Am Swiss Cottage stieg ich aus. Ich hatte bereits ein Viertel des Weges zu Fuß auf der Fitzjohn’s Avenue zurückgelegt, als mir allmählich Zweifel kamen, was ich hier tat. Nicht nur, dass ich das Auto stehen gelassen hatte und stattdessen öffentliche Nahverkehrsmittel benutzte, sondern auch, dass ich einen der steilsten Hügel Londons hinauflief – dabei hätte ich auch mit der U-Bahn bis nach Hampstead fahren und dann den Hügel hinuntergehen können. Die Sonne war wieder herausgekommen und fiel durch die Lücken zwischen den Bäumen, die auf beiden Seiten die Avenue säumten. Mein Blumenstrauß bestand aus Rosen, von so dunklem Rot, dass sie fast schwarz schienen. Und ich fragte mich, für wen sie wohl bestimmt sein mochten.
Es war immer noch so warm, dass ich meine Krawatte abnahm und in die Jacketttasche steckte. Ich wollte nicht verschwitzt ankommen, also ließ ich mir Zeit und schlenderte im Schatten der Platanen weiter. Es war einer jener Tage, an denen sich einem gern eine Melodie im Kopf festsetzt, die man dann unwillkürlich laut nachsingen muss. In diesem Fall war es ein Hit aus meiner Frühzeit, Digging Your Scene von den Blow Monkeys. Bedenkt man, dass der Titel herauskam, als ich noch in den Windeln steckte, war es keine schlechte Leistung, dass ich den Text vollständig beherrschte. Ich hatte gerade die Zeile »I’d like to think that I was just myself again« aus der dritten Strophe geschmettert, als ich mein Ziel erreichte. Das Haus war ein hohes neugotisches Gebäude mit kleinen Ziertürmchen an allen vier Ecken und weiß gestrichenen Schiebefenstern. Mit Marmorplatten verkleidete Stufen führten zu einer beeindruckenden Haustür hinauf, die ich aber ignorierte; stattdessen ging ich zum Seiteneingang – ich wusste genau, wohin ich wollte. Ich überprüfte kurz den Sitz meines Jacketts, rieb die Schuhspitzen an den Hosenbeinen blank, dann stieß ich das Gartentor auf und betrat das Grundstück.
An der seitlichen Hausmauer wachsendes Geißblatt bildete einen süß duftenden Tunnel, der in einen breiten, sonnigen Garten mündete. Ein sauber getrimmter Rasen wurde von ordentlichen Beeten gesäumt, die mit Petunien, Studentenblumen und Tulpen bepflanzt waren. Zwei riesige Terrakottatöpfe, aus denen Frühlingsblumen quollen, standen an beiden Seiten der Stufen, die zu einer abgesenkten Terrasse hinunterführten, auf der ein kleiner, von der Nachmittagssonne beschienener Brunnen stand. Selbst ich konnte erkennen, dass es sich nicht um eine Imitation aus dem Gartencenter handelte. Es war ein fein gearbeitetes Vogelbecken, über das sich eine nackte Wasserträgerin neigte. Vielleicht italienische Renaissance, aber über Kunstgeschichte wusste ich zu wenig, um es genau sagen zu können. Auf jeden Fall war der Brunnen alt und angeschlagen, an manchen Stellen waren Marmorsplitter abgesprungen, und von der Schulter der Nymphe bis zur Leistenbeuge zog sich eine Verfärbung von dem Wasser, das aus ihrer Kalebasse tröpfelte.
Das Wasser roch süß und verführerisch, genau das Richtige nach meinem langen Fußmarsch den Hügel hinauf. Neben dem Brunnen wartete eine gut aussehende Frau mittleren Alters auf mich. Sie trug ein gelbes Sommerkleid aus Baumwolle, einen Strohhut und Sandalen. Als ich näher kam, sah ich, dass sie die Augen ihrer Mutter hatte, schwarz und schräg stehend wie die einer Katze. Sie hatte eine hübsche, fotogene Nase, und ihre Hautfarbe war heller als Beverleys.
Wo heute der Marble Arch steht, befand sich früher einmal ein Galgen, an dem man die Londoner Verbrecher aufknüpfte. Der Galgen war nach dem benachbarten Dorf benannt worden, und das Dorf hatte seinen Namen von dem Fluss, an dem es lag: Tyburn. Die Dorfbewohner schlugen gewaltigen Profit aus dem grausigen Spektakel und bauten sogar eine Tribüne, um noch mehr Kundschaft anzulocken. Dort wurde die arme Elizabeth Barton gehenkt, ebenso Gentleman Jack, der zuvor viermal hatte entkommen können, und auch Reverend James Hackman für die Ermordung der hübschen Martha Ray. Das alles hatte ich herausgefunden, nachdem Beverley den Namen ihrer Schwester mit der Bemerkung hatte fallen lassen, dass sie diejenige sei, die viele wichtige Leute kenne.
»Ich denke, wir beide sollten uns mal unterhalten«, sagte Tyburn.
Ich reichte ihr den Blumenstrauß, den sie mit einem erfreuten Lachen entgegennahm. Sie zog meinen Kopf zu sich herunter und küsste mich auf die Wange. Sie roch nach Zigarren und neuen Autositzen, Pferden und Möbelpolitur, Stilton-Käse, belgischen Pralinen und hinter all dem auch nach Hanfseilen und lüsternen Menschenmengen und dem letzten Fall ins Vergessen.
Ich hatte, so gut es ging, die Quellen aller verlorenen Flüsse Londons aufgespürt. Manche waren leicht zu finden gewesen, wie der Beverley Brook, der Lea oder der Fleet, aber der genaue Ursprung des Tyburn, der legendäre Shepherd’s Well, war im Verlauf des wahnwitzigen Wucherns der Stadt, das nach der Erfindung der Dampfmaschine eingesetzt hatte, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verloren gegangen. Dieser Brunnen hier markierte offenbar die Quelle, aber der Brunnen selbst war vermutlich von einem unternehmungslustigen Kolonialbeamten in den letzten Tagen des Empire irgendwo geklaut worden.
Ich war durstig und sehnte mich nach einem Schluck Wasser.
»Worüber möchten Sie mit mir sprechen?«, fragte ich.
»Zunächst hätte ich gern gewusst«, sagte Tyburn, »welche Absichten Sie bei meiner Schwester verfolgen.«
»Absichten?« Mein Mund fühlte sich plötzlich sehr trocken an. »Meine Absichten sind absolut ehrenhaft.«
»Wirklich?« Sie bückte sich und holte eine Vase hinter dem Brunnen hervor. »Und trotzdem haben Sie sie zu einem Besuch bei den Zigeunern mitgenommen?«
Die Bezeichnung Zigeuner ist politisch nicht korrekt und kein gut erzogener junger Polizist würde sie verwenden. »Das war nur im Rahmen einer vorläufigen Ermittlung«, antwortete ich. »Und die Bezeichnung Zigeuner ist politisch nicht korrekt.«
Tyburn strich mit der Hand über den Rücken der Marmorstatue und das aus der Kalebasse tröpfelnde Wasser wurde zu einem Strahl, mit dem sie die Vase füllte. »Zigeuner oder nicht«, sagte sie, während sie den Rosenstrauß aus dem Papier wickelte, »sie gehören nicht zu den Leuten, mit denen man die eigene Schwester verkehren sehen möchte.«
»Unsere Familie können wir uns ja leider nicht aussuchen«, sagte ich munter. »Unsere Freunde Gott sei Dank schon.«
Tyburn warf mir einen scharfen Blick zu und arrangierte die Rosen in der Vase. Es war ein bauchiges Ding aus grün lackiertem Fiberglas, wie man es wahrscheinlich für fünfzig Pence auf jedem Flohmarkt kaufen konnte. »Ich habe nichts gegen den Alten Mann oder seine Leute, aber wir leben jetzt im 21. Jahrhundert, und das ist meine Stadt, und ich habe mich nicht dreißig Jahre lang totgearbeitet, nur damit plötzlich so ein Typ vom fahrenden Volk daherkommt und mir alles wegnimmt, was mir gehört.«
»Was, glauben Sie, gehört Ihnen?«, fragte ich.
Sie überging die Frage, und nachdem sie die letzte Rose sorgfältig arrangiert hatte, stellte sie die Vase auf das niedrige Mäuerchen, das die Terrasse umgab. Als ich die Rosen kaufte, waren sie bereits ein wenig angewelkt gewesen. Nachdem Tyburn sie in die Vase gestellt hatte, wirkten sie plötzlich wieder frischer, üppiger und sogar noch dunkler.
»Peter«, sagte sie, »Sie haben gesehen, wie das Folly organisiert ist, oder vielmehr nicht organisiert ist. Sie wissen auch, dass es keinen offiziellen Behördenstatus hat und dass seine Beziehungen zur Metropolitan Police ausschließlich von Brauch und Gewohnheit bestimmt werden, und, Gott verzeih mir, von Tradition. Alles wird nur durch Spucke und Siegelwachs und die alten Kameradennetzwerke zusammengehalten. Ein typisch britischer Mischmasch, und das einzige Mal, als man das Folly zum Eingreifen aufforderte, versagte es kläglich. Ich habe Zugang zu Akten, Peter, von deren Existenz Sie keine Ahnung haben, zum Beispiel über einen Ort in Deutschland namens Ettersberg – vielleicht fragen Sie mal Ihren Mentor danach.«
»Formell betrachtet ist er mein Meister«, sagte ich. »Ich habe einen Gildeneid geschworen und bin somit sein Lehrling.« Meine Zunge fühlte sich inzwischen so dick und trocken an, als hätte ich die ganze Nacht mit offenem Mund geschlafen.
»Sehen Sie? Genau das meine ich«, sagte sie. »Ich weiß, dass es dem Nationalcharakter zuwiderläuft, aber manchmal wünscht man sich doch, dass wir bei diesen Dingen ein bisschen besser organisiert wären, einfach etwas erwachsener. Würde es uns denn umbringen, wenn wir eine offizielle Behörde hätten, die für das Übernatürliche zuständig ist?«
»Ein Ministerium für Magie?«, fragte ich.
»Haha.«
Ich hätte gern gewusst, warum sie mir keinen Tee angeboten hatte. Schließlich hatte ich ihr Blumen mitgebracht, und das Mindeste, was ich im Austausch dafür erwartet hätte, wäre eine schöne Tasse Tee oder ein Bier oder auch nur ein Glas Wasser gewesen. Ich räusperte mich; es klang ein bisschen heiser. Ich warf einen Blick auf den Brunnen und das Wasser, das ins Becken strömte.
»Gefällt er Ihnen?«, fragte sie. »Das Becken ist eine ziemlich grobe Imitation eines italienischen Beckens aus dem 17. Jahrhundert, aber die Statue wurde ausgegraben, als man die U-Bahn-Station Swiss Cottage baute.« Sie legte der Statue eine Hand auf die Wange. »Der Marmor stammt aus Belgien, aber die Archäologen versicherten mir, dass die Statue hier gefertigt wurde.«
Ich hätte nicht sagen können, warum ich nicht von dem Wasser trinken wollte. Schließlich hatte ich schon oft genug Wasser getrunken, wenn weder Bier noch Kaffee oder ein Diätcola verfügbar waren; ich hatte Mineralwasser getrunken und gelegentlich auch Leitungswasser. Als Kind trank ich ständig Wasser aus dem Hahn. Wenn ich verschwitzt und erhitzt vom Spielen nach Hause kam, hatte ich mir nie die Mühe gemacht, ein Glas zu holen, sondern hatte nur den Hahn aufgedreht und den Mund darunter gehalten. Wenn mich meine Mutter dabei erwischte, schimpfte sie mich aus, aber mein Vater sagte nur, ich solle vorsichtig sein: »Was ist, wenn ein Fisch herausspringt?«, fragte er dann immer. »Bevor du es merkst, hast du ihn schon verschluckt.« Dad sagte immer solches Zeug, und erst als ich siebzehn war, erkannte ich, woran das lag: Er war bekifft.
»Hören Sie auf damit«, murmelte ich.
Sie schenkte mir ein liebenswürdiges Lächeln. »Womit?«
Normalerweise macht es mir nichts aus, mich zu betrinken, aber irgendwann kommt dann unweigerlich der Augenblick, in dem ich mich selbst dabei beobachte, wie ich herumtorkle und gegen alles Mögliche rumple und denke: Das wird langsam langweilig, kann ich bitte wieder die Kontrolle über mein Hirn zurückhaben? So ähnlich irritierte mich jetzt mein plötzlicher Drang, Blumen nach Hampstead zu bringen und Wasser aus einem seltsamen Brunnen zu trinken. Ich wollte einen Schritt zurückweichen, brachte aber nur ein leichtes Schlurfen zustande.
Tyburns Lächeln verschwand. »Wollen Sie nicht ein bisschen kühles Wasser trinken?«, fragte sie.
Sie war zu weit gegangen, und sie wusste es und wusste auch, dass ich wusste, dass sie es wusste. Wie auch immer sie mich eingelullt hatte, die Wirkung war jedenfalls nicht stark genug, um einen so offenkundigen Beeinflussungsversuch zu kaschieren. Außerdem hatte ich mich schon immer gefragt, ob die Sache mit dem Fisch stimmte.
»Gute Idee«, sagte ich. »Weiter unten an der Straße ist ein Pub. Gehen wir doch dorthin.«
»Verschlagener Bastard«, sagte sie, aber ich glaube nicht, dass sie mich meinte. Sie beugte sich näher zu mir und starrte mir in die Augen. »Ich weiß, dass Sie durstig sind. Trinken Sie einen Schluck Wasser.«
Ich spürte, wie sich mein Körper nach vorn aufbäumte, hin zum Brunnen. Es geschah vollkommen unwillkürlich, wie ein Zucken im Bein oder ein Schluckauf, aber es betraf meinen gesamten Körper, der nun plötzlich einem Ziel zustrebte, das ich nicht selbst bestimmt hatte, und das war eine schreckliche Erfahrung. Mir wurde klar, dass weder der Alte Mann noch Mama Themse auch nur versucht hatten, mich wirklich unter ihre Kontrolle zu bringen, sonst hätten sie mich Rad schlagend durch den Raum schicken können. Es musste aber Grenzen ihrer Macht geben, denn wer hätte sonst Mama Themse oder den Alten Mann davon abhalten können, dem Premierminister in Downing Street 10 einen Besuch abzustatten und ihm ihre eigenen Bedingungen zu diktieren? Ich denke, das wäre sonst schon sehr deutlich aufgefallen – zum Beispiel wäre die Themse auf einmal viel sauberer gewesen.
Es musste Nightingale sein, wie ich plötzlich erkannte. Das Gegengewicht, der menschliche Ausgleich des Übernatürlichen – ihn konnten sie nicht kontrollieren. Das Einzige, was Nightingale von einem normalen Menschen unterschied, war seine magische Kraft, was wiederum bedeutete, dass in der Magie die Möglichkeit zur Verteidigung lag. Das mochte ein bisschen weit hergeholt sein, aber es ist schließlich auch nicht leicht, solche Dinge gründlich zu durchdenken, während die Personifizierung eines historischen Londoner Flusses versucht, einen mental aufs Kreuz zu legen.
Um Zeit zu gewinnen, versuchte ich mich mit aller Kraft gegen den Sog zu stemmen und mich nach hinten zu bewegen. Das funktionierte zwar nicht, aber wenigstens bewahrte es mich davor, weiter in Richtung Brunnen zu springen. Nightingale hatte mir noch keinen Zauberspruch beigebracht, mit dem man fremde Kräfte blockieren konnte, deshalb versuchte ich es mit einem Impello. Die Forma im Kopf richtig auf die Reihe zu kriegen war viel leichter, als ich erwartet hatte – später spekulierte ich darüber, ob sich Tyburns Aktionen vielleicht eher gegen meine Instinkte gerichtet hatten als gegen die »höheren« intellektuellen Fähigkeiten meines Gehirns. Es fiel mir sogar so leicht, dass ich mich einen Augenblick lang vergaß.
»Impello!«, sagte ich und versuchte, die Statue vom Sockel zu heben.
Tyburn riss die Augen weit auf, als sie das Knacken des Marmors hörte. Sie wirbelte herum, und als sich ihr Blick von meinem löste, kam ich plötzlich frei und taumelte zurück. Ich spürte, dass die Forma in meinem Hirn außer Kontrolle geriet; der Kopf der Statue zersplitterte in winzige Marmorscherben. Gleichzeitig spürte ich einen Schlag gegen die Schulter und etwas Scharfes schnitt in mein Gesicht. Ein Mamorstück von der Größe eines kleinen Hundes krachte direkt vor meinen Füßen auf die Steinplatten.
Auch das Vogelbecken hatte einen Riss bekommen und Wasser breitete sich auf der Terrasse aus wie ein riesiger Blutfleck. Tyburn drehte sich zu mir um. Auf ihrer Stirn war ein Schnitt und ihr Sonnenkleid hatte einen Riss direkt über der Hüfte.
Sie war ganz still geworden, und das war kein gutes Zeichen. Diese Art von Stille hatte ich schon erlebt, bei meiner Mutter und auf dem Gesicht einer Frau, deren Bruder gerade von einem Betrunkenen überfahren worden war. Aus den Medien gewinnen die Leute den Eindruck, dass schwarze Frauen in großen Krisen immer gleich zu schreien und zu heulen anfangen, gefolgt von Kopfschütteln und tröstenden Umarmungen durch andere Frauen, oder aber tapfer, stoisch und würdevoll bleiben, mögen die Schicksalsschläge auch noch so auf sie herniederprasseln. Sieht man aber eine schwarze Frau ganz still werden, so wie Tyburn in diesem Augenblick, mit glänzenden Augen, zusammengepressten Lippen und einer Miene so leblos wie eine Totenmaske, dann hat man sich eine Feindin fürs Leben gemacht. Gehen Sie nicht über Los und ziehen Sie keine 200 Pfund ein – sondern versuchen Sie so schnell wie möglich zu verschwinden.
Bleiben Sie auf keinen Fall stehen und versuchen darüber zu reden, glauben Sie mir, es wird nicht gut enden. Ich befolgte meinen eigenen Rat und setzte mich rückwärts in Bewegung. Tyburns schwarze Augen folgten mir, und als ich die Hausecke erreicht hatte, drehte ich mich um und lief davon, so schnell ich konnte. Ich rannte nicht direkt den Hügel bis Swiss Cottage hinunter, aber ich ging doch mit sehr schnellem Schritt. Unten am Hügel stand eine Telefonzelle, die ich dringend benötigte, da sich der Akku noch in meinem Handy befunden hatte, als ich mich daranmachte, eine antike Statue zu pulverisieren. Ich rief die Vermittlung an, nannte meine Kennnummer und wurde zu Lesleys Handy durchgestellt. Sie wollte wissen, wo ich gewesen sei, denn offenbar war ohne mich alles schiefgelaufen.
»Wir haben den Blinden gerettet«, sagte sie. »Und das war nicht dir zu verdanken.« Sie weigerte sich, mir weitere Einzelheiten zu erzählen, denn: »Dein Boss will dich hier sehen. Und zwar schon gestern.« Ich fragte, wo »hier« sei, und sie sagte, im Leichenschauhaus Westminster. Das freute mich gar nicht, denn auch wenn wir den Blinden gerettet hatten, hatte offenbar ein anderes armes Schwein sein Gesicht verlieren müssen. Ich sagte, ich würde so schnell wie möglich kommen.
Ich ließ mich von einem Streifenwagen bis zur U-Bahn-Station Swiss Cottage mitnehmen, wo ich in einen Zug der Jubilee Line sprang, der mich in die Stadt brachte. Ich bezweifelte, dass Lady Ty über das Personal oder den Ehrgeiz verfügte, die U-Bahn-Stationen überwachen zu lassen, und einer der Vorteile eines kaputten Handy-Akkus bestand darin, dass man nicht lokalisiert werden konnte. In der U-Bahn würden auch Trackingprogramme, mit denen sie mich womöglich heimlich beschatten ließ, nicht funktionieren. Nein, ich habe keinen Verfolgungswahn – solches Zeug kann man im Internet kaufen.
Die Hauptverkehrszeit hatte gerade begonnen, als ich in den Zug stieg, und die Leute standen bereits ziemlich dicht im Waggon. Es herrschte zwar noch nicht ein Gedränge wie in einer Sardinenbüchse, aber man musste doch schon gewisse Einschränkungen der persönlichen Sphäre in Kauf nehmen. Ein paar Passagiere starrten mich an, als ich mich am Ende des Waggons mit dem Rücken zur Verbindungstür platzierte. Vermutlich sandte ich gemischte Signale aus – einerseits trug ich einen Anzug und einen freundlichen Gesichtsausdruck, andererseits war ich ganz offensichtlich vor Kurzem in eine Prügelei verwickelt gewesen und zudem nicht weiß. Es ist ein altes Märchen, dass die Londoner einander in der U-Bahn ignorieren; das Gegenteil ist der Fall: Wir achten sogar außerordentlich aufeinander und spielen ständig »Was-wäre-wenn«-Szenarien und Abwehrstrategien durch. Was wäre, wenn mich dieser charmante, gut aussehende, aber eben doch einer ethnischen Minderheit angehörende junge Mann plötzlich um Geld anbetteln würde, gebe ich ihm etwas oder weigere ich mich, und wenn er einen Witz reißt, reagiere ich darauf, und wenn ja, mit lautem Gelächter oder mit einem schüchternen Grinsen? Wenn ihn jemand angreift und womöglich verletzt, soll ich ihm helfen? Und wenn ich ihm helfe, werde ich dann in eine potentiell gefährliche Situation verwickelt, in ein Abenteuer oder gar in eine romantische Beziehung mit einem Menschen mit Migrationshintergrund? Werde ich das Abendessen verpassen? Und wenn er plötzlich die Jacke über dem Sprengstoffgürtel aufreißt und schreit: »Gott ist groß«, werde ich es dann noch bis zum anderen Ende des Waggons schaffen?
Pausenlos entwickeln wir konfliktvermeidende Strategien zur Friedenssicherung in unserer Zeit, in unserem Zugabteil oder, lieber Gott, doch wenigstens so lange, bis wir sicher zu Hause sind. Leute über sechzig haben einen Ausdruck dafür: höfliche Umgangsformen. Ihr Zweck besteht darin, uns davon abzuhalten, einander umzubringen. Es ist so ähnlich wie mit den Vestigia, man nimmt sie nicht immer wahr, aber man richtet sein Verhalten entsprechend der Akkumulation der magischen Kraft um einen herum aus. Und die Geister zehrten praktisch von den Vestigia wie LEDs von einer Long-Life-Batterie, also nach dem Prinzip der exakt dosierten Energiezufuhr. Die tote Atmosphäre im Haus der Vampire in Purley fiel mir wieder ein. Nightingale zufolge waren Vampire ganz gewöhnliche Leute, die »infiziert« worden waren, wobei niemand wusste, wie und warum, und die sich dann von den magischen Kräften ihrer Umgebung nährten, darunter auch von den Vestigia.
»Das reicht aber nicht, um ein Lebewesen zu erhalten«, hatte Nightingale erklärt. »Daher sind sie ständig auf der Jagd nach weiteren magischen Kraftquellen.« Laut Isaac Newton stellte der Mensch die beste Quelle solcher Kraft dar, aber von einer Person, oder überhaupt irgendeiner Lebensform, die komplexer war als ein Schimmelpilz, ließ sich normalerweise keine Magie stehlen – mit Ausnahme des Augenblicks ihres Todes, und selbst dann war es nicht leicht zu bewerkstelligen. Ich hatte die logische Frage gestellt – warum tranken sie dann Blut? Nightingale hatte geantwortet, dass das niemand wisse. Und als ich ihn dann fragte, ob denn noch niemand dazu Experimente durchgeführt habe, warf er mir einen eigenartigen Blick zu.
Nach einer langen Pause fügte er hinzu: »Man hat einmal Experimente durchgeführt, das war während des Krieges. Aber die Ergebnisse wurden als unethisch empfunden, und die Aufzeichnungen wurden versiegelt.«
»Wollten wir im Krieg tatsächlich Vampire einsetzen?«, fragte ich, und der plötzliche Zorn in seinem Gesicht überraschte mich. »Nein«, sagte er scharf und fügte etwas milder hinzu: »Nicht wir – die Deutschen.«
Wenn einem jemand zu verstehen gibt, ein Thema nicht weiter zu verfolgen, dann ist es manchmal besser, es nicht weiter zu verfolgen.
Die Genii locorum, wie Beverley, Oxley und der ganze Rest des zerrütteten Themse-Familienclans, waren ebenfalls auf einer gewissen Ebene Lebewesen und bezogen ebenfalls ihre Kräfte aus ihrer jeweiligen Umgebung. Sowohl Bartholomew als auch Polidori vermuteten, dass sie Nahrung aus all den unterschiedlichen und unzähligen Lebensformen und der Magie ihrer Wirkungsbereiche bezogen. In dieser Hinsicht hatte ich meine Zweifel, war aber bereit zu akzeptieren, dass sie in einer Art Symbiose mit ihren »Wirkungsbereichen« lebten, während Vampire eindeutig parasitär waren. Und wenn das bei Geistern ebenso war? Wenn Nicholas Wallpenny irgendwie Teil des Vestigiums war, das er bewohnte und aus dem er seine Kräfte bezog, also ein Symbiont, dann könnte der Wiedergänger durchaus ein Parasit, ein Geist-Vampir, sein. Damit ließe sich auch das verschrumpelte Hirn der Opfer erklären – ihnen war die magische Kraft buchstäblich ausgesaugt worden.
Was nun wiederum bedeutete, dass meine Geisteranrufung mit den Taschenrechnern nichts weiter bewirkt hatte, als Henry Pykes Hunger nach Magie noch zu steigern. Ich fragte mich aber auch, ob es nicht möglich war, einen Wiedergänger anzulocken, indem man Magie ausstreute. Als der Zug in die Station Baker Street einfuhr, war ich bereits dabei, einen Plan zu entwerfen.
Die U-Bahn ist hervorragend geeignet, um solche konzeptionellen Durchbrüche zu erzielen. Wenn man nichts zu lesen dabei hat, langweilt man sich nämlich sonst einfach zu Tode.
Dieses Mal wollten sie nicht mal mehr meinen Ausweis sehen, als ich das Leichenschauhaus von Westminster betrat, sondern winkten mich gleich durch. Nightingale erwartete mich bereits im Umkleideraum. Während ich den obligatorischen Kittel anzog, schilderte ich ihm kurz meine Begegnung mit Tyburn.
»Immer sind es die Kinder«, sagte er. »Nie sind sie mit dem Status quo zufrieden.«
»Wie haben Sie den Blinden gerettet?«, fragte ich.
»Anscheinend sind diese Leute nicht blind, sondern sehgeschädigt. Eine recht energische junge Dame erklärte mir das ausführlich, während wir im Krankenhaus warteten.«
»Gut, also: Wie haben Sie den Sehgeschädigten gerettet?«
»Ich wünschte, ich könnte mir das als Verdienst zuschreiben«, antwortete Nightingale. »Tatsächlich war es aber sein Blindenhund, denn sobald die Sequestration begann …«
»Die was?«, fragte ich.
Das war offenbar ein Begriff, den Dr. Walid eingeführt hatte. Er bezeichnete das, was einem normalen Menschen geschah, wenn unser Wiedergänger von ihm Besitz ergriff. An sich handelt es sich um einen Rechtsbegriff, der sich auf die Beschlagnahmung des Besitzes einer Person bezieht, um deren Schulden abzuzahlen oder weil der Besitz aufgrund eines Verbrechens erlangt wurde. In unserem Fall war der beschlagnahmte Besitz eben der Körper eines Menschen.
»Kaum hatte die Sequestration begonnen«, fuhr Nightingale fort, »als der Blindenhund, der übrigens, wenn ich mich recht entsinne, Malcolm heißt, zu toben begann und das potentielle Opfer wegzerrte. Inspector Seawoll hatte in der Umgebung bereits seine Leute als Spendensammler postiert und einer von ihnen griff ein, bevor unser Punch den Blinden verfolgen konnte.«
»Ein weiterer Triumph nachrichtendienstlich gestützter Polizeiarbeit«, bemerkte ich.
»Ganz recht«, sagte Nightingale. »Übrigens war es Ihre Freundin Constable May, die als Erste am Tatort erschien.«
»Lesley? Ich wette, sie war darüber nicht gerade glücklich.«
»Sie drückte es so aus: ›Warum muss dieser verdammte Scheiß immer mir passieren?‹«
»Und das andere Opfer? Der Mann, der tatsächlich sequestriert wurde? Wer war er, als er noch lebte?«
»Wer sagt denn, dass er tot ist?« Nightingale führte mich den Korridor entlang in einen Raum, den man als mobile Intensivstation ausgestattet hatte, was, wenn man genauer darüber nachdenkt, in einem Leichenschauhaus eine eher beunruhigende Einrichtung ist. Lesley saß zusammengesunken auf einem Stuhl in einer Ecke und hob grüßend die Hand, als wir eintraten. Das Bett war auf beiden Seiten von Geräten umgeben, die schnauften, piepten oder einfach still vor sich hin blinkten. Im Bett lag Terrence Pottsley, 27, aus Sedgefield in der Grafschaft Durham, Lagerverwalter beim Supermarkt Tesco, die Anverwandten waren definitiv noch nicht informiert worden. Ein Dickicht aus Edelstahlröhren ragte aus seinem Gesicht – eine Art medizinisches Gerüst. Dr. Walid hoffte, dass eine operative Wiederherstellung von Pottsleys Gesicht möglich sein würde, sobald das Problem seiner Sequestration gelöst war.
»Und ich hab mich immer über meine Zahnspangen beklagt«, sagte Lesley.
»Ist er bei Bewusstsein?«, fragte ich.
»Sie haben ihn in ein künstliches Koma versetzt«, sagte Nightingale. »Wusste Oxley, mit wem wir es zu tun haben?«
»Isis wusste es«, antwortete ich. »Sie erinnert sich an Henry Pyke als einen ziemlich erfolglosen Schauspieler, der möglicherweise von Charles Macklin – einem viel erfolgreicheren Schauspieler – ermordet wurde.«
»Wurde er verhaftet?«, fragte Lesley.
»Die Aufzeichnungen sind dürftig«, erklärte ich. »Vielleicht wurde Pyke verhaftet, als …«
»Nicht Pyke«, sagte Lesley, »sondern Macklin. Mit einem Mord davonzukommen, kann noch als Zufall durchgehen, aber bei zwei Morden scheint mir das doch ein bisschen unwahrscheinlich. Und außerdem unfair.«
»Macklin erreichte ein reifes Alter«, sagte Nightingale. »Er war sozusagen fester Bestandteil des Lebens in Covent Garden. Über den ersten Mord wusste ich Bescheid, aber von Henry Pyke hatte ich noch nie gehört.«
»Können wir unser Gespräch nicht anderswo fortsetzen?«, fragte Lesley. »Der Bursche hier macht mich ganz nervös.«
Da wir mehrheitlich Polizisten waren, bedeutete das Pub oder die Kantine – die Kantine lag näher. Ich wartete, bis Dr. Walid zu uns gestoßen war, bevor ich meine Strategie umriss.
»Ich habe eine Idee«, begann ich.
»Oh Gott. Bitte nicht schon wieder einer von deinen schlauen Plänen«, sagte Lesley.
Nightingales Miene blieb ausdruckslos, Dr. Walid kicherte.
»Es ist aber nun mal«, sagte ich, »ein schlauer Plan.«
Nightingale hatte eine Kopie des Piccini-Manuskripts dabei. Ich legte es auf den Tisch und suchte die Stelle, an der Punch den blinden Bettler beseitigt. In der folgenden Szene tritt der Schutzmann auf, um Punch wegen der Ermordung seiner Frau und seines Kindes zu verhaften.
»Ich spiele die Rolle des Schutzmanns in der nächsten Szene.«
»Sie melden sich freiwillig, um sich den Schädel einschlagen zu lassen?«, fragte Dr. Walid.
»Wenn Sie weiterlesen, sehen Sie, dass der Polizist die Begegnung überlebt«, antwortete ich. »Und auch der Polizist, der unmittelbar danach eintrifft.«
»Ich vermute, dass ich das bin«, sagte Nightingale.
»Okay, solange nicht ich es bin …«, sagte Lesley.
»Ich kann nicht so recht erkennen, wie das funktionieren soll«, meinte Nightingale. »Henry Pyke hat keinen Anlass, eine Begegnung mit uns herbeizuführen, auch wenn wir noch so gut in sein kleines Schauspiel passen.«
Dr. Walid tippte mit dem Zeigefinger auf den Text und las vor: »Punch fragt: ›Und wer hat dich gerufen?‹, worauf der Schutzmann antwortet: ›Ich wurde zu dir geschickt.‹ Punch hat also gar keine Wahl, sein Schicksal holt ihn ein. ›Ich will keinen Schutzmann‹, sagt er dann.«
»Ich glaube, ihr versteht Punch falsch«, sagte Lesley. »Ihr nehmt an, dass er eine Art übernatürlicher Serienkiller ist, der unter dem Zwang steht, eine Punch-und-Judy-Show zu Ende zu spielen. Aber was wäre, wenn er etwas ganz anderes ist?«
»Was denn zum Beispiel?«, fragte ich.
»Zum Beispiel die Verkörperung einer gesellschaftlichen Entwicklung, des Aufstiegs von Verbrechen und Friedensbruch, eine Art paradigmatischer Schlägertyp. Der Geist des Aufruhrs und der Rebellion im Londoner Mob.«
Wir alle starrten sie verblüfft an.
»Ihr vergesst wohl, dass ich ein Super-Abi hingelegt habe«, sagte Lesley.
»Und – hast du einen anderen Plan?«, fragte ich.
»Nein. Ich will nur, dass ihr vorsichtig seid. Nur weil ihr glaubt, dass ihr wisst, was ihr tut, heißt das noch lange nicht, dass ihr tatsächlich wisst, was ihr tut.«
»Ich bin dankbar, dass du uns den feinen Unterschied klargemacht hast«, sagte ich.
»Gern geschehen. Und selbst wenn ihr Henry tatsächlich trefft, was ist dann?«
Das war eine verdammt gute Frage – ich schaute Nightingale an.
»Ich kann seinen Geist zurückverfolgen«, sagte Nightingale. »Wenn ich ihm nahe genug komme, kann ich ihn bis zu seinen alten Knochen zurückverfolgen.«
»Und dann?«, fragte Lesley.
Wieder blickte ich Nightingale an, und da er schwieg, sagte ich: »Wir graben sie aus und zermalmen sie zu Staub, vermischen ihn mit Steinsalz und verstreuen das Ganze im Meer.«
»Und das funktioniert?«, fragte Lesley.
»Erfahrungsgemäß ja«, sagte Dr. Walid.
»Ihr braucht aber einen Haftbefehl«, sagte Lesley.
»Für einen Geist brauchen wir doch keinen Haftbefehl!«, widersprach ich.
Lesley grinste nur und schob mir den Text hin. Sie tippte mit ihrem Löffel auf die Seite und ich las: Schutzmann: Das musst du mir nicht sagen. Du hast einen Mord begangen, und ich habe einen Haftbefehl für dich. »Wenn ihr eure Rollen ordentlich spielen wollt, müsst ihr auch die richtigen Requisiten haben.«
»Ein Haftbefehl für einen Geist«, sagte ich.
»Das zumindest macht keine Probleme«, sagte Nightingale. »Obwohl es bedeutet, dass wir die Aktion erst heute Nacht durchführen können.«
»Ihr wollt die Sache wirklich durchziehen?« Lesley blickte mich besorgt an. Ich tat mein Bestes, so unbekümmert wie möglich auszusehen, aber ich könnte mir vorstellen, dass es eher wie unbegründeter Optimismus wirkte.
»Ich glaube, Constable, dass das unsere einzige Option ist«, sagte Nightingale zu Lesley. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie Inspector Seawoll in Kenntnis setzen und ihn bitten würden, sich um elf Uhr in Covent Garden bereitzuhalten.«
»So spät?«, fragte ich. »Henry Pyke wird vielleicht nicht so lange warten.«
»Wir erhalten unseren Haftbefehl frühestens um elf«, erklärte Nightingale.
»Und wenn die Sache nicht funktioniert?«
»Dann ist Lesley an der Reihe, einen schlauen Plan auszuhecken«, sagte Nightingale.
Wir fuhren zum Folly zurück, wo Nightingale in der Magie-Bibliothek verschwand, vermutlich um noch mal die Zaubersprüche für das Zurückverfolgen von Wiedergänger-Geistern nachzulesen. Ich ging nach oben und nahm meine Uniform aus dem Schrank. Nach dem Helm musste ich eine Weile suchen und fand ihn schließlich unter dem Bett, mit der Silberpfeife darin, die absurderweise immer noch zu einer modernen Uniform gehört. Da mein letztes Handy die Sache an Tyburns Brunnen nicht überlebt hatte, holte ich das Airwave-Gerät aus der Schreibtischschublade und legte den Akku ein. Während ich die Uniformjacke in meine Reisetasche packte, wurde mir klar, dass der Raum immer noch so unpersönlich aussah wie ein Gästezimmer, ein Raum, in dem ich nur so lange bleiben würde, bis ich etwas Besseres fand.
Als ich die Tasche über die Schulter hängte und mich umdrehte, entdeckte ich Molly, die unter der Tür stand und mich mit schief gelegtem Kopf beobachtete.
»Weiß ich nicht«, sagte ich. »Aber wir essen auswärts.« Sie runzelte die Stirn.
»Ich bin es, der an vorderster Front steht«, sagte ich, doch das schien sie nicht sonderlich zu beeindrucken. »Ihm wird schon nichts passieren.«
Das entlockte ihr einen skeptischen Blick; dann glitt sie davon. Als ich aus dem Zimmer trat, war sie bereits verschwunden. Ich ging hinunter und wartete im Lesezimmer auf Nightingale. Er tauchte eine halbe Stunde später auf, in seinen »Businessanzug« gekleidet und mit dem Stock in der Hand. Er fragte mich, ob ich bereit sei, und ich bejahte.
Es war ein schöner warmer Frühlingsabend, deshalb nahmen wir nicht den Jaguar, sondern schlenderten am British Museum vorbei, gingen durch die Museum Street und bogen in die Drury Lane ein. Obwohl wir uns viel Zeit ließen, waren wir immer noch Stunden zu früh dran, deshalb gingen wir zum Abendessen erst einmal in ein Curry-Restaurant mit dem vielversprechenden Namen House of Bengal, das sich in der Nähe des Theatre Royal befand.
Ich versenkte mich in die Speisekarte, die gänzlich ohne Kartoffeln, teigige Pasteten, Rindernierenfett und Mehlsoßen auskam, und dabei wurde mir endlich auch klar, warum Nightingale so gern außer Haus aß.
Nightingale bestellte Lamm mit Limonen und ich begnügte mich mit einem Chicken Madras, das so scharf war, dass es sogar Nightingale auf der anderen Tischseite Tränen in die Augen trieb. Ich fand es ein bisschen zu mild. Indisches Essen kann einen Jungen nicht schrecken, der mit Groundnut-Hühnchen und Benachin aufgewachsen ist. Das Motto der westafrikanischen Küche lautet, wenn das Tischtuch unter dem Essen nicht in Flammen aufgeht, war die Köchin zu geizig mit dem Pfeffer. Das war jetzt geschwindelt, so ein Motto gibt es natürlich nicht, aber für meine Mutter war es schlicht unvorstellbar, dass jemand Wert auf ein Gericht legte, das einem nicht den Gaumen verbrannte.
Wir bestellten Bier, und Nightingale fragte mich, wie meine diplomatischen Bemühungen vorankämen. »Abgesehen von dem kleinen Zwischenfall mit Tyburn.«
Ich erzählte ihm von unserem Besuch bei Oxleys Fluss und Beverleys interessanter Reaktion. Dass ich beinahe selbst hineingesprungen wäre, ließ ich weg. Ich erklärte, dass der Besuch meiner Ansicht nach gut verlaufen sei und dass eine Verbindung zwischen beiden Seiten zu spüren gewesen sei. »Darauf können wir aufbauen«, fügte ich hinzu.
»Konfliktlösung«, sagte Nightingale. »Ist es das, was sie euch heutzutage in Hendon beibringen?«
»Jawohl, Sir. Aber keine Sorge, wir lernen auch, wie man Leute mit dem Telefonbuch niederschlägt und die zehn besten Methoden, verdächtigen Personen Beweisstücke unterzuschieben.«
»Gut zu wissen, dass die alten Techniken noch gepflegt werden«, sagte Nightingale.
Ich nippte an meinem Bier. »Tyburn ist kein Fan der alten Zeiten.«
»Peter«, sagte er und fuchtelte mahnend mit der Gabel, »von allen Kindern der Mutter Themse mussten Sie sich ausgerechnet mit Lady Ty anlegen. Was dort geschehen ist, ist einer der Gründe, warum wir nicht mit Magie um uns werfen, solange wir die Grundlagen noch nicht vollkommen beherrschen.«
»Was hätte ich denn sonst tun sollen?«
»Sie hätten sich aus der Situation herausreden können. Wofür halten Sie Ty denn – für eine Gangsterbraut? Haben Sie tatsächlich geglaubt, dass sie Sie umknallen würde? Sie wollte Ihnen nur ein bisschen auf den Zahn fühlen, aber Sie sind in Panik geraten.«
Wir aßen eine Zeit lang schweigend weiter. Er hatte recht – ich hatte durchgedreht.
»Abknallen, Sir«, sagte ich schließlich, »oder umlegen, nicht umknallen.«
»Ah ja«, sagte Nightingale.
»Sie scheinen sich aber keine großen Sorgen zu machen, Sir«, sagte ich. »Über die Sache mit Lady Ty, meine ich.«
Nightingale nahm noch einen Bissen von seinem Lamm, bevor er antwortete. »Peter, wir sind im Begriff, uns einem mächtigen Wiedergänger als Judasziegen anzubieten, einem Geist, der, soweit wir wissen, mindestens acht Menschen umgebracht hat.« Er belud seine Gabel mit Reis. »Wegen Lady Ty mache ich mir erst Sorgen, wenn wir das überlebt haben.«
»Wenn ich mich recht erinnere, bin ich in diesem Szenario die Judasziege, nämlich der ›Schutzmann‹. Und das heißt, dass es wohl eher mein Hintern ist, der hier aus dem Fenster hängt, Sir. Sind Sie sicher, dass Sie den Geist zurückverfolgen können?«
»Nichts ist sicher, Peter. Aber ich werde mein Bestes tun.«
»Und wenn wir ihn nicht in sein Grab zurücktreiben können?«, fragte ich. »Haben wir dann einen Plan B?«
»Molly hat gewisse Kenntnisse der Hämomantik«, antwortete Nightingale. »Sehr eindrucksvoll.«
Ich blätterte geistig in meinem sehr schmalen Griechisch-Wortschatz. »Zeichendeutung unter Verwendung von Blut?«
Nightingale kaute nachdenklich. »Vielleicht ist das nicht der beste Ausdruck dafür. Molly kann einem helfen, die Sensibilität für Vestigia über eine gewisse Distanz auszudehnen.«
»Wie weit?«
»Zwei bis drei Meilen. Ich habe es nur einmal versucht, daher kann ich es nicht genau sagen.«
»Und wie war es?«
»Als würde man in eine Geisterwelt treten«, sagte Nightingale. »Soweit es mich betraf, mag es sogar tatsächlich die Welt der Geister gewesen sein. Durchaus denkbar, dass man auf diese Weise Henry Pyke finden könnte.«
»Warum können wir das nicht gleich versuchen?«
»Weil die Chancen, diese Erfahrung zu überleben, ungefähr eins zu fünf stehen«, erklärte Nightingale.
»Ach so«, sagte ich. »Ja, dann lassen wir es besser erst mal bleiben.«
Wenn man die Anfänge meines Berufes, und damit meine ich jetzt nicht Zauberlehrling, sondern Diebesfänger, überhaupt bestimmen konnte, dann lagen sie in der Bow Street. Dort kam nämlich der seinerzeitige Magistrat (und Autor satirischer Romane) Henry Fielding auf die Idee, eine Truppe zu gründen, die später als die Bow Street Runners bekannt wurde. Sein Haus stand direkt neben dem Royal Opera House, das damals einfach nur das Theatre Royal war, wo Macklin seinem Kneipengewerbe nachging und nebenbei ein bisschen schauspielerte. Das alles wusste ich, weil Channel 4 darüber mal einen Fernsehfilm gebracht hatte, in dem der Bursche mitwirkte, der in den Krieg-der-Sterne-Filmen den Imperator gespielt hatte. Nach Henry Fieldings Tod übernahm sein blinder jüngerer Bruder seinen Posten als Magistrat und baute die Bow Street Runners weiter auf, aber offenbar nicht so weit, dass sie Macklin daran hätten hindern können, praktisch vor ihrer Haustür Henry Pyke totzuschlagen. Kein Wunder, dass Pyke sauer war. Mir hätte das auch nicht gefallen.
Daraus wurde schließlich die erste echte Polizeistation Londons. Im 19. Jahrhundert zog sie in ein Gebäude auf der anderen Straßenseite und wurde zum Bow Street Magistrates Court – nach dem Old Bailey wahrscheinlich das berühmteste Amtsgericht Großbritanniens. Von hier aus schickte man Oscar Wilde wegen Unzucht ins Zuchthaus, der faschistische Politiker William Joyce, genannt Lord Haw-Haw, trat von hier seinen kurzen Weg zur Henkersschlinge an, und gegen die Kray-Zwillinge wurde hier wegen Mordes an Jack »The Hat« MacVitie Untersuchungshaft angeordnet. Im Jahr 2006 wurde das Gebäude an einen Baulöwen verkauft, der es zu einem Hotel umbauen ließ, denn obwohl London gern das hübsche Lied von der Tradition singt, hat das Geld dann doch die unwiderstehliche Kraft eines Sirenengesangs.
Das ursprüngliche Gebäude hatte später einem Blumenmarkt weichen müssen, der von Eisen und Glas domartig überdacht war. Eliza Doolittle, wie sie von Audrey Hepburn in My Fair Lady verkörpert wurde, könnte hier durchaus ihre Veilchen gekauft haben, bevor sie mit dem schlimmsten Cockney-Akzent, bis Dick Van Dyke kam, Karriere machte. Als in den 1990er-Jahren das Royal Opera House wiederaufgebaut wurde, schluckte es einen großen Teil des Straßenblocks, darunter auch den Blumenmarkt.
Wir begaben uns zum Hintereingang der Oper, denn anscheinend kannte Nightingale dort einen Burschen, der uns einlassen würde.
Es handelte sich weniger um einen Bühneneingang als vielmehr um eine riesige Verladerampe. Ich kenne Lagerhallen, die über weit kleinere Ladeplätze verfügen. Hier hatten sie sogar einen Schwerlastkran, mit dem man riesige Paletten mit Kulissenmaterial von einer Ebene auf die andere heben konnte. Nightingales Kontakt im Haus hieß Terry, war klein, trug eine beige Strickjacke und hatte schütteres Haar. Er erklärte, die Kulissen wögen mehr als 15 Tonnen und würden in einem Depot in Wales gelagert, wenn sie hier nicht gebraucht würden. Warum Londoner Kulissen ausgerechnet in Wales gelagert wurden, erklärte er nicht.
»Wir hätten gern den Richter gesprochen«, sagte Nightingale.
Terry nickte und führte uns durch eine Reihe niedriger, weiß gestrichener Korridore und vorschriftsmäßiger Feuerschutztüren, die mich unangenehm an das Leichenschauhaus von Westminster erinnerten. Wir landeten in einem Lagerraum mit niedriger Decke, der, wie uns Nightingale erklärte, früher einmal das Erdgeschoss des Blumenmarktes gewesen war.
»Und genau hier war der Salon von Nummer vier«, sagte er und wandte sich an unseren Führer. »Keine Sorge, Terry, wir finden schon selbst wieder hinaus.«
Terry winkte uns fröhlich zu und verschwand. Die Wände des Raums waren mit hässlichen Stahl- und Spanplattenregalen vollgestellt, auf denen Kartons voll Papierservietten standen, Großpackungen Cocktailsticks und Stapel von Serviertabletts. Die Mitte des Raums war leer, nur auf dem Boden waren die Abdrücke von Regalen zu sehen, die hier einmal gestanden hatten. Ich suchte nach Vestigia, spürte aber nichts außer Staub und aufgerissenen Plastikfolien. Doch dann spürte ich etwas, am äußersten Rand der Wahrnehmung: Pergament, alter Schweiß, Leder, verschütteter Portwein.
»Ein Geistermagistrat? Der uns einen Geisterhaftbefehl ausstellt?«, fragte ich.
»Symbole haben Macht über Geister«, antwortete Nightingale. »Oft erzeugen sie stärkere Wirkung als alles, was wir aus der physischen Welt zum Einsatz bringen können.«
»Warum ist das so?«
»Um ehrlich zu sein, Peter«, sagte Nightingale, »kann ich mich nur noch daran erinnern, dass wir das damals lernten, und ich kenne natürlich die relevanten Passagen bei Bartholomew – vielleicht habe ich sogar einen Aufsatz darüber geschrieben –, aber ich will verdammt sein, wenn ich mich daran erinnere, warum es so ist.«
»Und wie wollen Sie mir dieses ganze Zeug beibringen, wenn Sie es selbst nicht mehr wissen?«
Nightingale schlug mit dem Silberknauf des Stocks leicht in seine Handfläche. »Ich hatte vor, meine Erinnerung daran aufzufrischen, bevor wir uns diesem Teil Ihrer Ausbildung nähern. Ich weiß, dass mindestens zwei meiner eigenen Meister genau so verfuhren, und die waren damals sogar Fachlehrer.«
Mir wurde klar, dass Nightingale selbst nach irgendeiner Bestätigung suchte, und das fand ich ausgesprochen besorgniserregend. »Bitte achten Sie darauf, dass Sie mir immer ein paar Schritte voraus sind«, sagte ich. »Wie finden wir nun den Richter?«
Nightingale lächelte. »Wir müssen nur seine Aufmerksamkeit erregen.« Er drehte sich um und sprach in die leere Mitte des Raums. »Captain Nightingale möchte mit dem Colonel sprechen.«
Der Geruch nach altem Schweiß und verschüttetem Alkohol wurde stärker. Eine Gestalt erschien vor uns. Dieser Geist schien noch transparenter zu sein als mein alter Freund Wallpenny und wirkte noch geisterhafter, aber seine Augen glitzerten, als er uns ansah. Da Sir John Fielding eine Augenbinde getragen hatte, um seine blinden Augen zu verbergen, und Nightingale außerdem einen »Colonel« angerufen hatte, vermutete ich, dass wir hier Colonel Sir Thomas De Veil vor uns hatten. De Veil war zu Lebzeiten dermaßen korrupt, dass sogar die Londoner Gesellschaft des 18. Jahrhunderts schockiert gewesen war – und das war Historikern zufolge die korrupteste Epoche in der gesamten britischen Geschichte gewesen.
»Was wollt Ihr, Captain?«, fragte De Veil. Seine Stimme klang dünn und weit entfernt, und um ihn herum konnte ich jetzt die vagen Umrisse von Möbelstücken wahrnehmen – Stuhl, Tisch, Bücherschrank. Der Legende zufolge hatte De Veil noch ein spezielles Kämmerchen, in dem er »juristische Vernehmungen« weiblicher Zeugen und Verdächtiger vornahm.
»Ich brauche einen Haftbefehl«, sagte Nightingale.
»Zu den üblichen Bedingungen?«, fragte De Veil.
»Selbstverständlich.« Nightingale zog eine schwere Papierrolle aus dem Jackett und reichte sie De Veil. Der Geist streckte seine durchsichtigen Finger aus und zog sie Nightingale aus der Hand. Obwohl es recht lässig aussah, war ich sicher, dass es den Geist beträchtliche Anstrengung kosten musste, einen physischen Gegenstand festzuhalten. Die thermodynamischen Hauptsätze sind in dieser Hinsicht eindeutig: Nach dem Energieerhaltungssatz muss die Summe aller Energieformen konstant bleiben; De Veil würde also dafür den vollen Preis bezahlen müssen.
»Und welchen Übeltäter möchten wir denn festsetzen?«, fragte De Veil und legte das Papier auf den Geistertisch.
»Henry Pyke, Euer Ehren«, antwortete Nightingale. »Auch bekannt unter dem Namen Punch und ferner unter dem Namen Punchinella.«
De Vails Augen glitzerten, und um seine Lippen zuckte es. »Verhaften wir neuerdings Puppen, Captain?«
»Sagen wir, wir möchten den Puppenspieler verhaften, Euer Ehren«, antwortete Nightingale.
»Welcher Vergehen wird er beschuldigt?«
»Ermordung seiner Frau und seines Kindes«, sagte Nightingale.
De Vail legte den Kopf schief. »War sie eine Kratzbürste?«
»Ich bitte um Verzeihung, Euer Ehren?«
»Ach, kommt schon, Captain«, sagte De Veil. »Kein Mann schlägt seine Frau, ohne provoziert worden zu sein – also: War sie eine Kratzbürste?«
Nightingale zögerte.
»Eine entsetzlich zänkische Kratzbürste«, sagte ich. »Bitte um Nachsicht, Euer Ehren. Doch das Kind war unschuldig.«
»Die Zunge eines Weibes kann einen Mann zu den fürchterlichsten Taten treiben«, verkündete De Veil. »Wie ich selbst bestätigen kann.« Er zwinkerte mir zu und ich wusste, diesen Anblick würde ich wohl nie mehr vergessen. »Doch das Kind war unschuldig, und aus diesem Grunde muss er ergriffen und vor seine Richter gebracht werden.« Ein Federkiel erschien in De Veils Geisterhand, und in schwungvoller Schrift stellte er einen Haftbefehl aus. »Ihr habt gewiss an das Unterpfand gedacht?«, sagte er.
»Mein Constable kümmert sich um die Formalitäten«, antwortete Nightingale.
Das war mir neu. Ich warf ihm einen fragenden Blick zu, und er zeigte mir mit der rechten Hand die Lux-Geste. Ich begriff und nickte.
De Veil blies mit viel Aufhebens die Tinte trocken, dann rollte er den Haftbefehl auf und reichte ihn Nightingale.
»Danke, Euer Ehren«, sagte Nightingale und wandte sich an mich: »Sie sind an der Reihe, Constable.«
Ich rief ein Werlicht hervor und ließ es zu De Veil hinüberschweben, der es sanft in die rechte Hand nahm. Obwohl ich den Zauber aufrechterhielt, wurde das Licht schwächer, vermutlich weil De Veil seine magische Kraft einsaugte. Ich ließ es eine gute Minute lang weiterleuchten, dann machte Nightingale eine knappe, schneidende Handbewegung, und ich brach den Zauber ab. De Veil seufzte, als das Licht erlosch, und nickte mir dankend zu. »So wenig«, seufzte er wehmütig und verschwand.
Nightingale reichte mir das Dokument. »Sie verfügen jetzt über einen gültigen Haftbefehl.« Ich rollte das Papier auf und entdeckte, wie vermutet, dass es vollkommen unbeschrieben war. »Gehen wir und verhaften wir Henry Pyke«, sagte Nightingale.
Als wir uns weit genug vom Lagerraum entfernt hatten, schob ich den Akku in das Airwave und rief Lesley an. »Mach dir um uns bloß keinen Kopf«, sagte sie sarkastisch. »Wir warten gern ein paar Stunden, bis du endlich in die Gänge kommst.« Im Hintergrund konnte ich Stimmengewirr, klirrende Gläser und die neueste Single von Dusty Small hören. Ich verspürte keinerlei Mitgefühl; offenbar hing sie im Pub herum. Ich empfahl ihr, sich selbst und den ganzen Rest der Eingreiftruppe sofort in Alarmbereitschaft zu versetzen.
Bei der Polizeiarbeit geht es immer um systematisches Vorgehen und Planung, und das änderte sich auch dann nicht, wenn man ein übernatürliches Wesen jagt. Wir – Nightingale, Seawoll, Stephanopoulos, Lesley und ich – brauchten keine Viertelstunde, um die Einzelheiten der Operation auszuarbeiten, weil es ein Standardverfahren war: identifizieren, absichern, verfolgen, verhaften. Mein Job war, Henry Pykes letztes Opfer zu identifizieren; sobald ich das getan hatte, sollte Nightingale seinen magischen Trick anwenden und Henrys Geist bis zum Grab zurück folgen. Seawolls Leute würden alles sichern und nach außen abschirmen, für den Fall, dass die Sache aus dem Ruder lief, und Dr. Walid sollte mit seinem Mobilen Traumateam bereitstehen, um jedem armen Schlucker zu helfen, dem das Missgeschick widerfuhr, dass ihm die Visage auseinanderfiel. DS Stephanopoulos lag (wie ich später erfuhr) mittlerweile mit einer Gruppe von Bauarbeitern (die dafür zum Überstundentarif bezahlt wurden) sowie einem Minibagger auf der Lauer, um das Grab auszuschaufeln, wo auch immer sie es finden würden. In einem weiteren Lkw hielt sie einen Einsatztrupp uniformierter Polizisten in Bereitschaft, um auch mit einer größeren Menschenmenge fertigwerden zu können, sollte sich herausstellen, dass Henry Pyke an einer belebten und daher unvorteilhaften Stelle, etwa unter einem Kino oder einem Pub, beerdigt lag. Seawoll hatte technisch den Oberbefehl über die ganze Operation, und ich war ziemlich sicher, dass ihn das in wunderbare Stimmung versetzte.
Alle sollten auf ihren Plätzen sein, sobald Nightingale und ich das Royal Opera House durch den Bühneneingang verließen und auf die Bow Street hinaustraten. Angesichts der Tatsache, dass Henry Pyke von Charles Macklin weniger als zehn Meter die Straße hinauf totgeschlagen worden war, hielten wir das für den idealen Ort, um unseren kleinen Geisterfangzug zu beginnen. Deshalb öffnete ich leicht widerwillig meine Reisetasche, zog die Uniformjacke an und setzte den idiotischen Helm auf. Eins möchte ich hier mal klar festhalten: Wir alle hassen diesen verdammten Helm. Im Handgemenge ist er völlig nutzlos, außerdem verleiht er einem eine verblüffende Ähnlichkeit mit einem blauen Kugelschreiber mit aufgesetzter Kappe. Es gibt nur einen einzigen Grund, warum wir das Ding immer noch tragen, dass nämlich sämtliche Alternativen noch schlimmer aussehen. Aber da ich in diesem Kasperletheater nun mal die Rolle des Schutzmanns zu spielen hatte, schien es am besten, auch wie einer auszusehen.
Inzwischen war es fast Mitternacht; die letzten Opernfreunde hatten das Gebäude verlassen und schlenderten in Richtung U-Bahn-Station oder Taxistand davon. Bow Street wurde so still und leer, wie eine Straße mitten in London nur werden kann.
»Sind Sie sicher, dass Sie ihn beschatten können?«, fragte ich.
»Tun Sie Ihren Job, Peter«, antwortete Nightingale, »und ich tue meinen.«
Ich zog das Kinnband des Helms fester zu. Dann überprüfte ich die Airwave-Verbindung und bekam aus Versehen Seawoll an den Apparat, der mich anknurrte, ich solle nicht länger herumtrödeln, sondern endlich an die Arbeit gehen. Ich wollte Nightingale fragen, ob ich meiner Rolle entsprechend aussähe, und drehte mich zu ihm um, und so kam es, dass ich sah, wie der Mann im gediegenen Anzug aus dem Schatten neben dem Bühneneingang trat und Nightingale in den Rücken schoss.