Die dringendste Aufgabe war, Lesley zu finden. Das erledigte ich auf dem einfachsten Weg: Ich rief sie auf ihrem Handy an und fragte sie, wo sie sich befand.
»Wir sind in Covent Garden«, sagte sie. Mit »wir« meinte sie wohl sich selbst und Seawoll und ungefähr die Hälfte der Mordkommission. Der Chief Inspector folgte wieder einmal der ehrwürdigen Polizeitradition: im Zweifelsfall mit der größtmöglichen Teamstärke anrücken. Sie wollten die ganze Piazza durchsuchen und danach auch noch die Oper überprüfen.
»Was erhofft er sich davon?«, fragte ich.
»Erstens, mögliche Probleme einzudämmen«, antwortete sie. »Und zweitens warten wir auf deine Geistesblitze – wie du dich vielleicht erinnerst.«
»Ich hab da möglicherweise etwas herausgefunden. Aber es ist wichtig, dass du nichts Dummes tust.«
»He!«, sagte sie. »Du kennst mich doch.«
Wenn es nur so wäre.
Als Nächstes brauchte ich einen fahrbaren Untersatz, deshalb rief ich Beverley auf ihrem wasserdichten Handy an, wobei ich hoffte, dass sie nicht gerade den Schmetterlingsstil unter der Tower Bridge übte oder was auch immer Wassernymphen in ihrer Freizeit tun. Sie nahm beim zweiten Klingelton ab und wollte wissen, was ich mit ihrer Schwester angestellt hätte. »Sie ist nicht erfreut«, sagte sie.
»Lassen wir mal deine Schwester beiseite«, sagte ich, »ich muss mir ein Auto ausleihen.«
»Nur wenn ich mitdarf«, sagte sie prompt. Das hatte ich erwartet, tatsächlich sogar damit gerechnet. »Sonst kannst du zu Fuß gehen.«
»Okay«, sagte ich mit gespieltem Zögern.
Sie sagte, sie würde in einer halben Stunde aufkreuzen.
Als Drittes stand die Beschaffung von ein paar harten Drogen auf meiner Liste. Das erwies sich als überraschend schwierig, wenn man bedachte, dass ich mich in einem Krankenhaus aufhielt. Das Problem war, dass mein braver Doktor ethisches Fracksausen bekam.
»Sie schauen zu viel fern«, sagte Dr. Walid. »Betäubungspfeile gibt es nicht.«
»Klar gibt es die«, widersprach ich. »In Afrika benutzen sie das Zeug ständig.«
»Ich will es ein wenig deutlicher und schön langsam formulieren«, sagte er. »Es gibt keine ungefährlichen Betäubungspfeile.«
»Es muss ja kein Pfeil sein. Mit jeder Minute, die wir abwarten und Lesley im sequestrierten Zustand lassen, steigt die Chance, dass Henry Pyke ihr Gesicht zerstört. Um Magie zu bewirken, muss der Verstand des Opfers funktionieren. Schalten wir den bewussten Teil des Hirns aus, gehe ich jede Wette ein, dass Henry seinen Zauberspruch nicht anwenden kann und Lesleys Gesicht so bleibt, wie Gott es vorgesehen hat.«
Ich konnte an Dr. Walids Miene ablesen, dass er mir zustimmte. »Aber was wird dann? Wir können sie nicht ewig im medizinischen Koma lassen.«
»Wir müssen Zeit gewinnen«, erklärte ich. »Bis Nightingale wieder bei Bewusstsein ist, bis ich wieder in die Bibliothek im Folly darf, bis Henry Pyke an Altersschwäche stirbt … oder was auch immer Untote tun, wenn sie endgültig abkratzen.«
Also ging Dr. Walid vor sich hin brummend davon und kam wenig später mit zwei steril verpackten Spritzen zurück, auf denen das Biogefahrensymbol prangte und die mit einem Aufkleber »Für Kinder unzugänglich aufbewahren« versehen waren.
»Etorphin-Hydrochlorid-Lösung«, sagte er. »Stark genug, um eine weibliche Person um die 65 Kilo zu betäuben.«
»Wie schnell wirkt es?«
»Damit immobilisiert man Nashörner«, erwiderte er und gab mir noch eine zweite Packung, ebenfalls mit zwei Spritzen. »Das ist das Gegenmittel, Narcan. Wenn Sie sich versehentlich selbst mit dem Etorphin injizieren, setzen Sie sich sofort eine dieser Spritzen, noch bevor Sie den Rettungswagen rufen, und sorgen Sie dafür, dass die Sanitäter diese Karte hier sofort finden können.«
Er gab mir eine Karte, die noch warm war vom Laminierungsgerät. In Dr. Walids sauberer Schrift stand darauf in Großbuchstaben: »Achtung! Ich war so blöd, mir selbst eine Etorphin-Hydrochlorid-Spritze zu setzen!« Darunter waren die Maßnahmen aufgelistet, die von den Rettungssanitätern zu ergreifen waren, um meine armselige Existenz zu retten – die meisten betrafen Wiederbelebung und heldenhafte Anstrengungen, um Herzschlag und Atmung aufrechtzuerhalten.
Im Lift nach unten klopfte ich mir nervös auf die Taschen und flüsterte leise vor mich hin, dass die Betäubungsspritzen in der linken Tasche und das Gegenmittel in der rechten Tasche steckten.
Beverley wartete im Halteverbot auf mich. Sie trug eine khakifarbene Cargohose und ein nabelfreies T-Shirt mit der Aufschrift WINE BACK HERE quer über den Brüsten.
»Trara!«, trompetete sie und führte mir stolz ihr Auto vor. Es war ein kanariengelbes Cabrio, Marke BMW Mini Cooper S mit Turbolader und Runflat-Reifen. Ein auffälligeres Gefährt ließ sich im Zentrum Londons schwerlich finden. Ich ließ sie gern fahren – es gibt schließlich für alles Grenzen.
Für Ende Mai war es schon sehr warm, eigentlich ein wunderbarer Tag, um in einem Cabrio durch die Stadt zu düsen, trotz aller Autoabgase in der Stoßzeit. Als Fahrerin war Beverley etwa durchschnittlich grauenhaft, so wie es von jemandem zu erwarten war, der den Führerschein in den letzten zwei Jahren gemacht hatte. Das Gute am Londoner Verkehr ist, dass der Durchschnittsfahrer nie eine Chance bekommt, so schnell zu fahren, dass ein Fahrfehler zu wirklich fatalen Folgen führen könnte. Erwartungsgemäß kamen wir unten am Ende der Gower Street zum Stillstand und ich sah mich dem alten Londoner Dilemma gegenüber: aussteigen und zu Fuß weitergehen oder sitzen bleiben und hoffen.
Ich rief wieder Lesley an, wurde aber sofort an ihre Mailbox weitergeleitet. Daraufhin rief ich im Polizeirevier Belgravia an und ließ mich zu Stephanopoulos’ Airwave durchstellen. Für den Fall, dass jemand den Kanal abhörte, warnte sie mich pflichtgemäß, ich solle nach Hause gehen und auf weitere Anweisungen warten. Dann ließ sie mich wissen, dass sie Seawoll und Lesley zuletzt auf dem Weg zur Oper gesehen habe. Ich erklärte ihr, ich sei weisungsgemäß auf dem Weg nach Hause, was weder Stephanopoulos noch einen hypothetischen Mithörer überzeugen, aber sich wenigstens beim Verlesen des Abhörprotokolls vor Gericht gut machen würde.
Der Stau löste sich erst auf, als wir an der New Oxford Street vorbei waren. Ich wies Beverley an, die Endell Street hinunterzufahren.
»Wenn wir dort ankommen, hältst du dich von Lesley so fern wie möglich«, sagte ich.
»Du glaubst allen Ernstes, ich würde mit Lesley nicht fertig?«, fragte sie.
»Ich glaube, sie würde dir deine magischen Kräfte aussaugen.«
»Echt?«, fragte Beverley.
Das war natürlich geraten, aber ich dachte, dass ein genius loci wie Beverley seine magischen Kräfte von irgendwoher beziehen musste; für einen Wiedergänger wie Henry Pyke würden solche Wesen daher höchst attraktive Opfer darstellen. Vielleicht verfügten sie auch über eine Art natürliche Immunabwehr, um damit fertig zu werden, was bedeuten würde, dass ich mir unnötige Sorgen machte, aber darauf wollte ich lieber nicht wetten.
»Echt«, sagte ich.
»Scheiße. Ich dachte, wir wären Freundinnen.«
Ich wollte gerade etwas Tröstendes von mir geben, doch es blieb mir in der Kehle stecken, als Beverley aus dem Einbahnstraßensystem am Oasis Sports Centre herausschoss und in die Endell Street bretterte, ohne durch irgendein Anzeichen erkennen zu lassen, dass sie die anderen Verkehrsteilnehmer überhaupt wahrnahm.
»Lesley ist deine Freundin«, ächzte ich. »Aber Henry Pyke ist nicht dein Freund.«
Die Gottseidank-es-ist-Freitag-Menge hatte die Straßenpubs und -cafés gestürmt und für eine kleine Weile zeigte sich in London ein Hauch der richtigen Straßenkultur, die ja manchen Leuten hier immer gefehlt hat, weshalb sie sich Villen in der Toskana zulegen mussten. Die Straßen waren hier so eng, dass ständig die Gefahr bestand, einen Fußgänger zu überfahren, und sogar Beverley sah sich gezwungen, den Druck aufs Gaspedal ein klein wenig zurückzunehmen.
»Pass auf die Leute auf«, sagte ich.
»Ha«, meinte Beverley, »die Leute sollten eben nicht trinken und gleichzeitig rumlaufen.«
Wir fegten um den Mini-Kreisverkehr am Longacre, mussten wegen einer weiteren Ansammlung von Pubbesuchern vor dem Kemble’s Head an der Ecke abbremsen, beschleunigten dann aber wieder die Bow Street entlang. Polizeiautos konnte ich nicht sehen, auch keine Feuerwehr- oder Notfallwagen vor der Oper. Vielleicht kamen wir doch noch rechtzeitig. Beverley parkte auf einem Behindertenparkplatz gegenüber der Oper.
»Lass den Motor laufen«, sagte ich, als ich ausstieg. Ich erwartete eigentlich nicht, dass wir einen beschleunigten Rückzug antreten müssten, aber auf diese Weise würde sie im Auto bleiben und geriet nicht in Gefahr. »Wenn dich die Polizei verjagen will, nennst du ihnen meinen Namen und sagst, dass ich dienstlich in der Oper zu tun habe.«
»Klar, da sind sie sicher schwer beeindruckt«, sagte Beverley, blieb aber tatsächlich im Mini sitzen, und das war die Hauptsache. Ich trabte über die Straße zum Haupteingang und stieß eine der schweren Glas-Mahagoni-Türen auf. Das Atrium war kühl und wirkte nach der grellen Sonne draußen sehr dunkel. In Glasvitrinen neben dem Eingang standen Puppen in Kostümen von früheren Aufführungen. Als ich durch eine zweite, innere Flügeltür ging, die in die Lobby führte, strömte mir eine große Gruppe von Leuten entgegen. Ich blickte mich rasch nach einer Ursache für ihre Eile um, aber obwohl sie ziemlich schnell gingen und ein klares Ziel zu haben schienen, wurden sie offensichtlich nicht von Panik getrieben. Dann klickte es endlich bei mir: Es war Pause – und das hier waren die Raucher, die auf eine Zigarette ins Freie strömten.
Tatsächlich kamen jetzt noch mehr Leute aus den Türen zum Parkett heraus und wandten sich nach links, wo die Toiletten und die Bar lagen – vermutlich war das auch die Reihenfolge ihrer Prioritäten. Ich blieb stehen und ließ die Leute vorbei – zumindest Seawoll würde ich wegen seiner schieren Größe leicht ausmachen können. Hinsichtlich der Kleidung war ich enttäuscht, denn alle trugen zwar recht teure Klamotten, aber vorwiegend in lässigem Stil, von ein paar Abendkleidern abgesehen, die das langweilige Einerlei ein bisschen auflockerten. Ich hatte jedenfalls Besseres von den besseren Schichten erwartet. Die Menge dünnte schließlich wieder aus und ich ließ mich vom Strom der Theaterbesucher nach links mitziehen, an der Garderobe vorbei und eine breite Treppe zur großen Bar hinauf. Einer Aufschrift zufolge handelte es sich um das »Balconies Restaurant«, und soweit ich sehen konnte, war es dadurch entstanden, dass man mehrere Tonnen Kiefernholz in eine Art viktorianisches Gewächshaus aus Glas und Gusseisen gekippt hatte. Vordringlichstes Ziel der Bar war es, den Ansturm während der Pausen zu bewältigen, wenn auf einen Schlag ungefähr tausend leicht benommene Kunden hier einfielen und die ganze Singerei mit Gin und Tonic hinunterspülen wollten. Die Bar hatte große offene Räume, schlichte Messingbeschläge am Tresen und einfache Polsterstühle, das alles unter einem hohen gewölbten Glasdach mit weißen Eisenstreben. Es wirkte, als hätte man Ikea-Innenarchitekten angeheuert, um den alten Bahnhof St. Pancras neu auszustatten. Wäre Thomas die kleine Lokomotive Schwede gewesen, hätte vermutlich sein Wohnzimmer genauso ausgesehen.
Allerdings wäre es in seinem Wohnzimmer wahrscheinlich lange nicht so fröhlich zugegangen.
In ungefähr sechs Metern Höhe zog sich eine balkonähnliche Galerie um den ganzen Raum, breit genug, um auch dort Stühle und Tische mit weißen Tischtüchern und Silberbesteck aufzustellen. Oben war das Gedränge nicht so dicht, vermutlich deshalb, weil die meisten Leute direkt auf die Bar zugesteuert waren, um sich so viel Gin und Tonic wie möglich in die Kehlen zu kippen, bevor die Musik wieder einsetzte. Ich lief auf die nächstgelegene Treppe zu, weil ich mir von oben einen besseren Überblick erhoffte. Als ich die Treppe halb hinaufgestiegen war, spürte ich, dass sich die Atmosphäre unten im Raum veränderte. Keine sehr starke Empfindung, eher wie ein nächtliches Hundebellen irgendwo in weiter Ferne.
»Verpiss dich, du Hexe!«, schrie eine Frauenstimme schrill irgendwo unter mir.
Es war dasselbe Gefühl, das ich in der Neal Street gehabt hatte, kurz bevor Dr. Framline durchknallte und über den Fahrradkurier herfiel. Jemand ließ ein Tablett fallen, Metall klapperte über den teuren Parkettboden, ein paar Gläser zersplitterten. Irgendwo in der Nähe klatschte jemand spöttisch Beifall.
Ich hatte inzwischen die Galerie erreicht, trat zwischen zwei nicht besetzten Tischen hindurch an das Geländer und blickte hinunter.
»Wichser!«, schrie ein Mann irgendwo unter der Galerie. »Du verdammter Wichser!«
Jetzt machte ich einen fit wirkenden Mann Ende vierzig aus, mit grau meliertem Haar, konservativem Anzug und unverkennbar buschigen Augenbrauen – Deputy Assistant Commissioner Folsom. Als ob mein Leben nicht schon kompliziert genug war. Ich wich hastig vom Geländer zurück und entdeckte gleichzeitig Lesley, die auf der Galerie gegenüber am Geländer lehnte und zu mir herüberstarrte. Sie sah völlig normal aus, energisch, sogar fröhlich, wie sie so in ihrer Einsatzlederjacke dastand. Als sie sicher war, dass ich sie gesehen hatte, winkte sie mir munter zu und wies mit einem Kopfnicken zur Bar hinunter, wo sich Seawoll gerade einen Drink holte.
Eine Stimme verkündete, dass die Vorstellung in drei Minuten weitergehen würde.
Unten an der Bar versetzte ein Mann in einem Tweedjackett mit Lederflecken an den Ellbogen einem anderen eine Ohrfeige. Jemand schrie etwas. Lesley schaute hinunter, und ich sprintete die Galerie entlang, wobei ich einige Bürgerinnen und Bürger unsanft aus dem Weg stieß. Ein rascher Blick zu Lesley hinüber – ihre Augen folgten mir wie im Schock, als ich um die erste Ecke bog und nun die breite Seite der Galerie entlangrannte. Wer auch immer in diesem Augenblick das Denken in Lesleys Kopf übernommen hatte, sie selbst oder Henry Pyke, hatte offenbar nicht erwartet, dass ich mich dermaßen rabiat durch eine Menge gut gekleideter, ehrenwerter Bürger boxen würde. Und genau damit rechnete ich. Es ist keineswegs leicht, eine mit einem Betäubungsmittel gefüllte Spritze aus der Tasche zu fummeln, während man sich gewaltsam den Weg durch ein dichtes Gedränge heftig protestierender Opernliebhaber bahnt, aber ich kriegte es irgendwie hin, und als ich um die letzte Ecke bog und direkt auf Lesley zuraste, hielt ich die Spritze stichbereit in der Hand.
Sie schaute mir belustigt entgegen, den Kopf leicht zur Seite geneigt, und ich dachte, du kannst noch so cool dreinschauen, sehr bald wirst du sanft entschlummern. Zu diesem Zeitpunkt wichen die Leute bereits freiwillig vor mir zur Seite und ich konnte die letzten fünf Meter unbehindert zurücklegen. Oder hätte sie zurücklegen können, wenn nicht Seawoll die Treppe heraufgestürmt wäre und mich voll ins Gesicht geboxt hätte. Es war, als würde ich in vollem Lauf gegen einen zu niedrig angebrachten Deckenbalken krachen. Ich fiel auf den Rücken und hatte so Gelegenheit, die Dachkonstruktion zu bewundern, auch wenn sie mir ein wenig verschwommen vorkam.
Verdammt, der Mann konnte sich wirklich schnell bewegen, wenn er wollte.
Offenbar war Henry Pyke in der Lage, auch andere Menschen zu beeinflussen, sogar einen fiesen Dickschädel wie Seawoll – das sah nicht gut aus.
»Ist mir doch scheißegal«, kreischte eine Frau irgendwo rechts von mir. »Sind doch alles nur schwule Wichser, die über schwule Wichser singen.«
Eine Stimme verkündete, dass die Vorstellung in weniger als einer Minute fortgesetzt würde und dass sich die Zuschauer umgehend an ihre Plätze begeben sollten. Ein junger Mann im Kellneranzug mit rumänischem Akzent befahl mir, mich nicht von der Stelle zu bewegen und dass man bereits die Polizei benachrichtigt habe.
»Ich bin die Polizei, Idiot!«, sagte ich, aber es klang ein wenig gedämpft, nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass sich meine Kinnlade irgendwie falsch platziert anfühlte. Ich fischte meinen Dienstausweis heraus und wedelte damit vor seiner Nase herum. Er reichte mir die Hand und half mir auf die Beine. Inzwischen hatte sich die Bar geleert und das Personal begann mit dem Aufräumen. Jemand hatte meine Spritze platt getreten. Ich tastete mein Gesicht ab. Da noch alle meine Zähne an Ort und Stelle waren, musste sich Seawoll ziemlich zurückgehalten haben. Ich fragte, wohin der große Mann verschwunden sei, und die Angestellten sagten, er sei mit der blonden Frau die Treppe hinuntergelaufen.
»In den Zuschauerraum?«, fragte ich, aber das wussten sie nicht.
Ich rannte die Treppe hinunter und fand mich vor dem langen Marmortresen der Garderobe wieder. Das Gute an Seawoll ist, dass man ihn kaum übersehen kann, und vergessen noch weniger, deshalb wusste die Garderobiere, dass er in Richtung des Eingangs zum Parkett gegangen war. Ich lief in die Lobby zurück, wo sich mir eine höfliche junge Dame in den Weg stellte. Ich sagte ihr, dass ich dringend den Manager sprechen müsse, und als sie ihn holen ging, schlüpfte ich durch die Tür.
Die Musik überrollte mich wie eine große, düstere Woge, doch die schiere Größe des Theaters überwältigte mich. Ein riesiger hufeisenförmiger Raum, in dem sich eine Schicht aus Gold und rotem Samt über der anderen auftürmte. Vor mir erstreckte sich ein Meer von Köpfen bis hinunter zum Orchestergraben und dahinter erhob sich die Bühne. Die Kulisse zeigte das Heck eines Segelschiffs, aber der Maßstab war übertrieben groß und das Seitendeck ragte turmhoch über den Sängern empor. Alles war in kühlen Farbtönen gehalten, in Blau, Grau und Schmutzigweiß, ein Schiff, das auf dem feindlichen Ozean dahintreibt. Auch die Musik war entsprechend finster, und für meinen Geschmack hätte das ganze Arrangement wirklich ein bisschen mehr Rhythmus oder ersatzweise ein Mädchen im Minirock vertragen können. Männer in Uniform und Dreispitz besangen einander, während ein blonder Bursche in weißem Hemd dem Treiben mit Rehaugen folgte. Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass die Sache für den Blonden nicht gut enden würde und möglicherweise auch nicht für die Zuschauer. Gerade hatte ich entdeckt, dass der Tenor den Kapitän spielte, als dem Bass, der offenbar den Bösewicht des Stückes gab, plötzlich die Stimme versagte. Zuerst dachte ich, dass das zu seiner Rolle gehörte, aber das Murmeln, das durch die Zuschauer lief, machte mir klar, dass hier etwas gründlich schiefging. Der Sänger versuchte es noch einmal, hatte aber offenbar Probleme, sich an seinen Part zu erinnern. Der Tenor bemühte sich, die Panne zu überspielen, aber auch ihm versagte plötzlich die Stimme. Die Unruhe im Publikum wuchs und begann das Orchester zu übertönen, das jetzt ebenfalls bemerkte, dass etwas nicht stimmte, und plötzlich abbrach.
Ich rannte den Hauptgang hinunter auf den Orchestergraben zu, obwohl ich keine Ahnung hatte, wie ich von dort auf die Bühne gelangen sollte. Ein paar Zuschauer waren aufgesprungen und reckten die Hälse, um besser sehen zu können, was vorne abging. Als ich den Rand des Orchestergrabens erreichte, blickte ich hinunter. Die Musiker saßen noch immer mit spielbereiten Instrumenten auf ihren Plätzen. Ich war ihnen so nahe, dass ich den Ersten Geiger hätte berühren können. Er zitterte heftig und sein Blick war verschleiert. Der Dirigent klopfte mit dem Stab auf sein Notenpult, und die Musiker begannen wieder zu spielen. Ich erkannte die Musik sofort – es war das erste Lied, das Mr. Punch laut Piccini-Rollenbuch sang: Marlbrough s’en va-t-en guerre, ein altes französisches Volkslied, aber in der englischsprachigen Welt lautete der Titel For He’s a Jolly Good Fellow.
Der Tenor, der den Kapitän spielte, griff als Erster den Refrain auf:
»Mr. Punch is a jolly good fellow,
His dress is all scarlet and yellow.«
Der Bass und der Bariton fielen schnell nacheinander ein, dann auch der ganze Rest der Sänger, und sie sangen, als hätten sie den Text direkt vor sich:
»And if now and then he gets mellow,
It’s only amongst good friends.«
Die Sänger stampften im Takt der Musik. Das Publikum schien auf den Sitzen festgefroren, schwer zu sagen, ob es verwirrt, gebannt oder einfach zu entsetzt war, um sich zu regen. Dann fiel die erste Sitzreihe im Parkett mit Händen und Füßen in den Takt ein. Auch ich merkte, wie der Impuls mich überfiel, spürte eine plötzliche Welle von Biergeruch, Kegeln, Pasteten und Tanz und zum Teufel mit dem, was andere denken.
»With the girls he’s a rogue and rover;
He lives, while he can, upon clover.«
Das Klatschen und Stampfen breitete sich rasend schnell in die hinteren Reihen des Parketts aus. Die gute Akustik der Oper sorgte dafür, dass das Stampfen noch lauter wirkte als auf den Tribünen im alten Arsenalstadion von Highbury, aber genauso ansteckend. Ich musste die Knie zusammenpressen, damit sie sich nicht wie von selbst bewegten.
»When he dies – it’s only all over:
And there Punch’s comedy ends.«
Lesley marschierte auf die Bühne und stieg frech wie Oskar die Stufen zu dem überdimensionierten Seitendeck hinauf. Sie wandte sich dem Publikum zu. Erst jetzt sah ich, dass sie einen Stock mit Silbergriff in der Hand hielt – der Mistkerl hatte Nightingales Stock geklaut. Ein Spotlight stach durch die Dunkelheit und übergoss sie mit grellweißem Licht. Die Musik und das Singen brachen ab; das Stampfen verstummte allmählich.
»Meine Damen und Herren«, rief Lesley, »liebe Kinder. Ich präsentiere euch heute die Höchst Tragische Komödie oder Komische Tragödie von Mister Punch, wie sie uns von dem großen Schauspieler und Impresario Mister Henry Pyke überliefert wurde.« Sie wartete auf Applaus. Als er nicht kam, murmelte sie etwas und machte eine kleine Geste mit dem Stock. Ich spürte, wie ich von einem Zwang zu klatschen überrollt wurde; hinter mir begann das Publikum zu applaudieren.
Lesley verneigte sich anmutig. »Es ist mir eine Freude, hier zu sein«, sagte sie. »Herrje, wie viel größer das Theater ist als zu meiner Zeit! Ist zufällig jemand aus den 1790er-Jahren anwesend?«
Ein einzelner Zuruf kam von den oberen Rängen herab, als Beweis dafür, dass sich in jeder Menge irgendein Witzbold befindet.
»Nicht dass ich Euch nicht glaube, Sir, aber Ihr seid ein verdammter Lügner«, rief Lesley. »Doch der alte Schmierenkomödiant wird bald hier sein.« Sie schaute durch die Scheinwerfer ins Parkett hinunter, offenbar suchte sie etwas. »Ich weiß, dass du dort draußen bist, du schwarzer irischer Köter.«
Sie schüttelte den Kopf. »Möchte nur sagen, wie schön es ist, hier im 21. Jahrhundert zu sein«, sagte sie plötzlich. »Eine Menge Dinge, für die man dankbar sein kann, fließendes Wasser im Haus, pferdelose Kutschen, eine ordentliche Lebenserwartung.«
Ich konnte keine Möglichkeit entdecken, vom Parkett auf die Bühne zu gelangen. Der Orchestergraben war zwei Meter tief und der vordere Bühnenrand war zu hoch, als dass man ihn mit den Händen hätte erreichen können.
»Heute Abend, meine Damen und Herren, liebe Kinder, werde ich euch mit der betrüblichen Szene aus der Tragischen Komödie von Mister Punch unterhalten«, verkündete Lesley, »die seine Gefangennahme und, bedauerlicherweise, alsbaldige Hinrichtung behandelt.«
»Nein!«, schrie ich. Ich hatte das Rollenbuch gelesen und wusste, was jetzt kommen würde.
Lesley blickte mir direkt in die Augen und lächelte. »Doch, natürlich«, sagte sie. »So geht das Stück.« Knochen knackten; ihr Gesicht veränderte sich. Ihre Nase wuchs zu einem hakenförmigen Gebilde, ihre Stimme stieg zu einem durchdringenden, schrillen Kreischen an.
»So macht man das!«, gellte sie.
Es war zu spät. Trotzdem sprang ich mit einem Satz in den Orchestergraben. Das Royal Opera House knausert nicht am Orchester herum, etwa mit Viertelbesetzung und einer einzigen Pauke, nein, hier hält man sich ein volles Orchester mit siebzig Musikern und entsprechend groß ist der Graben. Ich landete inmitten der Streicher, die vom Einfluss Henry Pykes noch nicht so stark erfasst worden waren, dass sie nicht lauthals protestiert hätten. Ich drängte mich durch die Holzbläser, aber es nutzte alles nichts, selbst mit einem Sprung aus dem Stand konnte ich den Bühnenrand nicht mit den Händen erreichen. Einer der Geiger fragte mich, was zum Teufel ich hier zu suchen hätte, und drohte, unterstützt von einem Kontrabassisten, mir umgehend den Schädel einzuschlagen. Beide hatten diesen fiesen betrunkenen Freitagnacht-Blick, den ich inzwischen mit Henry Pyke in Verbindung brachte. Ich griff mir einen Notenständer und versuchte sie damit auf Abstand zu halten, da begann das Orchester wieder zu spielen. Kaum erklangen die ersten Töne, als mich die beiden mordlustigen Musiker völlig vergaßen, nach ihren Instrumenten griffen, sich brav hinsetzten und erstaunlich würdevoll (wenn man bedachte, dass sie gerade einen akuten psychotischen Schub durchmachten) zu spielen begannen. Ich hörte das Ding, das in Lesleys Körper steckte, mit seiner entsetzlich schrillen Stimme singen:
»Punch when parted from his dear,
Still must sing in doleful tune.«
Ich konnte nicht sehen, was Lesley tat, aber aufgrund des Gesangs nahm ich an, dass sie die Szene nachspielte, in der Punch vom Gefängnisfenster aus zuschaut, wie draußen sein Galgen errichtet wird. An beiden Seiten des Orchestergrabens befanden sich Türen, von dort aus musste man wohl irgendwie auf die Bühne gelangen können. Ich bahnte mir mit den Ellbogen den Weg zur nächstgelegenen Tür, begleitet von meinem ganz persönlichen kleinen Triumphmarsch aus Schmerzensschreien, Quieken, Fauchen und dem Klappern umstürzender Notenständer. Die Tür führte zu einem schmalen Durchgang, von dem völlig gleich aussehende Gänge nach rechts und links abzweigten. Da ich die Tür genommen hatte, die links zur Bühne führte, nahm ich an, dass ich hinter die Bühne gelangen würde, wenn ich noch einmal nach links abbog. Das stimmte auch, allerdings handelte es sich bei dem, was sich im Royal Opera House hinter der Bühne befand, nicht um eine normale Hinterbühne, sondern um eine Art Flugzeughangar: einen riesigen Raum mit hoher Decke, mindestens dreimal so groß wie die Hauptbühne, in dem man ohne Weiteres einen Zeppelin hätte parken können. Das gesamte Personal – vom Inspizienten bis hin zu den Souffleuren und wer sonst noch außer Sichtweite des Publikums bei einer Aufführung hinter der Bühne herumwuselt – hatte sich hinter den Seitenkulissen versammelt, offenbar vom selben Einfluss gebannt, den Henry Pyke auch auf das Publikum ausübte. Dass ich mich aus dieser Einflusszone entfernt hatte, verschaffte mir eine Atempause, um selbst abzukühlen und nachzudenken. Der Schaden war Lesley bereits zugefügt worden, und wenn ich ihr jetzt die Betäubungsspritze gab, würde ihr Gesicht einfach herunterfallen. Auf die Bühne zu rennen würde gar nichts bewirken, und möglicherweise gehörte es sogar zu Henry Pykes Rollenbuch, dass ich auf die Bühne stolperte. Ich drängelte mich durch das Bühnenpersonal und versuchte, so nahe wie möglich an die Bühne zu gelangen, ohne von dort aus gesehen zu werden.
Sie hatten keinen Galgen aufgebaut, sondern ließen eine Schlinge von oben herunter, wie vom Ausleger eines Krans. Entweder war Henry Pyke noch besser organisiert, als ich gedacht hatte, oder zur heutigen Opernaufführung gehörte auch eine Henkerszene. Vermutlich aber erst, nachdem sie die Sache lang und breit besungen hatten.
Lesley spielte immer noch die Rolle des Punch, der hinter dem vergitterten Fenster seinem Ende entgegenschmachtet. Allerdings folgte sie offenbar nicht mehr dem Piccini-Text, sondern erfreute das Publikum mit der Lebensgeschichte eines gewissen Henry Pyke, hoffnungsvoller Schauspieler, von seinen bescheidenen Anfängen in einem kleinen Dorf in Warwickshire bis hin zu seiner blühenden Londoner Bühnenkarriere.
»Und war ich nun«, deklamierte Lesley, »kein ganz junger Mann mehr, aber dafür ein erfahrener Mime, denn meine von Gott verliehenen Gaben waren über die Jahre hinweg auf den harten und erbarmungslosen Brettern der Londoner Theaterwelt gereift.«
Dass kein einziger der Bühnenangestellten auch nur kicherte, zeigte, wie stark der Bann war, unter dem sie standen. Nightingale hatte noch keine Anstalten gemacht, mir den Kurs »Bannsprüche für Anfänger« zuteil werden zu lassen, daher hatte ich keine Ahnung, wie viel Magie erforderlich war, um über zweitausend Leute in Bann zu schlagen, aber ich hätte wetten können, dass es nicht wenig war. Kurz schoss mir der Gedanke durch den Sinn, dass es für Lesley wahrscheinlich besser war, wenn ihr Gesicht herunterfiel, als wenn ihr Hirn verschrumpelte. Ich blickte mich um – irgendwo musste es doch eine Erste-Hilfe-Ausrüstung geben. Dr. Walid hatte mir erklärt, dass ich sterile Kochsalzlösung anwenden und ihr den Kopf vollkommen mit Bandagen verbinden müsse, wenn ich sie lange genug am Leben halten wollte, bis der Notfallwagen eintraf. Tatsächlich entdeckte ich den Erste-Hilfe-Kasten an der Wand über einer Auswahl von Feuerlöschgeräten. Der Kasten hatte eine beachtliche Größe, etwa wie ein Koffer, und bestand aus rotem Hartplastik. Er schien mir auch als Angriffswaffe recht brauchbar zu sein. Ich holte meine letzte Spritze heraus, ergriff den Erste-Hilfe-Kasten mit der anderen Hand und schlich mich in die Seitenkulissen. Als ich wieder freien Blick auf die Bühne hatte, war Lesley – ich konnte es nicht ertragen, sie mir als Punch oder Henry Pyke vorzustellen – bei einer Auflistung der Enttäuschungen angekommen, die Henry widerfahren waren. An den meisten Niederlagen gab er Charles Macklin die Schuld, der, wie er behauptete, sich ihm aus reiner Missgunst in den Weg gestellt habe und der ihn schließlich, als Henry ihn vor genau diesem Theater zur Rede stellen wollte, auf höchst grausame Weise nieder- und totgeschlagen habe.
»Dafür hätte er hängen sollen!«, rief Lesley. »Und er hätte auch hängen sollen für den armen Thomas Hallum, den er im Theater Royal niedermachte. Aber er hat das Glück der Iren und die Gabe, sich aus jeder Lage herauszuquasseln.«
In diesem Augenblick wurde mir klar, worauf Henry Pyke wartete. Charles Macklin war bis zu seinem Tod ein regelmäßiger Besucher des Theatre Royal gewesen. Der Legende zufolge war Macklins Geist bei zahlreichen Gelegenheiten auf seinem Lieblingssitz im Parkett gesehen worden. Henry Pyke versuchte offenbar, ihn hervorzulocken, aber ich glaubte nicht, dass sich Macklin blicken lassen würde.
Lesley überquerte das Schiffsdeck und starrte angestrengt ins Parkett hinunter.
»Zeige dich, Macklin!«, rief sie. Jetzt glaubte ich erstmals eine gewisse Unsicherheit in ihrer Stimme zu hören. Das Schiffsdeck war an den Seiten zu hoch, um hinaufzuklettern. Der einzige Zugang führte über die Treppe vorn in der Mitte, so dass ich keine Möglichkeit hatte, mich unbemerkt an Lesley anzuschleichen. Also würde ich wohl etwas richtig Dummes tun müssen.
Ich trat kühn mitten auf die Bühne und machte sofort den ersten Fehler: Ich blickte ins Publikum. Ich konnte zwar nicht weit über die im Bühnenrand eingelassenen Scheinwerfer hinaussehen, aber doch weit genug, um mir plötzlich darüber klar zu werden, dass mich eine riesige Menschenmenge aus der undurchdringlichen Dunkelheit heraus anstarrte. Ich stolperte über meine eigenen Füße und musste mich an einer Kulissenkanone abstützen.
»Was soll das?«, kreischte Lesley.
»Ich bin Jack Ketch«, sagte ich, aber viel zu leise.
»Gott bewahre mich vor Narren und Amateuren«, murmelte Lesley, dann kreischte sie wieder laut: »Was soll das?«
»Ich bin Jack Ketch«, wiederholte ich, und dieses Mal hörte ich meine eigene Stimme über das Publikum schallen. Ein schwaches Vestigium kam zurück, das aber nicht von den Zuschauern ausging, sondern von der Substanz des Gebäudes. Das Theater erinnerte sich an Jack Ketch, den Scharfrichter von König Charles II., einen höchst sturen Mann und extrem inkompetenten Vertreter seines Fachs. Ketch verfasste sogar einmal eine Streitschrift, um sich gegen diesbezügliche Vorwürfe zu verteidigen, in der er behauptete, der Verurteilte Lord Russell sei allein schuld an seiner desaströsen Hinrichtung gewesen, weil er nicht ordentlich stillgehalten habe, während Ketch die Axt niedersausen ließ. Noch hundert Jahre nach seinem Tod galt Ketch als Synonym für einen Henker, Mörder und den Teufel höchstpersönlich, und wenn es je einen Namen gegeben hat, mit dem man prächtig zaubern konnte, dann lautete er Jack Ketch. Was wiederum seine Rolle in der Komischen Tragödie von Punch und Judy erklärte – und warum er die beste Chance bot, so nahe an Lesley heranzukommen, dass ich die Spritze einsetzen konnte.
»Ich danke Euch sehr, Mister Ketch, aber ich fühle mich hier sehr wohl«, sagte Lesley.
Natürlich hatte ich mir nicht die Mühe gemacht, den Text auswendig zu lernen, aber ich wusste genug, um improvisieren zu können. »Ihr müsst herauskommen«, rief ich. »Kommt heraus und lasst Euch hängen.«
»Ihr wärt doch nicht so grausam?«, sagte Lesley.
Ich wusste, dass es in dieser Szene noch eine Menge Geplänkel gab, aber da ich mich nicht an den Text erinnern konnte, kürzte ich diesen Abschnitt ab. »Dann muss ich Euch holen«, verkündete ich und stieg die Treppe hinauf auf das Schiffsdeck. Es fiel mir schwer, Lesley in das zerstörte Gesicht zu blicken, aber ich durfte das Risiko eines Überraschungsangriffs nicht vernachlässigen. Ihr Punch-Gesicht verzog sich vor Wut, vermutlich, weil ich ein paar Zeilen des Textes einfach übersprungen hatte, aber immerhin spielte sie weiter mit – genau wie ich gehofft hatte. Wir kamen jetzt zu dem Teil, in dem Jack Ketch Mr. Punch ergreift und zur Galgenschlinge zerrt, wo dann der gerissene Gattinnenmörder seinen Henker Jack Ketch austrickst und ihn dazu bringt, den eigenen Kopf durch die Schlinge zu stecken und sich so selbst zu erhängen. Nein, nein, keine Sorge, heutzutage dient das nicht mehr als Rollenvorbild für die lieben Kleinen, die Szene wird in der Regel gestrichen.
Ich hielt die Spritze bereit.
Lesley krümmte sich zusammen, als ich näher kam. »Seid doch barmherzig!«, quäkte sie. »Ich werde es auch nie wieder tun!«
»Das steht fest«, sagte ich, aber bevor ich ihr die Spritze geben konnte, wirbelte sie plötzlich herum und stieß mir Nightingales Stock vors Gesicht. Meine Rücken- und Schultermuskeln verkrampften sich, und ich hatte Mühe, das Gleichgewicht zu behalten.
»Wisst Ihr, was das hier ist?«, kreischte Lesley und wedelte mit dem Stock vor mir herum.
Ich versuchte zu sagen, »Es ist ein Stock«, aber meine Kiefermuskeln waren ebenfalls starr geworden.
»Wie Prospero Buch und Stab besaß«, sagte sie, »so hat auch Euer Meister beides, aber ich benötige nur den Stab. In der Welt der Geister hat man im Umgang mit Magie ein gewisses je ne sais quois, aber was einem sans Körperlichkeit fehlt, ist jener Funke Vitalität, der unentbehrlich ist, soll das Verlangen gestillt werden.«
Was mir bestätigte, dass Henry Pyke keine eigene magische Kraft besaß, eine Erkenntnis, die ich sehr viel interessanter gefunden hätte, wäre ich nicht wie gelähmt und seiner Barmherzigkeit ausgeliefert gewesen.
»Dies ist die Quelle der Macht Eures Meisters«, sagte Lesley. »Und mit seiner Macht kann ich, nun ja, so ziemlich alles tun, wonach mir der Sinn steht.« Sie grinste, wobei ihre zerstörten Zähne sichtbar wurden. »Und Euer Text, Sir, lautet jetzt: ›Nun, Mister Punch, kein weit’res Zaudern mehr.‹«
»Nun, Mister Punch, kein weit’res Zaudern mehr«, sagte ich und deutete auf das Seil. »Steckt Euren Kopf durch diese Schlinge.« Das Unheimliche war, dass ich in diesem Augenblick den Bann, unter dem ich stand, so deutlich spürte wie eine Forma, eine Gestalt in meinem Kopf, die aber nicht aus meinem Kopf stammte.
»Da hindurch?«, fragte Lesley und zwinkerte dem Publikum zu. »Wozu denn?«
»Jawohl, da hindurch«, sagte ich. Und wieder spürte ich es, und dieses Mal war ich ganz sicher, dass die Idee der Gestalt zwar von außen kam, dass aber die tatsächliche Gestalt von meinem eigenen Denken geformt wurde. Es war ein bisschen wie Hypnose, eher eine Suggestion als ein Befehl.
»Wozu? Ich weiß nicht wie«, jammerte Lesley und nahm eine Pose tiefster Verzweiflung an.
»Es ist ganz leicht«, sagte ich und griff nach der Schlinge. Das Seil kratzte über meine Handfläche. »Ihr braucht nur den Kopf hier hindurchzustecken.«
Lesley streckte den Kopf vor, verfehlte die Schlinge völlig und fragte: »Wie denn – so?«
»Nein, nein«, sagte ich und deutete auf die Schlinge. »Hier durch!« Wenn es tatsächlich nur eine Suggestion war, überlegte ich, dann müsste ich in der Lage sein, sie einfach wegzudenken.
Lesley verfehlte die Schlinge mit theatralischem Getue ein weiteres Mal. »Also so?«, fragte sie.
Ich versuchte, die Gestalt aus meinem Denken zu verdrängen, hörte mich aber trotzdem sagen: »Nicht so, du Narr!«, wobei ich den Kopf schüttelte. Ich würde mir verdammt schnell etwas einfallen lassen müssen, weil nämlich die Rolle des Jack Ketch vorsah, dass der Dummkopf nicht mal zwei Zeilen später den eigenen Hals in die Schlinge steckte und sich selbst aufhängte, und mich gleich mit ihm.
»Passt nur auf, wen Ihr Narr nennt, und zeigt mir erst mal, dass Ihr es selbst tun könnt!«, quäkte Lesley und machte eine kurze Pause, damit das Publikum Zeit hatte, voller Vorfreude zu kichern. »Ihr müsst mir nur zeigen, wie es gemacht wird, dann tue ich es sofort selbst.«
Mein Körper nahm schon die Bewegung vorweg, mit der ich gleich meinen Kopf durch die Schlinge schieben würde. Im selben Moment kam mir der Gedanke, dass ich, wenn ich schon den Bann nicht abschütteln konnte, ihn vielleicht wenigstens so weit verändern könnte, dass er brach. Ich tat das so ähnlich, wie man eine Schallwelle maskiert – man erzeugt einen Gegenschall mit gegenläufiger Frequenz –, was ziemlich knifflig ist und gefühlsmäßig gar nicht überzeugend, aber es funktioniert. Ich konnte nur hoffen, dass es auch bei dem Bann in meinem Kopf funktionieren würde, weil ich gerade erst die Gestalt im Kopf zu formen begonnen hatte, als mein Mund schon sagte: »Gut, ich will’s dir zeigen.«
Meine Forma und der Bann trafen aufeinander wie zwei Zahnräder im Getriebe, die plötzlich gegeneinander geschaltet werden. Ich spürte tatsächlich, dass Bruchstücke meiner Forma durch mein Gehirn schossen und als schmerzhafte Querschläger von der Innenseite meines Hirns abprallten, aber das war vielleicht auch bloße Einbildung. Spielte ohnehin keine Rolle. Ich spürte, wie sich meine Muskeln entspannten, riss den Kopf von der Schlinge weg und schaute Lesley triumphierend an. »Oder vielleicht auch nicht.«
Ein gewaltiger Arm umklammerte meinen Brustkorb von hinten und eine riesige Hand packte meinen Hinterkopf und schob ihn rabiat durch die Schlinge. Ich roch Kamelhaar und Chanel-Aftershave – Seawoll musste sich unbemerkt an mich angeschlichen haben, während ich mir besonders clever vorkam.
»Oder vielleicht doch«, sagte Lesley.
Ich wehrte mich zappelnd. Obwohl es eine Menge großer Männer gibt, die überraschend schwach sind, gehörte Seawoll ganz bestimmt nicht dazu, deshalb rammte ich ihm die Spritze in die erreichbare Hand und gab ihm die volle Dosis. Leider war die volle Dosis für Lesley berechnet, die nur ungefähr halb so groß und schwer war wie Seawoll. Sein Druck wurde kein bisschen schwächer, bis Lesley schrie: »Hisst ihn hoch, Jungs!« und ich am Hals in die Höhe gezogen wurde.
Was mir das Leben rettete, war die schlichte Tatsache, dass es sich um eine Theatergalgenschlinge handelte, die man den Sicherheitsvorschriften entsprechend speziell so entwickelt hatte, dass der attraktive kroatische Bariton, dessen Hals von Rechts wegen jetzt eigentlich darin stecken müsste, nicht gehenkt wurde. Der Henkersknoten war nur Attrappe, denn statt der frei laufenden Schlinge verlief im Seil eine Metallverstärkung, die verhinderte, dass sich die Schlinge zuzog. Bestimmt gab es auch irgendwo eine Öse, an der die Halterung eines kunstvoll verborgenen Sicherheitsgurts eingehakt werden konnte, den der gut aussehende Bariton trug, wenn er zu seiner Abschiedsarie auftrat. Leider hatte ich keinen Sicherheitsgurt, deshalb henkte mich das verdammte Ding tatsächlich beinahe, bevor ich es schaffte, meinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen, wobei ich mir die Haut am Kinn aufschürfte. Irgendwie gelang es mir, meinen Ellbogen zur Unterstützung durch die Schlinge zu schieben, trotzdem schoss mir ein stechender Schmerz durchs Rückgrat.
Ich warf einen kurzen Blick nach unten und musste feststellen, dass ich gute fünf Meter über der Bühne hing. Unter diesen Umständen hatte ich nicht vor, die Schlinge in absehbarer Zeit loszulassen.
Unten hatte sich Lesley wieder an das Publikum gewandt. »So viel zum Schutzmann!«, rief sie. Hinter ihr ließ sich Seawoll schwer auf die Treppe fallen und kippte dann nach vorn wie ein erschöpfter Langstreckenläufer – das Etorphin-Hydrochlorid begann endlich zu wirken.
»Seht nur«, sagte Lesley, »ein Ordnungshüter in den letzten Zuckungen, der andere schläft ein, zweifellos hat er sich besinnungslos getrunken. Sollen wir aufrechte Engländer unser Vertrauen in Schweine setzen, die sich kaum von den Bösewichten unterscheiden, die sie doch angeblich jagen? Wie lange noch, meine Damen und Herren, liebe Jungen und Mädchen, wie lange noch seid ihr bereit, dies hinzunehmen? Wie kann es sein, dass ehrenwerte Männer ihre Steuern zahlen, während Ausländer nichts zahlen und alle Freiheiten beanspruchen, die sich der aufrechte Engländer hart erkämpfen musste?«
Mir fiel es immer schwerer, mich an das Seil zu klammern, aber die Alternative, einfach loszulassen, erschien mir nicht sehr attraktiv. Zu beiden Seiten der Bühne hingen Vorhänge, und ich fragte mich, ob ich mich weit genug hinüberschwingen könnte, um sie zu fassen. Ich packte die Schlinge mit beiden Händen und begann, durch Gewichtsverlagerung und Beinbewegungen hin und her zu schwingen.
»Denn wer wird stärker unterdrückt?«, fuhr Lesley fort. »Jene, die nur das wollen, was ihnen zusteht, nämlich das Recht auf den eigenen Vorteil, oder jene, die alles beanspruchen, Beihilfen, Wohngeld, Arbeitsunfähigkeitshilfen, und nichts dafür leisten?« In Geschichte hatte ich mich mal mit der Reform der Armengesetze befasst, daher wusste ich, dass Henry Pyke dieses Zeug entweder aus Lesleys Schulmädchenerinnerungen fischte oder während der letzten zweihundert Jahre täglich die Daily Mail gelesen hatte.
»Und sind sie dankbar?«, fragte Lesley. Das Publikum murmelte eine Antwort. »Natürlich sind sie nicht dankbar!«, rief Lesley. »Denn sie haben sich daran gewöhnt, diese Dinge als ihr gutes Recht anzusehen.«
Inzwischen stand oder vielmehr hing ich vor einem weiteren Problem: Ich schwang immer weiter über den Orchestergraben statt zur Seite der Bühne. Ich versuchte, den Schwung zu begradigen und zur Seite zu lenken, mit dem Ergebnis, dass eine achterförmige Schwingung daraus wurde. Immer noch fehlten mir mehrere Meter bis zur Gerüstplattform, deshalb setzte ich jetzt meinen gesamten Körper ein und benutzte die Beine als eine Art Schere, um den Abstand zu verringern.
Plötzlich brüllte die Menge auf. Eine Welle aus Frustration und Wut überrollte mich wie aufgestaute Flut aus einem berstenden Damm. Im entscheidenden Augenblick verlor ich die Konzentration und krachte gegen die Stoffbespannung an der Seitenbühne. Ich ließ los und krallte mich in den schweren Stoff, versuchte dabei so viel Stoff zwischen die Beine zu bekommen, dass ich nicht auf die Bühne hinunterkrachen würde.
Im selben Moment erloschen sämtliche Lichter. Sie brannten nicht Funken sprühend durch, sie flimmerten oder blitzten nicht auf, sie taten überhaupt nichts Theatralisches – sie gingen einfach aus. Irgendwo in der komplizierten Beleuchtungsanlage des Royal Opera House waren durch das Aufwallen starker Magie ein paar Mikroprozessoren zu Sand zerfallen, vermutete ich. Wenn man praktisch nur noch an den Fingernägeln hängt, ist die Richtung nach unten tendenziell immer die richtige, also ignorierte ich die Schmerzen in meinen Armen, so gut es ging, und machte mich daran, an der Stoffverkleidung hinunterzurutschen. Aus dem Dunkel hörte ich keinerlei Anzeichen von Panik im Publikum, was unter diesen Umständen unheimlicher war als das Gegenteil.
Ein weißer Lichtkranz erschien um Lesley wie von einem unsichtbaren Bühnenscheinwerfer. »Meine Damen und Herren, liebe Jungen und Mädchen«, rief sie. »Ich glaube, es ist Zeit nach draußen zu gehen und dort weiterzuspielen.«
Einer der Onkel meiner Mutter hatte mal Tickets für ein Match von Arsenal gegen die Spurs in Highbury bekommen und hatte mich mitgenommen, weil sein eigener Sohn keine Zeit hatte. Wir saßen zwischen den Leuten, die Abonnements für die ganze Saison hatten, also den Hardcore-Fußballfans, die wegen der Fußballspiele hingingen und nicht wegen der Prügeleien. Wenn man in einer solchen Menschenmenge sitzt, fühlt man sich, als würde man von einer Flut erfasst – man kann versuchen, sich dagegenzustemmen, wird aber doch unweigerlich mitgerissen. Fußballerisch gesehen war das Spiel ziemlich langweilig, und eigentlich sah alles nach einem Unentschieden aus, als sich Arsenal in der Verlängerung noch einmal richtig aufbäumte. Als die Spieler in den gegnerischen Strafraum stürmten, stockte – das würde ich beschwören – dem gesamten Stadion, sechzigtausend Menschen, der Atem. Und als der Arsenalstürmer den Ball mitten ins Netz setzte, brüllte ich zusammen mit dem gesamten Stadion aus Leibeskräften. Es war vollkommen impulsiv und unkontrolliert.
Genauso fühlte es sich jetzt an, als Henry Pyke das Publikum des Royal Opera House losschickte. Ich muss die letzten paar Meter hinuntergefallen sein, denn ich weiß nur, dass ich plötzlich auf der Bühne lag, dass ein heftiger Schmerz durch meinen Knöchel schoss und dass ich ein wahnsinniges Verlangen verspürte, jemandem die Fresse einzuschlagen. Ich kam auf die Füße und sah Lesley ins entstellte Gesicht.
Ich zuckte zurück. Aus dieser Nähe war der Anblick noch schlimmer. Mein Blick glitt immer wieder von dieser grotesken Karikatur eines Gesichts weg. Neben und hinter ihr standen sämtliche Hauptdarsteller, allesamt Männer, alle höchst angespannt und alle, von dem jungenhaften Bariton abgesehen, wirkten sehr viel rauer, als man von Leuten erwarten würde, die ihren Lebensunterhalt tagtäglich mit der Hochkultur verdienten.
»Alles okay mit dir?«, quäkte sie. »Du hast mir richtig Angst gemacht.«
»Du hast versucht, mich zu erhängen«, sagte ich.
»Peter«, sagte Henry Pyke, »ich wollte dich doch nicht töten. In den letzten Monaten habe ich dich immer weniger als Feind gesehen, eher als eine Art Pausenclown, einen etwas beschränkten Charakter, der für eine komische Ablenkung sorgt, während sich die richtigen Schauspieler umziehen.«
»Wie ich sehe, ist Charles Macklin nicht aufgetaucht«, sagte ich.
Punchs Nase zuckte. »Spielt keine Rolle. Dieser gichtige alte Bastard kann sich nicht ewig verstecken.«
»Und in der Zwischenzeit tun wir – was?«
»Wir spielen unsere Rolle weiter«, sagte Lesley. »Wir sind Mr. Punch, der unverwüstliche Geist des Aufruhrs und der Rebellion. Es liegt in unserer Natur, Probleme zu verursachen, genau wie es in deiner Natur liegt, zu versuchen, uns aufzuhalten und davon abzubringen.«
»Du bringst dabei Menschen um«, sagte ich.
»Ach ja, bedauerlicherweise«, sagte Lesley. »Nun, jede Kunst verlangt eben ihre Opfer. Und glaub mir, denn ich muss es wissen: Der Tod ist eher langweilig als tragisch.«
Mir wurde plötzlich klar, dass ich mich nicht mit einer vollständigen Persönlichkeit unterhielt. Ihr Akzent hüpfte zwischen den Epochen hin und her, in ihrer Motivation und ihrem Verhalten zeigten sich bizarre Kehrtwendungen. Das war nicht Henry Pyke, es war nicht einmal Mr. Punch, es war wie ein Flickenteppich, eine aus Bruchstücken von Erinnerungen zusammengeschusterte Persönlichkeit. Vielleicht waren alle Geister so, wie Muster verschiedener Erinnerungen, die im Gewebe der Stadt gespeichert waren, wo sich die älteren Schichten langsam abnutzten, während immer neue Generationen von Londonern ihre eigenen Lebensmuster darauf ablegten.
»Du hörst mir nicht zu«, quäkte Lesley. »Da nehme ich mir, obwohl ich sehr beschäftigt bin, die Zeit, mich vor dir zu brüsten, und du träumst vor dich hin!«
»Sagen Sie, Henry«, sagte ich, »wie hießen Ihre Eltern?«
»Na, Mister und Mistress Pyke natürlich.«
»Und ihre Vornamen?«
Lesley lachte. »Du versuchst mich zu foppen. Sie hießen natürlich Vater und Mutter.«
Ich hatte also recht – Henry Pyke, oder zumindest der Teil von ihm, der sich in Lesleys Kopf eingenistet hatte, war buchstäblich nicht ganz da.
»Dann erzählen Sie mir doch mal alles Gute, das Ihnen einfällt – über Ihre Mutter«, sagte ich.
Lesley legte den Kopf schief. »Du hältst mich wohl für einen Narren.« Sie gestikulierte zu den Sängern, die unseren Austausch regungslos verfolgten. »Weißt du, was die Times über diese Inszenierung schrieb?«
»Düster, trostlos, sinnlos«, antwortete ich und stand auf. Wenn Lesley einen Monolog halten wollte, konnte ich wenigstens die Gelegenheit nutzen, wieder auf die Beine zu kommen.
»Kommt der Sache ziemlich nahe«, sagte sie. »Der Opernkritiker der Times schrieb wörtlich, ›die Aufführung hat den Tiefgang einer TV-Seifenoper‹.«
»Ganz schön brutal«, sagte ich.
Ich hatte keine Betäubungsspritzen mehr, aber der Erste-Hilfe-Kasten lag noch in den Kulissen. Ein Schlag auf den Hinterkopf mit dem schweren Koffer würde Lesley wohl ausschalten. Aber dann – was?
Lesley legte den Kopf auf die andere Seite, ohne mich aus den Augen zu lassen. »Oh, seht doch, Jungs«, sagte sie zu den Sängern. »Das hier ist der Opernkritiker der Times.«
Ich überlegte flüchtig, ob ich ihnen erklären sollte, dass ich die Times nicht mal las, aber ich glaubte nicht, dass sie das interessiert hätte. Also rannte ich los zum nächsten Notausgang, aufgrund der Überlegung, dass dieser, per definitionem, der schnellste Weg nach draußen sein musste und, per Gesetz, immer unverschlossen. Außerdem hingen die Notausgangszeichen an einem separaten Stromkreis und stellten daher die einzige noch funktionierende Lichtquelle dar.
Ich holte einen Vorsprung von drei Metern vor den Sängern heraus, als ich durch den Flugzeughangar raste, der sich hinter der Hauptbühne erstreckte, und bremste auch nicht ab, als ich durch die erste Tür stürmte, was mir eine Rippenprellung, aber mindestens einen weiteren Meter Vorsprung einbrachte. Meine Augen hatten sich zwar inzwischen an die Dunkelheit angepasst, aber trotz des nächsten Notausgangszeichens direkt vor mir war es so dunkel, dass ich über einen schlampig geparkten Handwagen stürzte. Ich ging zu Boden und hielt mir das schmerzende Schienbein, während sich ein Teil meines Verstands mit der absurden Überlegung befasste, dass ein Hindernis dieser Art ganz bestimmt einen Verstoß gegen die Sicherheitsbestimmungen des Opernhauses darstellte.
Eine schemenhafte Gestalt stürmte durch den Korridor auf mich zu – einer der Sänger hatte mich fast eingeholt, aber es war zu dunkel, um festzustellen, welcher. Ich kickte ihm den Handwagen vor die Füße und er krachte direkt neben mir zu Boden. Zwar versuchte er sich wieder hochzurappeln, aber ich rammte ihm den Fuß in den Rücken, als ich selbst aufstand. Jetzt kamen auch seine Freunde durch die Tür gestürmt und ich brüllte laut, um ihre Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, während ich gleichzeitig weiterraste. Ihr Geschrei, als sie alle über ihren Kollegen stürzten, klang wie Musik in meinen Ohren.
Ich donnerte durch eine weitere Tür; dahinter brannte Licht, das vermutlich von einem separaten Stromkreis gespeist wurde. Die Tür führte in ein verwirrendes Labyrinth von schmalen Gängen, die alle gleich aussahen. Ich rannte durch einen Raum, der nur von Perücken bewohnt wurde, und gelangte in einen Korridor, dessen Boden mit ganzen Haufen von Ballettschuhen übersät war. Auf einem Schuh rutschte ich aus und prallte gegen eine Porenbetonmauer. Hinter mir verlangten die Hauptdarsteller lautstark nach meinem Blut, und die Tatsache, dass ihre Drohungen sehr wohltönend vorgetragen wurden, war mir überhaupt kein Trost.
Endlich kam ich an einen weiteren Notausgang und fand mich vor den Toiletten im Erdgeschoss neben der Garderobe wieder. Aus der Richtung des Hauptfoyers hörte ich Glas splittern, also wandte ich mich zu einem Seiteneingang beim Kartenschalter. Ich ignorierte die langsame, für Rollstühle geeignete Drehtür und lief direkt auf den Notausgang zu, aber was ich durch die Türglasscheiben sah, brachte mich schlagartig zum Stillstand.
Draußen in der Bow Street herrschte blanke Randale. Ein ausnehmend gut gekleideter Mob plünderte das Hotel gegenüber der Oper und aus einem davor geparkten lichterloh brennenden Auto stieg eine fettig-schwarze Rauchsäule empor. Farbe und Marke kamen mir bekannt vor: ein kanariengelbes Mini-Cabrio.