13
London Bridge

Es ist nicht leicht, einen Sattelschlepper durch die Wapping Wall zu steuern, deshalb heuerte ich einen Mann mittleren Alters namens Brian dafür an. Brian hatte eine Halbglatze, einen Bierbauch und einen ausgesprochen unflätigen Wortschatz, und das Einzige, was am Stereotyp des typischen Bierkutschers fehlte, waren ein Schokoriegel Marke Yorkie und ein zusammengerolltes Exemplar des Busen- und Skandalblatts The Sun. Aber schließlich hatte ich ihn nicht angeheuert, weil ich Wert auf seine Gelehrsamkeit legte, und tatsächlich lenkte er das Ding geschickt den ganzen Weg bis zu Mama Themses Haus, ohne dass irgendeine Versicherung für irgendeinen Schaden aufkommen musste.

Wir parkten den Sattelschlepper halb vor Mama Themses Haus, halb vor dem historischen Pub Prospect of Whitby. Dessen Personal nahm wohl an, dass hier eine Lieferung anrollte, von der niemand eine Ahnung hatte, denn alle kamen aus dem Haus gerannt. Ich erklärte ihnen, dass es sich um eine Privatparty handle, und seltsamerweise schien sie das keineswegs zu überraschen. Ich bat Brian zu warten, nahm meine Kiste aus dem Fahrerhaus und stolperte damit zum Haupteingang hinüber. Dort stellte ich die Kiste ab und drückte auf die Klingel. Dieses Mal wurde mir die Tür von der weißen Dame geöffnet, die mir schon beim letzten Besuch unter Mama Themses Kumpaninnen aufgefallen war. Sie trug heute ein anderes, aber ebenso adrettes Twinset und Perlen und hatte ein kleines, dunkelhäutiges Kind an der Hand.

»Hallo, Constable Grant!«, sagte sie. »Wie nett, Sie wieder begrüßen zu dürfen.«

»Lassen Sie mich raten«, sagte ich. »Sie müssen Lea sein.«

»Sehr gut«, sagte Lea. »Ich mag junge Männer, die ein bisschen Verstand im Kopf haben.« Der Fluss Lea entspringt in den Chilterns, nordwestlich von London, und umfließt den nördlichen Teil der Stadt, bis er eine scharfe Biegung nach Süden macht und durch das Lea-Tal zur Themse fließt. Es ist der am wenigsten zugebaute Fluss Londons und auch der größte, deshalb überlebte er sogar den Großen Gestank. Lea musste zu Oxleys Generation der Genii locorum gehören – oder sogar noch älter sein.

Ich schnitt dem kleinen Mädchen eine Grimasse, und sie tat sofort das Gleiche. »Und wer ist das?«, fragte ich.

»Das ist Brent«, erklärte Lea. »Sie ist die Jüngste.«

»Hallo, Brent«, sagte ich. Sie war heller als ihre Schwestern und hatte große braune Augen, die ein gutmütiger Lügner vielleicht Rehaugen hätte nennen können, aber die streitlustigen Gesichtszüge darum herum waren unverkennbar. Sie trug eine Miniausgabe des roten Auswärtstrikots der englischen Fußballnationalmannschaft, wie zu erwarten mit der Nummer 11.

»Du riechst aber komisch«, stellte Brent fest.

»Das kommt daher, dass er ein Zauberer ist«, erklärte ihr Lea.

Brent wand sich aus Leas Griff und nahm meine Hand. »Komm mit.« Sie versuchte mich durch die Tür zu ziehen. Sie war überraschend stark und ich musste mich tatsächlich ein wenig gegen sie stemmen. »Ich muss meine Kiste mitnehmen«, sagte ich.

»Keine Sorge, darum kümmere ich mich«, sagte Lea.

Ich ließ mich von Brent durch den langen kühlen Flur zu Mama Themses Apartment ziehen. Hinter mir hörte ich, wie Lea nach Onkel Bailiff rief und ihn fragte, ob er nicht so lieb sein wolle, die Kiste zu Mamas Wohnung zu bringen?

Sie warteten im Thronsaal auf mich. Dieses Mal erkannte ich deutlich, dass ich mich im Thronsaal befand, die Mangrove im großen Topf beschirmte den Thronsessel, der vermutlich aus einer Filiale von World of Leather stammte. Und darauf thronte Mama Themse in der ganzen Pracht ihrer österreichischen Spitze und einem Kopfschmuck aus blauen und weißen portugiesischen Perlen. Hinter ihr war ihr Hofstaat arrangiert, gekleidet in Batikwickelröcke und Kopftücher, und vor ihr standen rechts und links ihre Töchter aufgereiht, die sich an den Händen hielten, so dass sie eine Art Spalier bildeten, durch das ich gehen musste. Links sah ich Tyburn und Fleet, daneben zwei Teenager mit dünnen Zöpfen und Kaschmirpullovern. Beverley stand auf der rechten Seite, mit ihren Lycrashorts und einem roten Sweatshirt war sie eindeutig falsch angezogen. Als sie sich sicher war, dass ich sie anschaute, verdrehte sie die Augen. Neben ihr stand eine erstaunlich große und schlanke Frau mit Fuchsgesicht, Haarverlängerung in Blau und Blond und verlängerten Fingernägeln, die grün, gold und schwarz lackiert waren. Ich vermutete, dass dies Effra war, noch so ein unterirdischer Londoner Fluss – bestimmt arbeitete sie nebenher als Göttin des Brixton Market. Soweit ich sehen konnte, standen die Flüsse des Londoner Nordens links und die des Südens rechts.

Brent ließ meine Hand los, versuchte sich mit einem Knicks in Richtung Mama Themse, verdarb aber gleich die Wirkung wieder, als sie ganz unzeremoniell zu ihrer Mutter hinüberhüpfte und sich auf ihren Schoß warf. In der Zeremonie entstand eine kurze Pause, während sich das kleine Mädchen bequem zurechtsetzte.

Mama Themse wandte mir das Gesicht zu, und die Unterströmung ihres Blicks zog mich näher zu ihrem Thron. Ich musste den Drang unterdrücken, mich auf die Knie zu werfen und mit der Stirn auf den Teppich zu schlagen.

»Constable Peter«, sagte Mama Themse. »Wie schön, dich wiederzusehen.«

»Ich freue mich, hier zu sein. Als Unterpfand meiner Hochachtung habe ich ein Geschenk mitgebracht«, sagte ich in der Hoffnung, dass die Kiste hergebracht wurde, bevor mir die Höflichkeitsfloskeln ausgingen. Zum Glück hörte ich ein Klirren, und Onkel Bailiff trug meine Kiste herein. Er war ein untersetzter Mann, der sein Haar zu einer Beinahe-Glatze getrimmt hatte. Auf dem Nacken hatte er ein paar verblasste SS-Blitzsymbole eintätowiert. Er stellte die Kiste direkt vor Mama Themse auf den Boden, nickte ihr respektvoll zu und ging wieder, wobei er mir einen mitleidigen Blick zuwarf.

Eine der Gefährtinnen trat vor, zog eine Flasche aus der Kiste und zeigte sie Mama Themse. »Star Beer«, sagte sie. Das Hauptprodukt der Nigerian Breweries PLC, das normalerweise in Großbritannien nur von guten Importeuren zu bekommen war, und in Großhandelsmengen dann, wenn deine Mum jemanden kennt, der jemanden kennt, der jemandem einen Gefallen schuldet.

»Wie viel hat er mitgebracht?«, fragte Fleet. »Eine Lkw-Ladung«, sagte Lea.

»Wie groß ist der Lkw?«, fragte Mama Themse, ohne den Blick von mir abzuwenden.

»Echt groß«, sagte Brent.

»Alles Star Beer?«, fragte Mama Themse weiter.

»Ich habe auch etwas Gulder dabei«, sagte ich. »Außerdem Red Stripe, zwei Kisten Bacardi, ein wenig Appleton, Cointreau und ein paar Flaschen Bailey’s.« Dazu hatte ich meine gesamten Ersparnisse flüssig machen müssen, aber wie Mum sagt, etwas Wichtiges kriegt man eben nicht umsonst.

»Das ist ein großzügiges Geschenk«, sagte Mama Themse nach einer kleinen Pause.

»Das ist doch wohl nicht Ihr Ernst?«, fragte Tyburn.

»Keine Angst, Ty«, sagte ich. »Für Sie hab ich auch ein paar Flaschen Perrier aufladen lassen.«

Jemand kicherte – wahrscheinlich Beverley.

»Und was kann ich für dich tun?«, fragte Mama Themse.

»Es ist nur eine Kleinigkeit«, sagte ich. »Eine Ihrer Töchter meint, dass sie das Recht hat, sich in die Angelegenheiten des Folly einzumischen. Alles, worum ich bitte ist, dass sie sich da heraushält und die zuständigen Behörden nicht an ihrer Arbeit hindert.«

»Die zuständigen Behörden«, zischte Tyburn verächtlich.

Sie löste sich aus der Reihe, trat vor den Thron, und Mama Themse wandte ihr den Blick zu. »Du glaubst also, dass du das Recht hast, dich da einzumischen?«, fragte Mama Themse.

»Mum«, antwortete Tyburn, »das Folly ist ein Relikt, eine verspätete viktorianische Schnapsidee und ungefähr so nützlich wie die Bärenfellmützen der Palastwache – schön und gut als Touristenattraktion, aber damit kann man doch eine moderne Großstadt nicht managen!«

»Darüber zu entscheiden, ist nicht Ihre Sache, Ty«, sagte ich.

»Aber Ihre?«

»Oh ja«, antwortete ich. »Meine Pflicht und Schuldigkeit – und meine Entscheidung.«

»Und nun bitten Sie darum …«

»Ich bitte nicht«, sagte ich, denn die Zeit für Höflichkeiten war endgültig vorbei. »Sie sollten es sich gut überlegen, ob Sie sich mit mir anlegen wollen, Tyburn.«

Tyburn wich unwillkürlich ein wenig zurück, fing sich aber schnell wieder. »Ich weiß, wer Sie sind. Ihr Vater ist ein gescheiterter Musiker, und Ihre Mutter geht Büros putzen, um über die Runden zu kommen. Sie selber wuchsen in einer Sozialwohnung auf, gingen in die örtliche Gesamtschule und fielen beim Abitur durch …«

»Ich bin vereidigter Constable«, sagte ich. »Und damit bin ich ein Vertreter des Gesetzes. Und ich bin Zauberlehrling und damit Bewahrer der Geheimen Flamme und vor allem bin ich ein freier Bürger Londons, und das macht mich zum Fürsten dieser Stadt.« Ich stieß aggressiv den Zeigefinger in ihre Richtung. »Kein Spitzenabschluss von Oxford kann da mithalten.«

»Ach, glauben Sie?«

»Das reicht jetzt!«, sagte Mama Themse. »Lass ihn wieder in sein Haus.«

»Es ist nicht sein Haus«, sagte Tyburn.

»Tu, was ich dir sage!«

»Aber Mum …«

»Tyburn!«

Tyburn sah ziemlich gebeutelt aus, und einen Augenblick lang tat sie mir leid. Keiner von uns ist jemals so erwachsen, dass unsere Mütter glauben, wir wären zu alt für eine Tracht Prügel. Wortlos zog sie ein Slimline-Nokia aus der Tasche und rief eine Nummer an, wobei sie den Blick keinen Moment lang von mir abwandte. »Sylvia«, sagte sie, »ist der Commissioner zu sprechen? Gut. Würden Sie mich kurz zu ihm durchstellen?« Damit hatte sie uns gezeigt, was sie uns hatte zeigen wollen, drehte sich um und ging mit dem Telefon am Ohr aus dem Raum. Ich widerstand dem Drang, Schadenfreude zu zeigen, warf aber doch einen schnellen Blick zu Beverley hinüber, um zu sehen, ob sie von mir beeindruckt war. Sie schaute betont gleichgültig zurück, was mindestens so viel besagte wie eine herübergeworfene Kusshand.

»Peter.« Mama Themse winkte mich zu sich und bedeutete mir, dass sie mir etwas im Vertrauen sagen wolle. Ich versuchte mich so würdevoll wie möglich zu ihr hinunterzubeugen, fand mich aber plötzlich auf den Knien wieder, sehr zu Brents Belustigung. Mama Themse beugte sich vor, und ihre Lippen berührten kurz meine Stirn.

Einen Augenblick lang stand ich hoch oben auf einer der Torhauben des großen Themsewehrs und schaute nach Osten bis hin zur Mündung des Flusses. Ich spürte, dass hinter mir die Türme der Canary Wharf triumphierend aufragten, dahinter die Docks, der White Tower und all die Brücken, Glockentürme und Häuser Londons. Doch hinter dem Horizont spürte ich den Sturm wüten, spürte das Unheil lauern, spürte, wie Sturmfluten, Klimawandel und miserable Planung eine fatale Verschwörung eingingen. Bereit, eine zehn Meter hohe Wasserwand den Fluss hinaufzutreiben und Brücken, Türme und den ganzen Rest zu vernichten.

»Nur damit du verstehst, wo die wirkliche Macht liegt«, sagte Mama Themse.

»Ja, Mama«, sagte ich.

»Ich erwarte, dass du meinen Streit mit dem Alten Mann beilegst«, fuhr sie fort.

»Ich werde mein Bestes tun.«

»Recht so. Und weil du so gute Manieren hast, mache ich dir noch ein letztes Geschenk.« Sie neigte sich ganz nah zu mir und flüsterte mir einen Namen ins Ohr: »Tiberius Claudius Verica.«

 

Die Fallschirmjäger waren verschwunden, als ich zum Russell Square zurückkehrte. Jetzt hatte ich wieder volle Verfügungsgewalt über das Folly, aber auch die Verantwortung. Toby warf sich gegen meine Schienbeine, kaum dass ich durch die Tür war, japste freudig und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz. Als er entdeckte, dass ich ihm nichts Essbares mitgebracht hatte, verlor er schlagartig das Interesse und trollte sich davon. Molly erwartete mich am Fuß der westlichen Treppe. Ich erzählte ihr, dass Nightingale bei Bewusstsein war, und log ihr vor, dass er sich erkundigt habe, wie es ihr gehe. Und dann erzählte ich ihr, was ich tun wollte, und sie prallte förmlich zurück.

»Ich geh nur schnell in mein Zimmer, ein paar Sachen holen«, sagte ich. »Bin in einer halben Stunde wieder unten.«

In meinem Zimmer holte ich meine Aufzeichnungen aus dem Lateinunterricht hervor und schaute nach, was es mit römischen Namen auf sich hatte. Sie bestanden in der Regel aus drei Teilen – Vornamen, Namen und Beinamen – und verrieten einem, soweit man die eigene Handschrift lesen konnte, einiges über die jeweilige Person. Verica war kein römischer Name, ich hielt ihn für britisch, und Tiberius Claudius waren die ersten beiden Namensteile von Tiberius Claudius Caesar Augustus Germanicus, auch bekannt als Kaiser Claudius, der Typ, der den ganzen Laden leitete, als Britannien von den Römern erobert wurde. Das Imperium zog es vor, wenn möglich die lokale Herrschaftselite an sich zu binden – es war entschieden leichter, ein erobertes Land in den Griff zu kriegen, wenn man erst mal ein bisschen was springen ließ und die Leute bei einem schönen Abendessen einlullte. Ein gern verwendetes Mittel der Bestechung war das römische Bürgerrecht, und viele, die das Angebot annahmen, behielten zwar ihren ursprünglichen einheimischen Namen, setzten ihm aber den Vornamen und Hauptnamen ihres Gönners voran, in diesem Fall den des Imperators. So konnte ich aus seinem Namen ableiten, dass Tiberius Claudius Verica ein britischer Aristokrat gewesen war, der um die Zeit gelebt haben musste, als London gegründet wurde.

Und das bedeutete – gar nichts, soweit ich sehen konnte. Wenn ich die nächste Stunde oder so überlebte, würde ich darüber mal ein Wörtchen mit Mama Themse reden müssen. Aber im Moment hatte ich dringendere Probleme.

 

Im Jahr 1861 trennte sich William Booth von den Methodisten in Liverpool und zog nach London, wo er in der besten großstädtischen Tradition der Selbsterneuerung eine eigene Gemeinde gründete, um den heidnischen Eingeborenen Ostlondons Jesus, Brot und Sozialarbeit zu bescheren. 1878 erklärte er, dass er es satthabe, immer nur als Ehrenamtlicher herumzulaufen, und dass er wahrhaftig ein reguläres Mitglied der Armee Christi sei, und damit war die Heilsarmee geboren. Aber keine Armee, so heilig ihre Motive auch sein mögen, besetzt ein fremdes Land, ohne auf Widerstand zu stoßen, und diesen Widerstand leistete die sogenannte »Skelettarmee«. Ihre Angehörigen wurden von viel Gin und blanker Sturheit angetrieben. Ihrer Meinung nach war es schon schlimm genug, der viktorianischen Arbeiterklasse anzugehören; zu allem Überfluss auch noch die Predigten einer Bande selbstgerechter Nordengländer anhören zu müssen, war einfach zu viel. Und so machte sich die Skelettarmee daran, die Versammlungen und Märsche der Heilsarmee gründlich zu stören und deren Offizierskorps nach Strich und Faden zu verprügeln. Das Emblem der Skelettarmee war ein weißes Skelett vor schwarzem Hintergrund – das Abzeichen wurde von jedem rechtschaffenen Taugenichts zwischen Worthing und Bethnal Green getragen. Ich hatte es an der geisterhaften Gestalt des Nicholas Wallpenny gesehen, und wenn es jemals einen idealen Rekruten für die Skelettarmee gegeben hat, dann war es Nicholas. Ein solches Abzeichen hatte ich dann auch auf dem Friedhof der Schauspielerkirche gefunden. Nightingale hatte gesagt, dass ich einen spirituellen Führer brauchen würde, und da gerade keine mystischen Bären, Kojoten oder dergleichen verfügbar waren, musste ich mich mit einem diebischen Cockneygeist begnügen.

Das Abzeichen lag noch dort, wo ich es hingetan hatte, nämlich in einer Plastikschachtel mit Briefklammern. Ich legte es auf meine Handfläche. Eigentlich war es ein billiges Ding aus Zinn und Messing. Doch als ich die Hand darum schloss, nahm ich einen flüchtigen Geruch von Gin wahr, hörte alte Lieder und spürte einen Stich von Verbitterung und Wut.

Da ich eine rein spirituelle Reise plante, brauchte ich nichts weiter mitzunehmen, und ich hatte auch schon lange genug herumgetrödelt. Zögernd ging ich die Treppe hinunter. Molly wartete im Atrium auf mich. Sie hatte den Kopf gesenkt, ihr Haar verhüllte ihr Gesicht wie ein schwarzer Vorhang, die Hände hielt sie vor sich verschränkt.

»Ich hab doch auch keine Lust dazu!«, sagte ich.

Sie hob den Kopf und blickte mir zum ersten Mal direkt in die Augen.

»Tu es«, sagte ich.

Sie bewegte sich so schnell, dass ich es gar nicht wahrnahm, warf sich förmlich auf mich. Ein Arm glitt um meine Schultern und ihre Hand packte meinen Hinterkopf, der andere Arm legte sich um meine Taille. Ich spürte ihre Brüste gegen meinen Oberkörper drücken, mit den Schenkeln umklammerte sie mein Bein. Sie vergrub das Gesicht an meinem Hals, und ich spürte ihre Lippen an meiner Kehle. Von plötzlicher Angst gepackt versuchte ich sie von mir zu stoßen, aber sie hielt mich enger umklammert als bei einem Liebesakt. Ihre Zähne kratzten über meinen Hals und dann kam der Schmerz, wie von einem Schlag, als sie zubiss. Ich spürte, wie sie mein Blut saugte und schluckte, aber nun fühlte ich auch schon eine Verbindung zu den Fliesen unter meinen Füßen und zu den Ziegelsteinen in der Mauer – dem gelblichen Londoner Lehm – und dann fiel ich rückwärts ins Tageslicht und roch Terpentin.

Es war nicht wie Virtual Reality oder wie man sich ein Hologramm vorstellt, sondern eher wie das Einatmen eines Vestigium, wie Schwimmen in einem Stein. Ich fand mich in den Erinnerungen des Atriums, des Folly, wieder.

Ich hatte es getan – jetzt war ich drin.

 

Das Atrium sah fast unverändert aus, nur die Farben waren gedämpft, wie das Sepia alter Fotografien, und in meinen Ohren war ein Klingeln, wie man es empfindet, wenn man zur tiefsten Stelle des Schwimmbeckens taucht. Molly war verschwunden, aber ich glaubte Nightingale flüchtig zu sehen, oder vielleicht auch nur das Abbild Nightingales in der steinernen Erinnerung, wie er müde die Treppe hinaufstieg. Meine Hände hatten sich ineinander verkrampft; ich öffnete sie und sah nach, ob ich das Skelettabzeichen immer noch in der Hand hielt. Es war noch da, und als ich die Hand wieder darum schloss, spürte ich, dass mich das Abzeichen ganz leicht in südliche Richtung zog. Ich drehte mich um und ging zu dem Seiteneingang, der auf den Bedford Place hinausführte, aber als ich das Atrium durchquerte, wurde mir plötzlich eine riesige Dunkelheit unter mir bewusst. Es war, als seien die schwarzen und weißen Fliesen transparent geworden und durch sie hindurch blickte ich in einen entsetzlichen Abgrund – dunkel, bodenlos und kalt. Ich wollte schneller gehen, aber es war, als müsse ich gegen einen gewaltigen Gegenwind ankämpfen. Ich lehnte mich nach vorn und stemmte mich mit aller Kraft dagegen, um voranzukommen. Erst als ich mich vorsichtig durch das labyrinthartige Dienstbotenquartier unter dem östlichen Treppenhaus bewegt hatte, kam mir ein Gedanke: Wenn dies das Geisterreich war, konnte ich vielleicht einfach durch die Wände gehen? Aber nachdem ich ein paarmal mit dem Kopf gegen die Wand gedonnert war, öffnete ich dann doch lieber die Seitentür wie ein Normalsterblicher.

Und trat in die Dreißigerjahre hinaus. Es roch nach Pferden. Dass es die Dreißigerjahre waren, merkte ich an den Zweireiher-Anzügen und den Gangsterhüten. Autos waren nur als Schatten zu sehen, aber die Pferde waren solide und rochen nach Schweiß und Mist. Auf den Gehwegen spazierten Leute, die absolut normal wirkten, wenn man von ihrem leeren Blick absah. Ich wagte ein Experiment und stellte mich einem Mann direkt in den Weg, aber er ging einfach um mich herum, als sei ich ein zwar vertrautes, aber völlig unwichtiges Hindernis. Ein durchdringender Schmerz zuckte durch meinen Hals und erinnerte mich daran, dass ich hier nicht zu einer Besichtigungstour unterwegs war.

Ich ließ mich von dem Abzeichen durch Bedford Place ziehen und weiter zum Bloomsbury Square. Der Himmel kam mir seltsam unbestimmt vor, mal blau, mal bewölkt, dann wieder schmutzig grau gesprenkelt vom Kohlenrauch. Unterwegs fiel mir auf, dass sich die Kleider der Passanten veränderten, die Geisterautos waren auf einmal verschwunden und selbst die Skyline der Stadt änderte sich. Mir wurde klar, dass ich immer weiter durch die historischen Zeiten zurückgezogen wurde. Wenn ich richtig vermutet hatte, würde mich Nicholas’ Abzeichen nicht nur zu seinem Geisterjagdrevier am Covent Garden führen, sondern auch zurück in der Zeit bis zum Beginn seines Geisterdaseins.

Das neueste Buch zu diesem Thema, das ich hatte finden können, war 1936 erschienen und von einem Burschen namens Lucius Brock verfasst worden. Brock spekulierte darin, dass sich die Vestigia gewissermaßen in Schichten ablagerten, vergleichbar mit archäologischen Ablagerungen, und dass die verschiedenen Geister verschiedene Schichten »bewohnten«. Ich war zu Wallpenny im spätviktorianischen Zeitalter unterwegs, und er würde mich dann zu Henry Pyke im späten 18. Jahrhundert führen, und dort würde mir Pyke, ob es ihm gefiel oder nicht, seine letzte Ruhestätte verraten.

Ich war gerade mal bis zur Drury Lane gelangt, als mich das viktorianische Zeitalter mit einem üblen Würgereiz in die Knie zwang. An den alles durchdringenden Gestank von Pferdemist hatte ich mich fast schon gewöhnt, aber jetzt war ich in den 1870er-Jahren angekommen und die waren ungefähr so, als würde ich den Kopf in eine Jauchegrube stecken. Auch wenn es nur ein Vestigium war, es war so stark, dass ich mein imaginäres Mittagessen in die schmutzige Gosse entsorgte. Ich schmeckte Blut im Mund – es musste mein eigenes Blut sein, zweifellos eine Art Treibstoff für den okkulten Scheiß, den Molly fabrizierte, um mich in der Zeitreiseschleife zu halten.

Die Bow Street war überfüllt mit riesigen Karren, gezogen von ebenso riesigen Pferden. Dies war Covent Garden zu seiner besten Zeit, und ich erwartete, dass mich das Skelettabzeichen nun durch die Russell Street bis zur Piazza führen würde, doch stattdessen dirigierte es mich nach links, die Bow Street hinauf und zum Royal Opera House. Aber schon unterwegs veränderte sich die Form der Kutschen und ich merkte, dass ich zu weit in der Zeit zurückgegangen war und dass mit Plan A etwas schiefgelaufen sein musste.

Auf dem Opernvorplatz verschwanden die schweren Karren völlig, als seien sie für die nächste Szene von der Bühne geräumt worden. Der Himmel verdunkelte sich, die Straßen wurden düster und waren nur noch von Fackeln und Öllaternen beleuchtet. Die geisterhaften Abbilder vergoldeter Kutschen glitten an mir vorbei; parfümierte Damen und Herren mit Perücken promenierten die Treppen des alten Theatre Royal hinauf und hinunter. Eine Gruppe von drei Männern fiel mir auf. Sie kamen mir solider vor als die übrigen Gestalten, materiell dichter und realistischer. Einer von ihnen war ein stattlicher älterer Herr mit großer Perücke, der steif an einem Stock ging – das musste Charles Macklin sein. Das Licht klebte an ihm, als würde er für eine Nahaufnahme hervorgehoben – von wem, dürfte nicht schwer zu erraten sein.

Das hier, nahm ich an, sollte wohl die Wiederaufführung der berüchtigten Szene werden, in der Henry Pyke vom feigen Charles Macklin ermordet wird – und wie aufs Stichwort betrat auch schon Henry Pyke persönlich den Schauplatz, und zwar im Zustand höchster Erregung, mit schief sitzender Perücke und einem überdimensionalen Stock in der Hand.

Und jetzt erkannte ich sein Gesicht. Ich hatte es das erste Mal in einer kalten Januarnacht gesehen, und es hatte sich als Nicholas Wallpenny vorgestellt, einstmals wohnhaft in der Pfarrgemeinde Covent Garden. Aber nein: das Gesicht gehörte nicht Nicholas Wallpenny, sondern Henry Pyke. Und es war immer Henry Pyke gewesen, von Anfang an, seit unserem ersten Zusammentreffen unter dem Portikus der Schauspielerkirche, und ich musste zugeben, dass er dort eine darstellerische Glanznummer als quietschvergnügter Cockney abgeliefert hatte. Nun war klar, warum sich Wallpenny nicht blicken lassen wollte, solange Nightingale in der Nähe war. Es bedeutete aber auch, dass die Szene im Park neben der Kirche, bei der ich eine größere Grabung mitten auf dem Gelände eines wertvollen Londoner Kulturerbes verursacht hatte, nichts anderes als genau das gewesen war – nämlich eine Szene, eine Aufführung.

»Zu Hülfe! Zu Hülfe!«, schrie einer von Macklins Begleitern. »Meuchelmord!«

Manche Dinge sind einfach universal und laufen immer gleich ab. Vögel müssen fliegen. Fische müssen schwimmen. Und Narren und Polizisten müssen hinrennen, wenn jemand schreit. Ich schaffte es jedoch, mich so weit zu beherrschen, dass ich nicht »Oi!« schrie, als ich losstürmte. So war ich nur noch zwei Meter von Henry Pyke entfernt, als er mich kommen sah. Mit Befriedigung sah ich, dass ein »Oh, verdammt«-Ausdruck auf seinem Gesicht erschien, und dann veränderte sich das Gesicht und wurde zu der lächerlichen Viertelmondkarikatur, die ich inzwischen unter dem Namen Mr. Punch kannte, Geist des Aufruhrs und der Rebellion.

»Weißt du«, quäkte er, »du bist nicht halb so blöd, wie du aussiehst.«

Die Standardrichtlinie für den Umgang mit Irren besagt klipp und klar: Bringe sie dazu weiterzureden, schiebe dich währenddessen näher an sie heran und packe sie, wenn sie gerade nicht herschauen.

»Du also warst das, der sich als Nicholas Wallpenny ausgegeben hat?«

»Nein«, antwortete Mr. Punch. »Das ganze Täuschungsmanöver hat Henry Pyke für mich arrangiert, der arme Tropf lebt doch nur dafür, schauspielern zu dürfen, es ist alles, was er im Leben wollte.«

»Nur ist er tot«, sagte ich.

»Weiß ich«, sagte Mr. Punch. »Ist das Universum nicht wunderbar?«

»Wo ist Henry jetzt?«

»Er sitzt im Kopf deiner Freundin, um ihr Gehirn fleischlich zu erkennen, sozusagen.« Mr. Punch warf den Kopf zurück und kreischte vor Lachen. Ich sprang ihn an, aber der schlüpfrige Bastard wirbelte herum und rannte in eine der schmalen Gassen, die in die Drury Lane mündeten.

Ich rannte ihm hinterher. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob mich in diesem Moment der Geist jedes einzelnen Londoner Ordnungshüters stärkte und anspornte, aber immerhin stammen wir alle aus der Bow Street, und eins steht fest: Eher hätte ich zu atmen aufgehört, als diesen Burschen nicht zu verfolgen.

Ich stürmte hinein in die winterliche Drury Lane. Die Fußgänger waren tief vermummt und zu anonymen Figuren geworden, Dampf stieg von den Pferden und auch von den Sänftenträgern auf. Unter dem Ansturm von Kälte und Schnee roch die Stadt plötzlich so frisch und sauber, dass sie in diesem Zustand vielleicht sogar jeden modrigen Wiedergänger vertreiben konnte. Schon brach der Frühling schnell und ruckartig herein. Mr. Punch führte mich durch schmutzige Seitenstraßen, die, wie ich wusste, heute nicht mehr existieren, bis wir schließlich an der neu erbauten St. Clements Church vorbeikamen und in die Fleet Street einbogen. Der Große Brand von London ging so schnell vorüber, dass ich ihn kaum wahrnahm, er war nicht mehr als ein Schwall heißer Luft, wie beim Öffnen eines Backofens. Gerade noch wurde der obere Teil der Fleet Street von der mächtigen Kuppel der St. Paul’s Cathedral beherrscht, im nächsten Moment war die Kuppel vom stumpfen normannischen Turm der alten Kathedrale verdrängt worden. Einem Londoner wie mir kam das fast wie Ketzerei vor, oder so, als würde man plötzlich eine völlig fremde Person neben sich im Bett vorfinden. Die Straße selbst war viel schmaler und dicht mit schmalbrüstigen Fachwerkhäusern mit überhängenden oberen Stockwerken bebaut. Wir befanden uns im Zeitalter Shakespeares, und ich muss sagen, dass es nicht mal halb so übel stank wie das 19. Jahrhundert. Mr. Punch rannte um sein Geisterleben, aber ich holte allmählich auf.

Und London schrumpfte. Auf beiden Seiten öffneten sich Lücken in den Häuserreihen. Ich sah grüne Wiesen und Felder mit Heureitern und Kuhherden. Um mich herum wurde alles immer undeutlicher. Vor mir erschien der Fluss Fleet und plötzlich jagte ich die Böschung hinunter, um eine Steinbrücke zu überqueren, während auf der anderen Seite Mauern auftauchten, die alten Stadtmauern von London. Ich schaffte es gerade noch, Ludgate hinter mir zu lassen, bevor das ursprüngliche Tor wieder heranwuchs, das mir den Weg versperrt hätte. Die alte Kathedrale war längst wieder verschwunden, die Angelsachsen hatten wir glatt verpasst, ebenso den ganzen Zeitabschnitt, den progressive Historiker die »subrömische Periode« nennen, also das fünfte und sechste Jahrhundert, und schon war das Heidentum wieder in Mode.

Wenn ich Zeit zum Nachdenken gehabt hätte, wäre ich vielleicht stehen geblieben und hätte mich gründlich umgeschaut, um später die Historiker mit ein paar Antworten auf ihre Fragen über das Leben in Londinium zu verblüffen. Aber das tat ich natürlich nicht, weil ich inzwischen Mr. Punch bis auf ein paar Meter auf die Pelle gerückt war, und jetzt mit einem vehementen Rugbyangriff den untoten Schurken zu Boden warf.

»Mr. Punch«, sagte ich formell, »Sie sind verhaftet.«

»Bastard«, fauchte er. »Du verdammter schwarzer irischer Bastard.«

»Damit machst du dir hier keine Freunde, Punch«, sagte ich. Ich riss ihn wieder auf die Füße und bog seine Arme hinter dem Rücken hoch, so dass er nicht mehr fliehen konnte, wenn er sich nicht den Ellbogen brechen wollte.

Er gab den Versuch auf, sich aus meinem Griff zu winden, und drehte den Kopf so weit, dass er mich mit einem Auge anschauen konnte. »Du hast mich also erwischt, Wachtmeister«, sagte er. »Und was hast du jetzt mit mir vor?«

Das war eine verdammt gute Frage, und ein plötzlicher, stechender Schmerz in der Halsgrube erinnerte mich daran, dass mir die Zeit davonlief.

»Schauen wir doch mal, was der Richter mit dir vorhat«, sagte ich.

»De Veil?«, fragte Mr. Punch. »Aber ja, bitte, ich bin sicher, dass er köstlich sein wird.«

Der Wiedergänger, Geist des Aufruhrs und der Rebellion, dachte ich – ich Idiot. Er ernährt sich doch von Geistern. Ich brauchte etwas Stärkeres. Brock hatte geschrieben, dass die Genii locorum, die Götter und Geister des Ortes, stärker waren als sonstige Geister. Gab es nicht auch einen Gott der Gerechtigkeit? Und wo konnte ich ihn – oder sie – finden? Und dann, auf einmal, kam mir die Erleuchtung. Die Statue der Frau, die auf der Kuppel von Old Bailey stand, in einer Hand ein Schwert, in der anderen eine Waage. Ich wusste nicht, ob es eine Göttin der Gerechtigkeit gab oder nicht, aber ich wäre jede Wette eingegangen, dass Mr. Punch es sehr genau wusste.

»Warum fragen wir nicht die nette Dame auf dem Old Bailey?«, schlug ich vor.

Er verspannte sich und ich wusste, ich hatte recht gehabt. Er begann sich wieder zu wehren und versuchte, mir den Kopf gegen das Kinn zu rammen, aber für einen Londoner Polizisten war das kein neuer Trick, und ich wich mit einer schnellen Kopfbewegung dem Stoß aus.

»Dieses Mal steigst du die Stufen zum Galgen hinauf«, sagte ich.

Mr. Punch wurde plötzlich schlaff, ich dachte schon, dass er sich geschlagen gab, doch dann fing er unter meinem Griff zu zittern an. Zuerst dachte ich, er weinte, doch dann merkte ich, dass er fast platzte vor Lachen. »Du wirst feststellen, dass das ein bisschen schwierig wird«, sagte er. »Dir ist nämlich inzwischen die Stadt abhanden gekommen.«

Ich blickte mich um und sah, dass er recht hatte. Wir waren zu weit in der Zeit zurückgegangen. Von London war nichts übrig außer ein paar Hütten und den Holzpalisaden des römischen Lagers. Steinerne Bauten gab es nicht; es roch nach frisch gesägten Eichenplanken und heißem Pech. Nur ein Bauwerk war bereits vollendet – die Brücke. Sie stand knapp hundert Meter von uns entfernt und war aus viereckig geschnittenen Holzbalken gebaut. Eigentlich sah sie eher wie ein Anglersteg aus, der in einem Anfall von Selbstüberschätzung meinte, er könne den ganzen Fluss überspannen.

Über die Brücke marschierte eine Abteilung Legionäre in Reih und Glied. Die Sonne funkelte auf den Messingbeschlägen ihrer Brustpanzer. Hinter ihnen stand eine Gruppe Zivilisten, deren Togen für diesen besonderen Anlass blendend weiß gebleicht worden waren, und noch weiter entfernt ein paar Dutzend Männer und Frauen und Kinder in Barbarenhosen und mit Messingringen um den Hals.

Und plötzlich begriff ich, was mir Mama Themse hatte sagen wollen.

Ich denke, Mr. Punch hatte es in diesem Moment ebenfalls begriffen, denn er wehrte sich heftig, als ich ihn über die Brücke und vor die Funktionäre in ihren Togen schleppte. Sie waren kaum mehr als bloße Echos aus der Vergangenheit, Erinnerungen, gefangen im Gewebe der Stadt – sie reagierten nicht, als ich Punch vor ihnen zu Boden stieß. In der fünften Klasse hatten wir mal römische Geschichte durchgenommen, aber wir brauchten kaum Daten oder so zu lernen, sondern machten viel Gruppenarbeit zu der Frage, wie das Alltagsleben damals im römischen Britannien aussah. Deshalb erkannte ich jetzt den Priester in der Gruppe an dem Purpurstreifen der Stola, die seinen Kopf bedeckte. Außerdem erkannte ich ihn an seinen Gesichtszügen, obwohl er jetzt viel jünger aussah als zu dem Zeitpunkt, als ich ihn leibhaftig gesehen hatte. Auch war er jetzt glatt rasiert, sein Haar war schwarz und hing ihm bis auf die Schultern, aber es war dasselbe Gesicht, und es gehörte zu der Person, die sich an der Quelle der Themse gegen einen Zaun gelehnt hatte. Dies war der Geist des Alten Mannes des Flusses als junger Mann.

Plötzlich wurden mir sehr viele Dinge klar.

»Tiberius Claudius Verica«, rief ich.

Wie ein Mann, der aus einem Tagtraum erwacht, wandte mir der Priester den Blick zu. Als er mich erkannte, breitete sich ein erfreutes Grinsen auf seinem Gesicht aus. »Du musst ein Geschenk der Götter sein«, sagte er.

»Hilf mir, Vater Themse«, sagte ich.

Verica nahm einem in der Nähe stehenden Legionär das Pilum aus der Hand – der Soldat reagierte nicht – und reichte es mir. Der Wurfspieß roch nach frisch geschnittenem Buchenholz und feuchtem Eisen. Ich wusste, was ich zu tun hatte: Ich drehte den Spieß um und zögerte. Mr. Punch kreischte auf und bellte in seiner heiseren, schrillen Stimme: »Wäre es nicht schade um die hübsche, hübsche Lesley? Wirst du die hübsche kleine Lesley noch mögen, wenn ihr Gesicht herunterfällt?«

Er ist kein Mensch, sagte ich mir und stieß den Spieß in Mr. Punchs Brust. Es trat kein Blut aus, aber ich spürte den Schock, als die Spitze durch Haut und Muskeln drang und schließlich in die Holzplanken der Brücke. Der Wiedergänger, der Geist des Aufruhrs und der Rebellion, war auf der Brücke festgenagelt wie ein Schmetterling im Schaukasten.

Und da behaupten manche Leute, moderne Schulbildung sei reine Zeitverschwendung.

»Ich habe den Fluss um ein Opfer gebeten«, sagte Tiberius Claudius Verica. »Und ein Opfer wurde uns gegeben.«

»Ich dachte, die Römer lehnten Menschenopfer ab?«, sagte ich.

Verica lachte. »Die Römer sind noch nicht angekommen.«

Ich blickte mich um. Er hatte recht, es gab noch keine Spur von London – und plötzlich verschwand auch die Brücke unter meinen Füßen. Einen Augenblick lang hing ich wie eine Figur aus einem Zeichentrickfilm in der Luft, dann fiel ich in den Fluss. Die Themse war kalt und frisch wie ein Gebirgsbach.

 

Ich tauchte auf und fühlte mich grauenhaft nass und klebrig. Blut war auf meiner Brust verschmiert und irgendwann hatte ich in die Hose gemacht, wahrscheinlich als sie mich biss. Ich fühlte mich ausgelaugt, leer und betäubt. Ich wollte mich nur noch zusammenrollen und so tun, als sei nichts mehr wirklich.

»Das«, sagte ich zu mir selbst, »hat als Instrument historischer Forschung keine Zukunft, so viel steht fest.«

Jemand würgte, erstaunlicherweise war ich es nicht. Molly kniete nach vorn gekrümmt auf dem Boden, das Gesicht von mir abgewandt und hinter ihrem Haar verborgen, und kotzte Blut auf ihre hübschen sauberen Fliesen. Mein Blut, dachte ich, und rappelte mich mühsam auf die Füße. Mir war schwindelig, aber wenigstens kippte ich nicht um, das war bestimmt ein gutes Zeichen. Ich machte einen Schritt auf Molly zu, um zu sehen, ob ich ihr helfen konnte, aber sie streckte den Arm aus und machte wütende, abwehrende Handbewegungen, bis ich mich zurückzog.

Dann saß ich wieder auf dem Boden, ohne mich zu erinnern, ob ich das überhaupt gewollt hatte. Mein Atem ging stoßweise, und mein Puls pochte wie rasend – alles typische Symptome von Blutverlust. Nach einer Weile fand ich, dass es keine schlechte Idee sei, mich noch ein wenig auszuruhen, und streckte mich wieder auf den kühlen Fliesen aus, was auch für die Blutzirkulation im Gehirn besser war. Eigentlich erstaunlich, wie bequem eine harte Fläche sein kann, wenn man nur müde genug ist.

Ich hörte das Rascheln von Seide und wandte den Kopf. Molly hatte sich von der roten Schleimlache abgewandt und kroch auf mich zu. Ihr Kopf war leicht zur Seite geneigt, und die Lippen waren zurückgezogen und entblößten die Zähne. Ich wollte ihr gerade erklären, dass es mir eigentlich schon wieder viel besser ging und dass sie mir nicht zu helfen brauche, als mir klar wurde, dass sie offenbar genau das Gegenteil im Sinn hatte.

Mit einer beunruhigend spinnenhaften Bewegung schwang Molly einen Arm über ihren Kopf und ließ die Hand vor ihrem Gesicht auf die Fliesen klatschen. Der Arm spannte sich und zog Mollys Körper ein paar Zentimeter auf mich zu. Ich blickte ihr in die Augen und sah, dass das Weiße völlig verschwunden war: Ihre Augen waren tiefschwarz und voller Hunger und Verzweiflung.

»Molly«, sagte ich, »ich glaube, das ist gar keine gute Idee.«

Ihr Kopf rollte auf die andere Seite, und sie stieß ein gurgelndes, zischendes Geräusch aus, irgendwo zwischen Lachen und Schluchzen. Ich setzte mich auf und wurde sofort mit Tunnelblick und Schwindel bestraft. Ich kämpfte gegen den Drang an, mich wieder hinzulegen.

»Molly«, sagte ich. »Überleg doch mal, was Nightingale sagen wird, wenn er erfährt, dass du mich zum Abendessen verspeist hast.«

Nightingales Name ließ sie innehalten, aber nur ganz kurz. Dann kam die andere Hand über den Kopf und klatschte auf die Fliesen, direkt neben meinem Bein. Ich zog rasch beide Beine zurück, so weit es ging, und robbte einen Meter weit weg.

Das schien sie nur noch wütender zu machen. Sie zog die Beine unter den Leib. Mir fiel wieder ein, wie schnell sie sich bewegt hatte, als sie mich gebissen hatte, und ich fragte mich, ob ich überhaupt eine Chance hatte. Aber ich war nicht bereit, einfach still zu sitzen und mich kampflos von ihr aussaugen zu lassen. Ich versuchte einen Feuerball zustande zu bringen, aber die Forma entschlüpfte mir immer wieder, plötzlich konnte ich sie mir gar nicht mehr vorstellen.

Molly schnaubte verächtlich. Ihr Kopf drehte sich weit zur Seite, als sei ihr Hals so biegsam wie eine Schlange geworden. Ich sah, wie sich ihr Rücken anspannte. Vermutlich spürte sie meinen jämmerlichen Magie-Versuch und wollte nicht abwarten, bis ich womöglich einen Abwehrzauber zustande brachte. Sie riss den Mund weit auf und es wurden viel zu viele spitze Zähne sichtbar. Das piepsige kleine Beutetier irgendwo in meiner Ahnenkette befahl mir den beschleunigten Rückzug. Ich versuchte mich aufzurappeln und machte ein paar groteske Halbsprünge rückwärts.

Ein kleines braunes Etwas, das nach feuchtem Teppich roch, zischte an mir vorbei, bremste hart ab, wobei seine Krallen über die glatten Fliesen schlitterten, und baute sich kampfbereit zwischen Molly und mir auf. Toby hatte auf Steinzeit-Lagerfeuer-Modus-Ja-ich-bin-der-beste-Freund-des-Menschen-deshalb-habt-ihr-uns-lästige- Viecher-nämlich-zu-Haustieren-gezähmt geschaltet. Er bellte Molly so heftig an, dass seine Vorderpfoten auf den Fliesen auf und ab hüpften.

Um ehrlich zu sein, Molly hätte sich wahrscheinlich nur vorbeugen müssen und hätte ohne Weiteres Tobys Schnauze abbeißen können; stattdessen zuckte sie weg. Dann schoss plötzlich ihr Kopf wieder vor, und sie zischte. Toby schreckte zurück, wich aber nicht von der Stelle – in der guten alten Tradition kleiner kläffender Köter, die zu blöd sind, um zu merken, wann es Zeit ist, den Schwanz zwischen die Beine zu klemmen und schnellstens abzuhauen. Molly setzte sich auf die Hacken. Ihr Gesicht war eine wutverzerrte Maske – und plötzlich kippte sie auf die Knie, als hätte jemand ihren Motor ausgeschaltet. Das Haar fiel ihr über das Gesicht und ihre Schultern zuckten; ich glaubte, dass sie vielleicht weinte.

Ich kam mühsam auf die Füße und stolperte zur Hintertür, denn ich hielt es für das Beste, jede Versuchung aus ihrer Nähe zu entfernen. Toby trottete schwanzwedelnd hinter mir her. Ich prallte gegen den Türrahmen und taumelte nach draußen – und fand mich im Sonnenschein vor der gusseisernen Treppe wieder, die zum Obergeschoss der Remise hinaufführte. Ich betrachtete die Stufen eine Weile und wünschte, ich hätte einen Lift installieren lassen, alternativ hätte ich mir wenigstens einen größeren Hund zulegen sollen.

Als Toby sich weigerte, mir die Treppe hinaufzufolgen, wurde mir klar, dass oben irgendetwas nicht stimmte. »Platz«, befahl ich ihm. Er setzte sich gehorsam auf den untersten Treppenabsatz und überließ es mir, den Helden zu spielen. Dem Helden schoss kurz der Gedanke durch den Kopf, sich einfach davonzuschleichen, aber ich war so geschafft, dass mir inzwischen alles egal war, und außerdem war das meine Wohnung und mein Flachbildschirm-Fernseher und beides wollte ich zurückhaben.

Ich trat neben die Tür und schob sie mit dem Fuß auf. Dann spähte ich um den Türrahmen. Auf der Chaiselongue wartete Lesley auf mich, Nightingales Stock auf den Knien, und starrte ins Leere. Als ich eintrat, blickte sie zu mir herüber.

»Du hast mich getötet«, sagte sie.

»Warum gehst du nicht einfach dorthin zurück, woher du gekommen bist?«

»Nicht ohne meinen Freund. Nicht ohne Mr. Punch. Du hast mich ermordet.«

Ich ließ mich in den Sessel fallen. »Du bist seit zweihundert Jahren tot, Henry«, sagte ich. »Und ich bin ziemlich sicher, dass man niemanden ermorden kann, der schon tot ist.« Denn sonst, dachte ich, hätte die Met dafür längst ein Standard-Meldeformular entwickelt.

»Ich bitte um Nachsicht für meine abweichende Meinung«, sagte Lesley. »Obwohl man sagen muss, dass ich mich auf beiden Seiten des Vorhangs als Versager erwiesen habe.«

»Ich weiß nicht so recht. Mich jedenfalls hast du an der Nase herumgeführt.«

Lesley wandte sich zu mir. »Ja, stimmt, das habe ich wohl.«

Ich sah die blassen Dehnungsstreifen auf Lesleys Nasenrücken, die feinen Spuren geborstener Äderchen um ihren Mund herum, die sich wie ein feines Spinnennetz über ihre Wangen ausbreiteten. Selbst ihre Aussprache klang anders, durch die zerbrochenen Zähne verzerrt und weil Henry Pyke den Mund beim Sprechen geschlossen halten wollte, um den Schaden zu verbergen. Ohnmächtige Wut kochte in mir hoch, doch ich musste sie unterdrücken, denn hier hatte ich es mit einer Geiselnahme zu tun, und die erste Regel beim Verhandeln mit einem Geiselnehmer war, sich nicht emotional involvieren zu lassen. Oder vielleicht war es auch »Töte den Kidnapper nicht, bevor die Geiseln frei sind«. Eins von beiden.

»Im Rückblick«, sagte ich, »scheint es mir sehr bemerkenswert, dass du dich nie verraten hast.«

»Du hattest keinerlei Verdacht?«, fragte Lesley glücklich.

»Nein. Du warst absolut überzeugend.«

»Eine Frauenrolle ist immer eine besondere Herausforderung«, erklärte Lesley. »Und eine moderne Frau zu spielen ist doppelt schwierig.«

»Umso trauriger, dass sie sterben muss.«

»Ich kann dir sagen, niemand war mehr überrascht als ich, mich in diesem Körpergefäß wiederzufinden«, sagte Lesley. »Dafür muss ich diesem Piccini die Schuld geben, diese Italiener sind ein leidenschaftliches Völkchen und können einfach nicht anders, sie müssen all ihre Unternehmungen immer mit fleischlichen Gelüsten verbinden – sogar ihre religiöse Kunst.«

Ich nickte und zeigte mich interessiert. Obwohl der Fernseher und der DVD-Player an der Steckdose hingen, leuchteten ihre Stand-by-Dioden nicht. Lesley musste schon so lange hier gewartet haben, dass sie meine gesamte Elektronik ausgelaugt hatte, und als Nächstes würde dann wohl Lesleys Gehirn dran glauben müssen. Ich musste unbedingt die letzten Überreste von Henry Pyke aus ihrem Kopf vertreiben.

»So ist es in einem Schauspiel«, sagte Lesley. »Die Akte und Szenen sind viel schöner geordnet als in der chaotischen Alltagswelt. Wenn man sich nicht vorsieht, kann man sich nur allzu leicht vom Genius einer Charakterrolle mitreißen lassen. So machte Punchinella Narren aus uns beiden.«

»Aber du möchtest doch auch lieber, dass Lesley weiterlebt?«, fragte ich.

»Wäre das denn möglich?«, fragte sie zurück.

»Nur, wenn du einverstanden bist.«

Lesley beugte sich vor und nahm meine Hand. »Oh, aber das bin ich doch, mein lieber Junge. Wir können doch nicht zulassen, dass man Henry Pyke für einen abgefeimten Schurken hält, der sein eigenes trauriges Schicksal einer Unschuldigen aufbürden wollte.«

In dem Moment fragte ich mich wirklich, ob er auch nur einen blassen Schimmer davon hatte, was für eine Spur von Tod und Elend er hinter sich hergezogen hatte. Vielleicht brachte das Geisterdasein das mit sich, vielleicht erschien den Untoten die Welt der Lebenden als Traum, den man nicht allzu ernst nehmen musste.

»Dann lass mich meinen Arzt anrufen«, sagte ich.

»Du meinst den schottischen Mohammedaner?«

»Dr. Walid«, nickte ich.

»Und du glaubst, dass er sie retten kann?«, fragte Lesley.

»Ja, das glaube ich.«

»Dann solltest du ihn herbeirufen«, sagte Lesley.

Ich ging auf den Treppenabsatz hinaus, legte einen Akku in mein Reservehandy und rief Dr. Walid an. Er versprach, in spätestens zehn Minuten hier zu sein. Dann gab er mir noch ein paar Anweisungen, wie ich mich in der Zwischenzeit verhalten sollte. Lesley blickte mir erwartungsvoll entgegen.

»Darf ich Nightingales Stock haben?«, fragte ich.

Lesley nickte und reichte mir den Spazierstock mit dem Silberknauf. Ich schloss die Hand um den Knauf, wie Dr. Walid gesagt hatte, spürte und fühlte aber nichts, nur das kalte Metall. Alle Zauberkraft war aus Nightingales Zauberstab gesaugt worden.

»Wir haben nicht mehr viel Zeit«, sagte ich. Über der Chaiselongue lag ein relativ sauberes Abdecktuch, das ich jetzt herunterzog.

»Wahrhaftig?«, fragte Lesley. »Und da nun die Stunde näher rückt, fällt mir das Scheiden immer schwerer.«

Ich machte mich daran, das Möbeltuch in breite Streifen zu reißen. »Kann ich mal direkt mit Lesley sprechen?«, fragte ich.

»Aber natürlich, mein lieber Junge«, sagte Lesley.

»Wie geht’s dir?«, fragte ich. Äußerlich konnte ich keinerlei Veränderung an ihr sehen.

»Ha!«, sagte Lesley und an ihrem Ton hörte ich, dass das die richtige Lesley war. »Blöde Frage. Es ist schon passiert, oder nicht? Ich kann es schon spüren …«

Sie hob die Hand an ihr Gesicht, aber ich ergriff sie und drückte sie sanft nieder. »Es kommt alles wieder in Ordnung«, sagte ich beruhigend.

»Du bist so ein miserabler Lügner«, sagte sie. »Kein Wunder, dass immer ich das Reden übernehmen musste.«

»Du hattest schon immer ein natürliches Talent dafür.«

»Hat nichts mit Talent zu tun. Es war harte Arbeit.«

»Für harte Arbeit hast du auch ein natürliches Talent«, sagte ich.

»Mistkerl«, entgegnete sie. »Kann mich nicht erinnern, dass sie mich gewarnt hätten, als ich den Job bei der Met antrat, ich könnte mein Gesicht verlieren.«

»Wirklich nicht? Denk doch mal an Inspector Neblett, sein Gesicht ist mit dem Spaten geformt worden.«

»Sag mir noch mal, dass wieder alles in Ordnung kommt mit mir«, sagte sie.

»Es kommt alles wieder in Ordnung«, versicherte ich ihr. »Und ich werde dein Gesicht mit diesen Dingern hier zusammenhalten.« Ich zeigte ihr die Leinenstreifen.

»Oh wie schön, das gibt mir so viel Zuversicht. Versprichst du mir, dass du hier bleibst, was immer auch passiert?«

»Versprochen«, sagte ich und machte mich daran, nach Dr. Walids Anweisungen einen Leinenstreifen ganz fest um ihren Kopf zu wickeln. Sie murmelte etwas, und ich versicherte ihr, dass ich zum Schluss noch ein Loch für den Mund hineinschneiden würde. Die Streifen sicherte ich so, wie es mir eine meiner Tanten für das Binden von Kopftüchern beigebracht hatte.

»Na wunderbar«, sagte Lesley, als ich das versprochene Loch für den Mund in den Stoff geschnitten hatte. »Jetzt bin ich die unsichtbare Frau.« Nur zur Sicherheit verknotete ich die überhängenden Stoffenden hinten am Nacken, damit die Bandage schön straff saß. Neben der Chaiselongue entdeckte ich eine Flasche Evian und nässte damit die Bandage gründlich ein.

»Willst du mich jetzt ersäufen?«, fragte Lesley.

»Ich folge nur Dr. Walids Anweisungen«, sagte ich. Damit sollte verhindert werden, dass sich die Bandagen mit den aufplatzenden Wunden verklebten, aber das sagte ich ihr nicht.

»Ist aber kalt«, sagte sie.

»Tut mir leid. Jetzt möchte ich wieder mit Henry sprechen.«

Henry Pyke meldete sich mit offensichtlichem Eifer zurück. »Was muss ich jetzt tun?«

Ich vertrieb alle anderen Gedanken und öffnete die Hand und sprach das Wort: »Lux!« Ein Werlicht erblühte über meiner Hand. »Dies ist das Licht, das dich zu deinem Platz in der Geschichte leiten wird. Nimm meine Hand.« Er zögerte. »Keine Angst, es wird dich nicht verbrennen.«

Lesleys Hand schloss sich um meine; Licht drang zwischen ihren Fingern hervor. Ich wusste nicht, wie lange mein Zauber halten würde, ob mir nach Mollys ganzer Blutsaugerei überhaupt noch viel magische Kraft geblieben war, aber manchmal bleibt einem eben nichts anderes übrig, als das Beste zu hoffen.

»Hör mir zu, Henry«, sagte ich. »Dies ist dein großer Moment, dein dramatischer Abgang, die Lichter werden dunkler, deine Stimme wird schwächer, aber als Letztes wird das Publikum Lesleys Gesicht sehen. Halte das Bild von ihrem Gesicht in deinem Gedächtnis.«

»Aber ich will noch nicht abtreten«, sagte Henry Pyke.

»Du musst. Daran erkennt man den wahrhaft großen Schauspieler – er kennt den richtigen Augenblick, wenn es Zeit ist für seinen Abgang.«

»Wie weise du doch bist, Peter«, sagte Henry Pyke. »Daran erkennt man den wahren Genius, dass er sich ganz seinem Publikum hingibt, zugleich aber seine Persönlichkeit behält, jenen geheimen Ort, jene unerkennbare …«

»So dass es mit seinem Verlangen nach mehr zurückbleibt«, sagte ich und versuchte, ihn die Verzweiflung in meiner Stimme nicht hören zu lassen.

»Ja«, sagte Henry Pyke, »so dass es mit seinem Verlangen nach mehr zurückbleibt.«

Und dann war der großmäulige Schwachkopf endlich verschwunden.

Auf der eisernen Treppe hörte ich schwere Schritte. Dr. Walid und die Kavallerie waren eingetroffen. Gleichzeitig erblühten rote Blutflecken auf Lesleys Bandagen, ich hörte sie keuchen und würgen, während sie nach Atem rang. Eine große Pranke landete auf meiner Schulter und schob mich kurzerhand aus dem Weg.

Ich ließ mich einfach auf den Boden fallen – ich fand, ich hatte jetzt ein wenig Schlaf verdient.