als ich den Zauberspruch geübt habe.«

Lesley legte den Kopf schief und betrachtete mich kühl. Ich wollte gerade gegen ihr Misstrauen protestieren, als Beverley an mein Fenster hämmerte. Ich öffnete es.

»Dachte, es interessiert dich vielleicht, dass es nicht mehr regnet«, verkündete sie. »Und dass ein Fahrradkurier die Straße herunterkommt.«

Lesley und ich sprangen sofort aus dem Auto, womit wir unter Beweis stellten, dass wir nicht mal die Grundlagen der Beschattung beherrschten. Dann fiel uns doch noch ein, dass unauffälliges Verhalten das Gebot der Stunde war, und wir brachen abrupt in lässiges Geplauder aus. Zu unserer Verteidigung muss ich sagen, dass wir gerade zwei Jahre in Uniform hinter uns gebracht hatten und dass es bei der uniformierten Polizei schließlich darum geht, so auffällig wie möglich zu sein.

Beverley musste sehr gute Augen haben, denn der Kurier war noch am anderen Ende der Neal Street in der Nähe der Shaftesbury Avenue und näherte sich in gemächlichem Tempo. Das Fahrrad schob er neben sich her, und ich sah, dass das Hinterrad verbogen war. Ich verspürte ein tiefes Unbehagen, hätte aber nicht sagen können, ob es nur an mir lag oder an etwas anderem.

In der Nähe begann ein Hund zu bellen. Hinter uns schimpfte eine Mutter mit ihrem quengelnden Kind, das von ihr getragen werden wollte. Ich hörte gurgelndes Wasserrauschen in einem Gully. Und ich lauschte auf etwas … ohne zu wissen, was es war. Dann hörte ich es: ein dünnes, halb ersticktes, schrilles Kichern, das von weither heranzuschweben schien.

Der Fahrradkurier sah eigentlich ziemlich normal aus. Er trug einen geradezu schmerzhaft engen schwarz-gelben Lycraanzug, eine Botentasche mit einem Funkgerät am Schultergurt und einen Fahrradhelm in blau-weiß. Sein Gesicht war schmal und sein Mund war nur eine verkniffene Linie unter einer scharfen Hakennase – aber seine Augen waren erschreckend leer. Auch seine Gangart gefiel mir nicht, das verbogene Hinterrad schrammte gegen die Gabel und bei jeder Umdrehung wackelte der Kopf des Mannes auf höchst unnatürliche Weise mit. Den Typen noch näher herankommen zu lassen wäre sicher keine besonders gute Idee.

»Bastard!«, brüllte plötzlich hinter mir eine Stimme. Gleichzeitig ertönte ein lautes Krachen.

Ich wirbelte herum, konnte aber niemanden sehen. Dann deutete Lesley auf den Urban-Outfitters-Laden. Ich sah, wie dort ein junger Mann brutal gegen die Innenseite der Glastür gestoßen wurde. Er wurde von der Tür weggerissen und gleich darauf erneut dagegengeschleudert. Eines der Scharniere gab nach und der Mann flüchtete durch den so entstandenen Spalt nach draußen. Auf den ersten Blick sah er wie ein Tourist oder ein ausländischer Student aus und war recht gut im europäischen Stil gekleidet. Sein aschblondes Haar war ziemlich lang, aber adrett geschnitten, und er trug einen Rucksack mit dem Werbelogo der Fluglinie Swiss über der Schulter. Vor dem Laden blieb er kurz stehen und schüttelte verwirrt den Kopf, doch als sein Angreifer wutentbrannt die Tür aufriss und auf ihn zustürmte, wandte er sich zur Flucht.

Der Angreifer war klein und untersetzt, mit schütterem braunem Haar und einer runden Nickelbrille. An der Brusttasche seines weißen Hemdes war ein Namensschild befestigt, er schien der Filialleiter zu sein. Der Mann schwitzte heftig und sein glänzendes Gesicht war vor Wut rot angelaufen.

»Ich hab verdammt noch mal die Schnauze voll!«, brüllte er den jungen Mann an. »Ich hab mir alle Mühe gegeben, freundlich zu bleiben, aber ich lass mich doch von dir nicht wie ein gottverdammter Lakai behandeln!«

»He!«, schrie Lesley, »Polizei!« Sie ging auf die beiden Männer zu, hielt ihnen ihren Ausweis entgegen und legte die andere Hand auf den ausziehbaren Schlagstock. »Gibt’s hier ein Problem, Leute?«

»Er hat mich angegriffen«, rief der junge Mann nervös. Eindeutig ein ausländischer Akzent, vermutlich deutsch, dachte ich.

Der ausgerastete Geschäftsführer zögerte und schaute Lesley an, wobei er hinter der Brille aufgeregt blinzelte. »Er hat ständig telefoniert«, beschwerte er sich. Seine Wut und Gewaltbereitschaft schienen urplötzlich verpufft zu sein. »Während er an der Kasse stand. Dabei hat er nicht mal einen Anruf bekommen – er wählte, während er zahlte. Wie soll ich denn eine für beide Seiten angenehme und freundliche Kundenbeziehung aufbauen, wenn der Mistkerl mich einfach ignoriert und anfängt zu telefonieren?«

Lesley trat zwischen die beiden Männer und drängte den Filialleiter sanft, aber bestimmt zurück. »Gehen wir doch erst mal wieder rein«, schlug sie vor. »Dort können Sie mir alles genau erzählen.« Es war wirklich ein Vergnügen, Lesley bei der Polizeiarbeit zuzuschauen.

»Ich verstehe einfach nicht, warum er das gemacht hat«, jammerte der Manager. »Was kann denn so wichtig sein, dass er nicht mal eine Minute damit warten konnte?«

Beverley stieß mich nicht sehr sanft an. »Peter – schau mal, dort drüben.«

Ich drehte mich rasch um und sah Dr. Framline die Straße entlangrennen. Er schwang einen Stock, der wohl halb so lang war wie er selbst. Hinter ihm lief seine Bekannte aus dem Pub, die verwirrt seinen Namen rief. Ich rannte los, so schnell ich konnte, überholte die Frau, aber es war klar, dass ich Framline nicht einholen würde, bevor er sein Ziel erreichte.

Der Kurier hob nicht mal den Arm, um sich zu verteidigen. Framline ließ den Stock auf seine Schulter niedersausen. Der rechte Arm des Kuriers knackte hörbar; er ließ das Fahrrad los, das zur Seite kippte.

»Je mehr du abbekommst, desto besser für dich!«, brüllte der Arzt und hob erneut den Stock.

Ich rammte ihm die Schulter in die empfindliche Stelle genau über der Hüfte, so dass er zur Seite und zu Boden geschleudert wurde und meinen eigenen Sturz abfing. Das Fahrrad schlug klappernd auf der Straße auf, der Stock schlitterte über das Pflaster. Ich versuchte, Framline auf den Boden zu drücken, aber der Mann war erstaunlich stark und stieß mir den Ellbogen so heftig in die Brust, dass ich nach Luft schnappte. Ich packte seine Beine, erhielt aber ein Knie ins Gesicht und fluchte laut.

»Polizei!«, brüllte ich. »Aufhören! Sofort aufhören!« Erstaunlicherweise befolgte er den Befehl. »Danke«, keuchte ich, denn in kritischen Situationen ist ein wenig Höflichkeit schon angebracht. Ich versuchte mich aufzurappeln, aber jemand versetzte mir einen solchen Hieb, dass ich wieder auf dem Asphalt aufprallte, bevor ich den Schlag überhaupt mitbekam. Egal wie schwer man getroffen wird, im Straßenkampf ist das Straßenpflaster nicht dein Freund, deshalb rollte ich mich schnell zur Seite und versuchte wieder auf die Beine zu kommen. Im selben Augenblick sah ich, wie der Kurier den überdimensionalen Stock aufhob und gegen Framline ausholte. Der Arzt wich aus, wurde aber am Oberarm getroffen. Er stolperte und ging stöhnend zu Boden.

Ich wurde buchstäblich von einer ungeheuren Gefühlsaufwallung überwältigt – Erregung, Begeisterung, gemischt mit einer gewissen Gewaltbereitschaft, so ähnlich wie beim Fußball, wenn die Fans eine Torchance für ihr Team wittern.

Und dieses Mal konnte ich tatsächlich beobachten, wie sich das Dissimulo ereignete: Der Unterkiefer des Kuriers schien sich weit nach vorn zu schieben, ich hörte Knochen und Zähne knacken, als sich sein Kinn immer weiter zuspitzte. Die Lippen verzogen sich zu einem Fletschen, und die Nase dehnte sich grotesk aus. Das Gesicht war eigentlich kein Gesicht mehr, sondern die Karikatur einer Mensch-Bestie-Fratze, die es im wirklichen Leben nicht gab. Der schnauzenähnliche Mund öffnete sich und ich sah die blutroten Ruinen des Kiefers.

»So macht man das!«, kreischte der Kurier und hob den Stock zum Schlag.

Lesley erwischte ihn mit dem Schlagstock am Hinterkopf. Der Kurier taumelte; Lesley schlug noch einmal zu und der Mann fiel mit einem gurgelnden Geräusch vor mir auf den Boden. Ich kroch zu ihm und drehte ihn auf den Rücken, aber es war bereits zu spät. Sein Gesicht fiel in sich zusammen, als sei es aus nassem Papiermaché. Um Nase und Kinn riss die Haut auf und ein großer Hautlappen kam umgeklappt auf der Stirn zu liegen. Ich versuchte mich zu zwingen, etwas zu unternehmen, aber in meinem Erste-Hilfe-Kurs hatte ein Gesicht, das auseinanderklaffte wie ein geplatzter Kugelfisch, nicht zum Ausbildungsprogramm gehört.

Ich schob die Hand unter den Hautlappen, wobei ich bei der Berührung mit der warmen, nassen Masse zurückzuckte, und versuchte ihn wieder über das Gesicht zu legen. Irgendwie hoffte ich wohl vage, damit die Blutung stillen zu können.

»Lassen Sie mich los!«, schrie Dr. Framline. Lesley hatte ihm bereits die Handschellen angelegt. »Lassen Sie mich frei, ich kann ihm helfen!«

Lesley zögerte. Ich nickte ihr zu, und sie öffnete die Handschellen.

Zu spät. Der Kurier versteifte sich plötzlich, dann wölbte sich sein Körper hoch, eine Blutwelle drang durch seinen Hals, quoll durch die Risse und Löcher in seinem Gesicht und sprudelte zwischen meinen Fingern hervor.

Dr. Framline kroch näher, legte dem Kurier den Finger an den Hals und suchte eine Weile nach dem Puls, aber ich sah an seinem Gesichtsausdruck, dass nichts mehr zu finden war. Schließlich schüttelte er den Kopf und sagte, ich solle loslassen. Das Gesicht des Kuriers klaffte wieder auseinander.

Jemand schrie durchdringend, und im ersten Augenblick war ich keineswegs sicher, dass der Schrei nicht von mir kam. Mir war sehr nach Schreien zumute, aber es fiel mir gerade noch rechtzeitig ein, dass Lesley und ich die einzigen Polizisten am Tatort waren und dass es in der Öffentlichkeit keinen guten Eindruck macht, wenn die Polizei zu schreien anfängt. Mit der Aufgabe, Ruhe und Ordnung zu bewahren, ist es auch nur schwer zu vereinbaren. Ich kam wieder auf die Füße und stellte fest, dass wir von einer Gaffermenge umringt waren.

»Meine Damen und Herren«, rief ich also, »das hier ist eine polizeiliche Angelegenheit. Bitte treten Sie zurück.«

Und die Menge wich gehorsam zurück. Wenn man blutüberströmt vor die Leute tritt, kann das ziemlich wirkungsvoll sein.

 

Wir sicherten den Tatort ab, bis Verstärkung anrückte. Inzwischen hatten zwei Drittel der Gaffer das Handy am Ohr, fotografierten oder filmten mich und Lesley sowie die verstümmelten Überreste des Fahrradkuriers. Bis der Rettungswagen ankam und die Sanitäter das arme Schwein mit einer Decke zudecken konnten, standen die Bilder längst im Internet. Ich entdeckte Beverley, die am hinteren Rand der Menge herumhing, und als sie sah, dass ich sie bemerkt hatte, winkte sie mir kurz zu, drehte sich um und ging davon.

Lesley und ich zogen uns unter eine benachbarte Ladenmarkise zurück und warteten, dass das Forensikerzelt aufgebaut, die Spurensicherung beginnen und wir unsere Ersatzoveralls erhalten würden.

»So kann’s nicht weitergehen«, sagte Lesley. »Ich hab bald keine sauberen Klamotten mehr.«

Wir lachten – oder taten so als ob. Es ist nicht so, dass so etwas beim zweiten Mal leichter wird; aber man bekommt doch allmählich mit, dass man am nächsten Morgen immer noch als derselbe Mensch aufwachen wird.

Ein Detective Sergeant von der Mordkommission tauchte auf und übernahm das Kommando: eine untersetzte Frau mittleren Alters mit strähnigem braunem Haar, die so aussah, als sei ihr Hobby das Ringen mit Kampfhunden. Das war die legendäre Miriam Stephanopoulos, Seawolls rechte Hand und eine furchterregende Lesbe. In der gesamten Met gab es nur einen einzigen Witz über sie: »Weißt du, was mit dem letzten Polizisten passiert ist, der einen Witz über DS Stephanopoulos gemacht hat?« – »Nein. Was denn?« – »Das weiß auch sonst niemand.« Okay, okay, ich sage ja nur, das war der einzige Witz über sie, nicht, dass er gut war.

Sie schien aber etwas für Lesley übrigzuhaben, jedenfalls wurden wir dieses Mal sehr viel schneller durchgeschleust. Kaum hatten wir die Klamotten gewechselt, als man uns auch schon in ein ziviles Polizeiauto setzte und nach Belgravia brachte. In einem anonymen Besprechungsraum mussten wir Nightingale und Seawoll Bericht erstatten; niemand führte Protokoll, aber wenigstens bot man uns eine Tasse Tee an.

Seawoll starrte Lesley finster an, er war eindeutig nicht erfreut. Lesley starrte mich finster an, sie war eindeutig nicht erfreut, dass Seawoll nicht erfreut war. Nightingale wirkte bloß zerstreut und schien erst dann ein wenig aufmerksamer zuzuhören, als ich meine Eindrücke kurz vor dem Angriff schilderte. Nach dem Bericht marschierten wir zum Westminister-Leichenschauhaus hinüber, wo zu unserer Überraschung sowohl Seawoll als auch Stephanopoulos der Autopsie beiwohnten. Lesley und ich hielten uns im Hintergrund und hofften, dass sie uns nicht bemerkten.

Der Fahrradkurier lag auf dem Autopsietisch; sein Gesicht war weit aufgeklappt, ein Anblick, der mir leider allmählich entsetzlich vertraut vorkam. Dr. Walid gab seine Schlussfolgerung bekannt – eine oder mehrere unbekannte Personen hätten durch Magie das Opfer veranlasst, das Gesicht zu wechseln, und hätten ihn dann auf irgendwelche Fremden losgelassen. Bei dem Wort »Magie« warf DS Stephanopoulos ihrem Boss einen scharfen Blick zu, aber Seawoll schüttelte nur leicht den Kopf – später, nicht hier, hieß das.

»Sein Name war Derek Shampwell«, fuhr Dr. Walid fort. »23 Jahre alt, australischer Staatsbürger, lebt seit drei Jahren in London, nicht aktenkundig, Haaranalyse ergab gelegentlichen Marihuanakonsum während der letzten zwei Jahre.«

»Wissen wir, warum ausgerechnet er ausgewählt wurde?«, fragte Seawoll.

Nightingale schüttelte den Kopf. »Nein, Alexander. Aber alle Fälle scheinen mit irgendeinem Streit zu beginnen. Coopertown wurde von einem Hündchen gebissen, Shampwell wurde auf dem Rad von einem Auto angefahren.«

Seawoll warf Stephanopoulos einen auffordernden Blick zu.

»Fahrerflucht auf The Strand, Sir, an einem für die Videokameras blinden Fleck.«

»An einem blinden Fleck?«, fragte Seawoll ungläubig. »Auf The Strand?«

Stephanopoulos nickte. »Eine Chance von tausend zu eins, Sir.«

»May!«, bellte Seawoll, ohne sich umzudrehen. »Hängen die Fälle Ihrer Meinung nach zusammen?«

»Zählt man den Zwischenfall im Kino dazu, bei dem Grant und ich Zeugen waren, und den direkt vor Shampwells Tod, habe ich insgesamt fünfzehn Fälle herausgefiltert, bei denen die Täter ungewöhnliche Aggressivität an den Tag legten, Sir«, sagte Lesley zackig. »Keine dieser Personen war zuvor polizeilich auffällig geworden, keine hatte eine psychiatrische Behandlung hinter sich, und alle Fälle ereigneten sich im Umkreis von weniger als einem Kilometer um den Cambridge Circus.«

»Von wie vielen wissen wir, dass sie …« – Seawoll zögerte – »… äh, besessen waren?«

»Mit Sicherheit wissen wir es nur von den Personen, deren Gesichter herunterfielen«, antwortete Nightingale.

»Nur damit das ganz klar ist«, sagte Seawoll. »Der Commissioner will, dass in dieser Sache absolutes Stillschweigen bewahrt wird. PC May hält auf der einfachen Arbeitsebene mit PC Grant Kontakt. Aber über alles, was irgendwie wichtig sein könnte, will ich informiert werden. Haben Sie damit ein Problem, Thomas?«

»Nicht im Geringsten, Alexander«, erwiderte Nightingale. »Es erscheint mir höchst vernünftig.«

»Seine Eltern kommen morgen aus Australien an«, sagte Dr. Walid. »Sind Sie einverstanden, dass ich sein Gesicht wieder zusammennähe?«

Seawoll starrte auf die Leiche. »Scheiße«, sagte er.

Auf der Rückfahrt zum Folly war Nightingale schweigsam, aber am Fuß der Treppe im Haus drehte er sich zu mir um und empfahl mir, mich gründlich auszuschlafen. Ich fragte ihn, was er inzwischen tun wolle, und er erklärte, er wolle in der Bibliothek recherchieren, ob er irgendwelche Hinweise fände, was oder wer die Morde verübt hatte. Ich fragte, ob ich ihm dabei helfen könne.

»Üben Sie noch mehr«, empfahl er mir. »Lernen Sie schneller.«

Auf der Treppe glitt Molly an mir vorbei nach unten. Sie warf mir einen fragenden Blick zu.

»Woher soll ich das wissen?«, fragte ich. »Du kennst ihn doch viel besser als ich.«

 

Man kann dem Boss natürlich nicht einfach sagen, dass man einen Breitbandanschluss, vorzugsweise über Kabel, braucht, weil man Fußball schauen will. Sondern man erzählt ihm, dass man ins Internet muss, um direkt auf die Ermittlungsdaten in HOLMES zugreifen zu können, damit man nicht ständig PC Lesley May um einen Gefallen anflehen muss. Schließlich kann man nichts dafür, dass man dadurch zufällig auch noch Extras wie den Sportkanal, Pay-TV-Filme und die Spielekonsole erhält.

»Bedeutet das, dass ein Kabel physisch in das Folly verlegt werden muss?«, erkundigte sich Nightingale, als ich ihm die Sache während der Übungsstunde im Labor vortrug.

»Deshalb heißt es ja Kabel«, nickte ich.

»Linke Hand«, befahl Nightingale, und ich produzierte gehorsam ein Werlicht mit der linken Hand.

»Beibehalten«, sagte er. »Wir können nicht zulassen, dass irgendetwas physisch in das Gebäude eindringt.«

Ich hatte inzwischen ein Stadium erreicht, das es mir erlaubte, ein Gespräch zu führen, während ich das Werlicht aufrechterhielt, aber es war doch ein bisschen anstrengend, die Sache so lässig durchzuziehen, wie ich dabei gern aussehen wollte. »Warum dürfen wir das nicht zulassen?«

»Um das Gebäude wurde eine ganze Reihe von Schutzmaßnahmen errichtet. Das geschah, nachdem man 1941 die neuen Telefonleitungen verlegt hatte. Wenn wir nun eine neue physische Verbindung zur Außenwelt anlegen, schaffen wir eine Schwachstelle.«

Ich gab es auf, lässig erscheinen zu wollen, und konzentrierte mich ganz darauf, das Werlicht aufrechtzuerhalten. Zu meiner Erleichterung erklärte Nightingale bald darauf die Übung für beendet.

»Gut«, nickte er. »Ich denke, Sie sind jetzt fast so weit, dass wir zur nächsten Form übergehen können.«

Ich ließ das Werlicht erlöschen und atmete tief durch. Nightingale schlenderte zum Arbeitstisch hinüber, wo ich mein altes Mobiltelefon zerlegt hatte. Es lag unter einem Mikroskop, das ich in einer Mahagonischatulle in einem der Laborschränke gefunden hatte.

Er strich mit einem Finger über das Gerät aus Messing und schwarzem Lack. »Sie wissen, was das hier ist?«

»Ein Originalmikroskop Charles Perry Nr. 5«, sagte ich. »Hergestellt 1932. Ich habe im Internet nachgesehen.« Nightingale nickte und bückte sich, um durch das Mikroskop die Eingeweide meines Telefons zu betrachten.

»Und Sie glauben, das sei durch Magie verursacht worden?«

»Ich weiß, dass es durch Magie verursacht wurde«, sagte ich. »Ich weiß nur nicht, wie oder warum.«

Nightingale musterte mich nachdenklich. »Peter«, sagte er schließlich, »Sie sind nicht der erste Zauberlehrling mit einem wachen, wissbegierigen Verstand, aber ich will nicht, dass Sie sich durch diese Dinge von Ihren Pflichten ablenken lassen.«

»Natürlich nicht, Sir. Ich werde mich damit nur in meiner Freizeit befassen.«

»Sie wollen sicher gleich das Kutschenhaus vorschlagen«, sagte er.

»Sir?«

»Für diesen Kabelanschluss. Die starken Abwehrmaßnahmen machten die Pferde unruhig, daher wurde die gesamte Remise aus dem Schutzring ausgeschlossen. Ich bin sicher, dass sich dieser Kabelanschluss als sehr nützlich erweisen wird.«

»Ganz bestimmt, Sir«, versicherte ich eifrig.

»Für alle Formen von Unterhaltung«, fügte er hinzu.

»Äh … ja, Sir.«

»Und nun«, befahl Nightingale, »die nächste Form: Impello

 

Ich wusste nicht, ob die Remise von Anfang an mit einem ersten Stockwerk gebaut worden war, etwa als Wohnraum für die Bediensteten oder so. Vielleicht hatte man auch eine neue Decke auf die Garage gelegt, als man das große Haupttor zumauerte, und das obere Stockwerk einfach draufgesetzt. Wie auch immer, jemand hatte irgendwann eine recht schöne schmiedeeiserne Wendeltreppe an der Mauer auf der Hofseite angebracht. Als ich sie zum ersten Mal hinaufstieg, stellte ich zu meiner Verblüffung fest, dass ein gutes Drittel des Schrägdachs auf der Südseite verglast war. Das Glas war zwar außen verschmutzt und manche der Scheiben waren gesprungen, aber es fiel doch noch genügend Licht herein, dass man im Innern die Umrisse von Möbeln erkennen konnte, die mit weißen Staubtüchern verhüllt waren. Im Unterschied zu den anderen Staubtüchern im Folly lag auf diesen hier eine pelzige Staubschicht. Ich glaubte nicht, dass Molly hier in der Remise jemals Staub gewischt hatte.

Schon die Chaiselongue, die nicht zusammenpassenden Beistelltische und eine ganze Ansammlung von Keramik-Obstschalen waren deutliche Hinweise auf die frühere Nutzung des Raums, und wie zur Bestätigung entdeckte ich dann auch noch eine Staffelei sowie eine kleine Holzkiste mit Fehhaarpinseln, die vor Alter brüchig geworden waren. Diesen Raum hatte jemand als Studio benutzt, und wenn man die an der Südwand ordentlich aufgereihten leeren Bierflaschen als Anhaltspunkt nahm, musste es sich um Lehrlinge wie mich gehandelt haben – oder um einen Zauberer mit einem schweren Alkoholproblem.

In einer Ecke lehnten ein paar sorgfältig in Packpapier eingewickelte Leinwände. Es handelte sich um Öl-Stillleben und ein ziemlich amateurhaftes Porträt einer jungen Dame, deren Verlegenheit trotz der reichlich schlampigen Ausführung offenkundig war. Das nächste Gemälde war schon professioneller ausgeführt. Es zeigte einen Gentleman, offenbar zur Zeit König Edwards, der sich lässig in dem Korbsessel zurücklehnte, den ich gerade unter einem Staubtuch entdeckt hatte. Der Mann hielt einen Stock mit Silberknauf in der Hand, und auf den ersten Blick glaubte ich, es sei Nightingale, aber der Mann auf dem Bild war älter und seine Augen waren von leuchtendem Blau. Nightingale senior vielleicht? Das nächste Gemälde, wahrscheinlich vom selben Künstler, war ein Akt, und er schockierte mich derart, dass ich das Bild zum Oberlicht trug, um es genauer betrachten zu können. Aber ich hatte mich nicht geirrt: Das war Molly, die sich da bleich und nackt auf der Chaiselongue räkelte und mich von der Leinwand her mit verhangenem Blick anstarrte. Eine Hand tauchte in eine Schale Kirschen, die auf einem Tisch neben ihr stand. Zumindest hoffte ich, dass es sich um Kirschen handelte. Das Gemälde war impressionistisch, deshalb war schwer zu sagen, was sich in der Schale befand, aber was auch immer es sein mochte, es war kleinteilig und rot und hatte dieselbe Farbe wie Mollys Lippen.

Sorgfältig wickelte ich die Gemälde wieder ein und stellte sie an ihren Platz zurück. Dann untersuchte ich den Raum flüchtig nach Anzeichen von Schimmel, Feuchtigkeit oder anderen Schäden, die dazu führen konnten, dass die Holzbalken morsch und gefährlich wurden. Ich entdeckte, dass sich am zum Innenhof gelegenen Ende des Raumes immer noch eine breite Ladetür befand, darüber ein Hebebalken. Vermutlich hatte er dazu gedient, Heuballen für die Kutschenpferde auf den Speicher zu hieven.

Als ich mich hinauslehnte, um zu prüfen, ob er noch tragfähig war, sah ich Mollys blasses Gesicht hinter einem der oberen Fenster des Folly. Ich weiß nicht, was mir seltsamer vorkam: dass jemand sie dazu überredet hatte, aus ihren Klamotten zu steigen, oder dass sich ihr Aussehen seit siebzig Jahren nicht verändert hatte. Sie zog sich vom Fenster zurück, anscheinend ohne mich gesehen zu haben. Ich drehte mich um und ließ den Blick durch den Raum schweifen.

Ja, dachte ich, das hier ist genau richtig.

Die meisten Verwandten meiner Mutter hatten sich zu irgendeinem Zeitpunkt ihren Lebensunterhalt mit der Reinigung von Büros verdient. Der Job war für eine bestimmte Generation afrikanischer Einwanderer sogar gewissermaßen Teil ihrer Kultur geworden, so ähnlich wie die Beschneidung von Männern oder Fan von Arsenal zu sein. Auch meine Mutter hatte das früher einmal gemacht und hatte mich oft mitgenommen, um kein Geld für einen Babysitter ausgeben zu müssen. Und wenn eine afrikanische Mutter ihren Sohn zur Arbeit mitnimmt, dann erwartet sie von ihm, dass er mitarbeitet, deshalb hatte ich schon ziemlich früh gelernt, wie man mit Besen, Putzlappen und Glasreiniger umgeht.

Am nächsten Tag kehrte ich nach meiner Übungsstunde in die Remise zurück, bewaffnet mit einer Packung Haushaltshandschuhe und dem Numatic-Staubsauger meines Onkels Tito. Ich kann Ihnen versichern, dass tausend Watt Saugkraft einen Riesenunterschied bei der Raumpflege ausmachen, und meine einzige Sorge war, dass ich einen Riss im Raum-Zeit-Gefüge des Universums verursachen könnte. Im Web suchte ich nach einer Fensterreinigungsfirma, und schon bald schrubbten zwei sich ständig zankende Rumäninnen das Oberlicht blank, während ich einen Flaschenzug am Hebebalken anbrachte. Gerade rechtzeitig zur Anlieferung des Fernsehers und des Kühlschranks.

Allerdings musste ich eine Woche lang auf die Verlegung des Kabels warten. Das gab mir die Zeit, meinen Übungsrückstand aufzuholen und mehr über den Aufenthaltsort von Vater Themse herauszubekommen. »Finden Sie ihn. Das ist eine gute Übung für Sie«, hatte Nightingale gesagt. »Sie erhalten dabei zugleich einen tiefen Einblick in die Folklore des Themsetals.« Ich bat ihn um irgendeinen Anhaltspunkt für meine Suche. Er sagte, ich solle immer daran denken, dass Vater Themse traditionell als peripatetischer Geist angesehen werde, was Google zufolge bedeutete, dass er umherwandelte, -wanderte oder -reiste, aber das war nun wirklich keine besonders hilfreiche Information. Ich musste jedoch zugeben, dass die Suche mein Wissen über die Folklore des Themsetals beträchtlich erweiterte, und obwohl das meiste davon ziemlich widersprüchlich war, würde es mich beim nächsten Pubquiz vielleicht eine Runde weiterbringen.

Um meinen Wiedereintritt ins 21. Jahrhundert zu feiern, bestellte ich Pizzas und lud Lesley ein, sich meine neue Bleibe anzuschauen. Vorher nahm ich ein ausgiebiges Bad in der Porzellanwanne mit den Löwenfüßen, die das gemeinschaftlich genutzte Badezimmer auf meinem Stock im Folly beherrschte, und nicht zum ersten Mal schwor ich mir, endlich eine Dusche einbauen zu lassen. Ich bin bestimmt kein Pfau, aber ab und zu werfe ich mich auch gern ein wenig in Schale – allerdings trug ich, wie die meisten Polizisten, nicht viel Glitzerzeug. In diesem Job lautet die Regel, nichts um den Hals zu tragen, womit man erdrosselt werden könnte. In der Remise legte ich ein paar Becks in den Kühlschrank, denn ich wusste, dass Lesley Flaschenbier bevorzugte, und setzte mich dann auf die Couch, um mir mit dem Sportkanal die Zeit zu vertreiben, bis sie auftauchte.

Unter den vielen neumodischen Erfindungen, die ich im Kutschenhaus installiert hatte, war auch eine Sprechanlage an der Seitentür der Garage, so dass ich, als Lesley endlich erschien, nur auf den Türöffner drücken musste.

Ich öffnete die obere Tür, als sie oben an der Wendeltreppe ankam – und sie war nicht allein.

»Ich habe Beverley mitgebracht«, sagte Lesley.

»Das sehe ich.«

Ich bot ihnen ein Bier an. »Zuerst«, sagte Beverley, »will ich von dir hören, dass ich durch das, was ich hier in diesem Haus esse oder trinke, keinerlei Verpflichtungen eingehe. Und keine blöden Ausreden diesmal.«

»Okay, okay«, sagte ich. »Iss, trink, keinerlei Verpflichtungen, bei meiner Pfadfinderehre.«

»Bei deiner magischen Kraft«, sagte Beverley.

»Ich schwöre es bei meiner magischen Kraft.«

Beverley schnappte sich ein Bier, hüpfte aufs Sofa, entdeckte die Fernbedienung und begann, wild durch die Kanäle zu zappen. »Hast du ein Spielfilm-Abo?«, wollte sie wissen. Das verursachte eine dreiseitige Auseinandersetzung über die Frage, was wir anschauen wollten, die ich gleich zu Beginn verlor und die Lesley schließlich dadurch entschied, dass sie die Fernbedienung an sich riss und auf einen der Spielfilmkanäle schaltete.

Beverley beschwerte sich gerade darüber, dass auf keiner der Pizzas Peperoni waren, als sich die Tür einen schmalen Spalt öffnete und ein blasses Gesicht hereinlugte: Molly. Sie starrte uns an, und wir starrten zurück.

»Willst du nicht reinkommen?«, fragte ich.

Molly glitt leise herein und zum Sofa, wo sie sich neben Beverley setzte. Mir wurde plötzlich klar, dass ich sie noch nie aus solcher Nähe gesehen hatte. Ihre Haut war sehr blass und so vollkommen glatt wie Beverleys. Molly lehnte das Bier ab, nahm aber vorsichtig ein Stück Pizza. Als sie es aß, wandte sie den Kopf ab und verdeckte den Mund mit der Hand.

»Wann willst du dich mit Vater Themse befassen?«, fragte Beverley. »Mum wird allmählich ungeduldig und die Richmond-Bande wird unruhig.«

»Die Richmond-Bande«, echote Lesley und schnaubte.

»Zuerst müssen wir ihn finden«, sagte ich.

»Kann doch nicht so schwer sein«, gab Beverley zurück. »Er kann sich nicht weit vom Fluss entfernen. Warum mietest du nicht einfach ein Boot und fährst flussaufwärts, bis du an der richtigen Stelle ankommst?«

»Woran merke ich es, wenn ich an der richtigen Stelle ankomme?«

»Ich würde es merken.«

»Warum kommst du dann nicht einfach mit?«

»Kommt nicht in Frage«, sagte Beverley entschieden. »Du bringst mich nicht weiter als bis zur Teddington-Schleuse. Ich bin strikt gezeitenabhängig.«

Plötzlich fuhr Mollys Kopf herum, sie blickte zur Tür, und einen Augenblick später klopfte es. Beverley warf mir einen Blick zu, aber ich zuckte die Schultern – ich erwartete keinen Besuch. Ich drückte auf die Stummtaste der Fernbedienung und ging zur Tür. Draußen stand Inspector Nightingale. Er trug ein blaues Polohemd und einen Blazer, was nach meiner Einschätzung für ihn den Gipfel von Freizeitkleidung darstellte. Einen Augenblick lang starrte ich ihn einfältig an, dann bat ich ihn einzutreten.

»Wollte nur mal schauen, was Sie aus den Räumen gemacht haben«, sagte er.

Molly schoss aus ihrem Sitz hoch, als Nightingale ins Zimmer trat, Lesley sprang auf, weil er ein höhergestellter Polizist war, und Beverley stand entweder aus jungfräulicher Höflichkeit oder zur Vorbereitung einer schnellen Flucht auf. Ich stellte ihm Beverley vor, die er einmal kurz kennengelernt hatte, als sie zehn war.

»Möchten Sie ein Bier, Sir?«, fragte ich.

»Danke«, antwortete Nightingale. »Sie dürfen mich ruhig Thomas nennen.«

Das würde ich auf gar keinen Fall tun. Ich reichte ihm eine Flasche und lud ihn mit einer Handbewegung ein, sich auf die Chaiselongue zu setzen. Er setzte sich vorsichtig und kerzengerade an ein Ende; ich nahm am anderen Ende Platz. Beverley ließ sich mitten aufs Sofa plumpsen, Lesley saß in einer milden Form von Habachtstellung neben ihr und Molly zuckte ein paarmal wieder hoch, bis sie sich endlich auf der Sofakante niederließ. Den Blick hielt sie starr auf den Boden gerichtet.

»Das ist aber ein sehr großes Fernsehgerät«, bemerkte Nightingale.

»Es ist ein Plasma-Fernseher«, sagte ich. Nightingale nickte weise, während Beverley außerhalb seines Blickfelds die Augen verdrehte.

»Und – werden sie heutzutage ohne Ton geliefert?«, erkundigte sich Nightingale.

»Nein, ich habe ihn nur auf stumm gestellt.« Ich fischte die Fernbedienung vom Tisch und wir erlebten zehn Sekunden Lärmfolter, bis es mir gelang, die Lautstärke herunterzufahren.

»Der Ton ist sehr klar«, sagte Nightingale, »wie Privatkino.«

Wir saßen eine Weile schweigend da und genossen die Privatkinoqualität des Raumklangsystems.

Schließlich bot ich ihm ein Stück Pizza an, aber er erklärte, er habe schon gegessen. Er erkundigte sich nach Beverleys Mutter und erhielt die Auskunft, dass es ihr gut gehe. Danach trank er sein Bier aus und stand auf.

»Ich muss mich wieder auf den Weg machen«, sagte er. »Danke für das Bier.«

Wieder standen alle auf, und ich begleitete ihn zur Tür. Als ich die Tür hinter ihm geschlossen hatte, hörte ich Lesley erleichtert ausatmen. Sie ließ sich aufs Sofa zurückfallen. Beinahe hätte ich vor Schreck aufgeschrien, als Molly plötzlich mit raschelnden Kleidern an mir vorbei zur Tür hinausglitt.

»Irgendwie peinlich«, sagte Beverley.

»Du glaubst doch nicht, dass sie und Nightingale …?«, fragte Lesley.

»Äh«, antwortete Beverley. »Das wäre ja wohl total daneben.«

»Ich dachte, du bist mit Molly befreundet?«, fragte ich.

»Ja, schon, aber sie ist ein Geschöpf der Nacht«, sagte Beverley. »Außerdem ist er alt.«

»Nicht so wahnsinnig alt«, warf Lesley ein.

»Oh doch, das ist er«, sagte Beverley, aber so viele Anspielungen ich an diesem Abend auch noch machte, mehr wollte sie nicht dazu sagen.