25
Raina verbrachte den Rest des Tages und die ganze Nacht in ihrem Zimmer. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, den Bewohnern der Burg gegenüberzutreten, die sie, wie Nigel ihr gesagt hatte, wahrscheinlich für den Tod des Lords verantwortlich machten. Sie weigerte sich, die Geborgenheit ihres Zimmers zu verlassen, selbst als sie hörte, dass die Halle unten für das erste Morgenmahl hergerichtet wurde. Kummer und Schuldgefühle hatten sie leer zurückgelassen, ohne Verlangen nach Essen oder irgendeinem anderen Trost. Sie wollte nur die Stille ihrer Kammer.
Sie saß auf dem Fenstersims und schaute hinaus in die Morgendämmerung, die rasch heraufzog und das Ende des dunkelsten Tages ihres Lebens ankündigte. Doch trotz aller Schmerzen und Qualen betete Raina um eine Möglichkeit, Gunnar wiederzusehen.
Sie trug seine Ringe noch immer. Das Gefühl, das diese kostbaren Geschenke, die geborgen zwischen ihren Brüsten und nahe an ihrem Herzen ruhten, bei ihr auslösten, erfüllte sie mit Kraft und Hoffnung. Es plagten sie zwar Kummer und Zweifel, aber ihr Vertrauen in Gunnar blieb. Es war kein Fehler gewesen, ihm zu vertrauen. Nicht nach allem, was sie füreinander geworden waren. Er liebte sie – sie fühlte es in ihrer Seele, glaubte es aus tiefstem Herzen. Sie musste es glauben, jetzt mehr denn je.
Ein lautes Klopfen an der Tür holte sie einen Moment, bevor Nigel die Kammer betrat, in die kalte Wirklichkeit zurück. Er war in ein Gewand aus feiner cremefarbener Seide gekleidet, das ganz neu aussah und eher zu einem High Lord als zu einem von dessen Fußsoldaten gepasst hätte. Sein flachsblondes Haar schimmerte fast so sehr wie seine Augen strahlten, sein schütterer kleiner Bart war sorgfältig gestutzt und zu einem harten Strich auf seinem Kinn gewachst. Falls Raina sich so fühlte, als wäre sie gestern gestorben, so wirkte Nigel wie neu geboren, hineingeworfen in die Rolle des Barons, in der er sich unverfroren wohlzufühlen schien.
»Mir wurde berichtet, du willst nicht zum Morgenmahl zu uns in die Halle kommen«, sagte er mit einem herrischen Stirnrunzeln.
Er roch nach einem schweren Parfüm und nach Wein, als er zu ihr ans Fenster kam. Etwas im Ausdruck seiner Augen ließ Raina die Haare im Nacken zu Berge stehen.
Ihr Bruder.
Wie lange wusste er es schon? Und warum hatte er dieses Wissen vor ihr verheimlicht? Wenn sie nach einem Zeichen für Doppelzüngigkeit suchte, dann, so schien es, brauchte sie sich nur in den Mauern Norworths umzusehen. In dieser Burg strotzte es nur so von Betrug und Verrat, und ihr ganzes Leben lang war sie sich dessen nicht bewusst gewesen. Sie war so naiv gewesen! Aber damit war jetzt Schluss.
Sie wandte sich auf dem breiten Sims ihm zu. »Nigel, ich will meinen Vater sehen.«
»Unmöglich«, lehnte er leise ab und stellte sich neben sie auf die Eichendielen, um auf den Burghof hinunterzuschauen.
»Ich muss ihn mit meinen eigenen Augen sehen.«
Er sah sie an, seine Miene wirkte wie versteinert. »Ich sagte Nein, Raina. Vertrau mir, du würdest ihn im Tod nicht sehen wollen.«
»Und wenn er nun noch lebt? Du hast ihn da draußen allein gelassen. Wie kannst du da sicher sein, dass er tot ist?«
»Ich bin sicher«, entgegnete er ungeduldig. »Er ist tot.«
»Aber dann, wenn du recht hast, verdient er zumindest ein angemessenes Begräbnis, hier zu Hause. Ich will, dass du einen Suchtrupp losschickst, um ihn herzubringen –«
»Sie werden ihn niemals finden.«
Seine knappe Antwort war so bestimmt, so kalt, dass Raina fast zitterte. »Dann musst du sie hinführen. Bitte, Nigel, ich flehe dich an. Tu es für mich … für unseren Vater.«
»Unser Vater«, flüsterte er ruhig. Seine Haltung verlor sichtlich an Arroganz, als er diese beiden Worte aussprach. Doch dann schnaubte er verächtlich. »Was hat er je für mich getan, außer mich zur Seite zu schieben, mich im Stich zu lassen und mir zu verweigern, was mir von Rechts wegen zusteht?«
Die Bitterkeit in seiner Stimme tat Raina weh. Die Liebe ihres Vaters war ihr nie verweigert worden – dafür aber die Wahrheit. »Wie lange weißt du es schon, Nigel?«
Er schürzte die Lippen und stieß einen schweren Seufzer aus. Er versuchte zu lachen, doch es klang schrecklich und freudlos. »Ich glaube, seit dem Moment, in dem die Schlampe, die mich geboren hat, zum ersten Mal gemerkt hat, dass sie mich mit diesem Wissen verletzen kann.«
»Wenn du es die ganze Zeit gewusst hast, warum hast du es vor mir verheimlicht?«
»Ich musste es ihm schwören, und er hat gedroht, er würde mir die Kehle durchschneiden, solltest du je erfahren, dass er mit einer dreckigen Bauernhure geschlafen hat.«
»Also hat mein Vat …« Raina schloss die Augen gegen den Schmerz dieses weiteren Verrats ihres Vaters. »Dann hat er also genau gewusst, dass du sein Sohn bist?«
»Er wusste es. Er wusste es, und hat mich dafür gehasst. Ich habe mich oft gefragt, warum er mich nicht einfach aus dem Weg geräumt hat. Natürlich war es eine sehr viel langsamere Folter, mich am Leben zu lassen – in seiner Burg. Jeden Tag habe ich das vor Augen gehabt, was unerreichbar für mich war, und jeden Tag habe ich ihn dafür ein Stück mehr gehasst.« Er sah Raina unvermittelt an, in seinen Augen spiegelte sich ein Gefühl wider, das sie nicht verstand. Seine Stimme klang leise und bedauernd. »Ich wollte auch dich hassen. Bei Gott, ich habe es versucht, aber du warst immer freundlich zu mir und hast mich deinen Freund genannt.« Er streckte die Hand aus und streichelte ihre Wange, dann ließ er den Handrücken sanft ihren Arm hinuntergleiten. »Ehe ich etwas dagegen tun konnte, hatte ich mich in dich verliebt.«
Zuerst glaubte Raina, nicht richtig gehört zu haben – hoffte, dass es so war. Aber er sah sie jetzt so seltsam an, so begehrlich, dass sie Widerwillen in sich aufsteigen fühlte. »Nein.« Sie trat ein paar Schritte von ihm zurück und fühlte ihre Haut dort brennen, wo er sie berührt hatte. »Nein, ich will das nicht hören.«
»Ich weiß, dass es ein ziemlicher Schock für dich sein muss. Aber ich hoffe, mit der Zeit wirst du lernen, mich auch zu lieben … als meine Frau.«
Sie hielt entsetzt die Luft an. »Das ist nicht dein Ernst«, rief sie und spürte, wie ihr Innerstes sich in aufkommender Panik krümmte. Sie stieß mit den Beinen an die Bettkante. »Wir können nicht heiraten, Nigel. Die Kirche würde es niemals gestatten. Um Himmels willen, wir sind Geschwister!«
Er zuckte die Schultern und kam auf sie zu. »Aye, aber die beiden einzigen Menschen, die diese unglückselige Tatsache kennen, sind genau hier, allein in diesem Raum. Ich habe keinen Grund, die Aufmerksamkeit auf unsere gemeinsame Herkunft zu lenken –«
»Ich aber ganz gewiss!« Sie machte noch ein paar Schritte rückwärts, am Bett entlang, traute sich nicht, ihm den Rücken zuzuwenden.
Er folgte ihr langsam, sein leises Lachen war tief und gemein. »Aber nein, das wirst du nicht.«
»Du kannst mich nicht zu einer Ehe zwingen, Nigel. Ich werde niemals zustimmen!«
»Oh, ich glaube schon, dass du das tun wirst«, entgegnete er mit einem selbstzufriedenen Lächeln. »Genau genommen wirst du schon morgen vor einem Priester stehen und –«
»Nein!«
»– und du wirst schwören, mich zu lieben und zu ehren und mir zu gehorchen bis zum Tod … oder ich werde dir den Kopf deines kostbaren Liebhabers zum Hochzeitsgeschenk machen.«
Raina erstarrte, ihr Herz schlug plötzlich rasend schnell. Gunnar. »Weißt du, wo er ist? Oh Gott, Nigel! Was hast du ihm angetan?« Sie packte ihn am Arm. »Bitte, ich flehe dich an, sag mir –«
»Ah, das gefällt mir, meine Liebe.« Er grinste selbstgefällig. »Ich weiß, wo er ist, und was deine Frage angeht, was ich ihm angetan habe – nun, das bleibt abzuwarten.«
»Du musst mich zu ihm bringen!«
»Vielleicht, wenn wir geheiratet haben.« Er strich ihr die Haare aus dem Gesicht. »Vielleicht aber auch nicht. Du musst mir vertrauen, Raina. Ich weiß, dass du das kannst, denn ihm hast du ja auch vertraut. Wenn ich dich in mein Bett nehme, wirst du vielleicht geneigter sein, mir dein Vertrauen zu schenken, hmm? Immerhin hat das ja wohl dazu geführt, dass du mit ihm zusammen deinen Vater verraten hast.«
»Ich bin keine Verräterin«, widersprach sie heftig. »Und Gunnar ist kein Verräter. Soweit ich das beurteilen kann, ist nur eine einzige Person des Verrats fähig, und das bist –«
»Hüte deine Zunge, meine Liebe«, tadelte er sie und legte den Finger auf ihre Lippen. »Du solltest lernen, mich bei guter Laune zu halten, denn ich kann dich ebenso leicht in die Verliese dieser Burg einsperren lassen wie …«
Er musste diesen Satz nicht zu Ende sprechen. Beide wussten um das Ungesagte. Gunnar war auf Norworth. Raina versuchte, sich ihre Erleichterung nicht anmerken zu lassen, aber innerlich sang sie vor Freude. Sie wollte lachen, weinen, schreien vor Erleichterung. Gunnar war hier, und sie wusste in ihrem Herzen, dass er lebte.
Und dass sie ihn finden würde.
»Ich werde dich genau im Auge behalten«, warnte Nigel, »und ich erwarte, dass du heute Abend deine Mahlzeit an meiner Seite einnimmst – still und willig –, wenn ich deine Entscheidung verkünde, mich zu heiraten.« Sie wollte protestieren, aber er hinderte sie mit einem Hochziehen seiner Augenbrauen daran. »Wenn du es nicht für mich tun willst, dann tu es für Rutledge. Er ist in einer ziemlich üblen Verfassung, und ich weiß nicht, wie viel von meinem Zorn der arme Kerl noch ertragen kann.«
Raina ertrug das Abendessen an Nigels Seite auf der Estrade, nahm ruhig die Beileidsbezeugungen der Burgbewohner zum Tod ihres Vaters entgegen und überstand das unterschwellige Raunen über Schande und Schuld. Nigel machte sich nicht einmal die Mühe, Kummer vorzutäuschen, und hatte zur Unterhaltung eine Gruppe von Gauklern engagiert. Er ließ zudem Fass um Fass Wein herbeischaffen, und es schien ihn nicht im Mindesten zu beeindrucken, dass nur er Vergnügen an dieser unangemessenen Fröhlichkeit fand.
Es schien ihm auch nichts auszumachen, wie überrascht alle reagierten, als er sich auf den Tisch des Lords stellte und verkündete, dass er Raina am nächsten Tag in der Frühe heiraten werde.
Raina, hin- und hergerissen zwischen Trauer und Zorn, fand es schwer, ihre Gefühle zu verbergen. Zwar wurden von den Männern und Frauen der Burg verhaltene Glückwünsche entboten, doch niemand wagte es, Fragen über den Zeitpunkt oder den Grund für diese Verbindung auszusprechen. Nigel erklärte hingegen, dass Norworth einen neuen Lord brauche und er sich hochgeehrt fühle, dass Raina ihn gebeten habe, ihnen allen als solcher zu dienen, an ihrer Seite und als ihr Gemahl.
Erst nachdem Nigel hinabgestiegen war, um den Tanz zu eröffnen, erlaubte Raina es sich, sich innerlich gehen zu lassen, und sie betete darum, dass es Gunnar gut ging. Sie zuckte erschrocken zusammen, als jemand ihr die Hand auf die Schulter legte.
»Oh! Evard«, sagte sie und atmete tief aus. »Ihr habt mich so erschreckt.«
Das faltige Gesicht des Soldaten wurde von tiefer Sorge gezeichnet. »Beunruhigt Euch etwas, Mylady? Ich meine, abgesehen von allem, was gestern … geschehen ist?«
»Nein«, log sie und sah ihn so strahlend an, wie sie konnte, während ihr Blick auf Nigel gerichtet war, der damit beschäftigt war, sich an den Miederbändern einer Gauklerin zu schaffen zu machen. »Mir geht es – mir wird es gut gehen, danke.«
Er schien nicht überzeugt zu sein, denn er beugte sich vor zu ihr und sagte leise: »Es steht mir nicht zu, es zu sagen, und ich bitte um Verzeihung, wenn ich Euch zu nahe trete, Mylady, aber Eure Gattenwahl stellt viele von uns vor die Frage, ob Ihr nicht zu überstürzt handelt und ob Euer Schmerz über den Verlust Eures Vaters daran schuld ist – und die ihn begleitenden Umstände.«
Sie sah dem alten Soldaten ins Gesicht und wusste, sie konnte offen zu ihm sein. »Was immer Nigel allen erzählt hat«, flüsterte sie, »ich weiß, dass Gunnar nichts mit dem zu tun hat, was sich gestern zugetragen hat. Außerdem bin ich sicher, dass ich den Beweis für Nigels Doppelzüngigkeit haben werde, wenn ich meinen Vater sehen könnte.«
Evards Lächeln zeigte Verstehen und Mitgefühl. »Ich kann einen Suchtrupp zusammenstellen, Mylady«, bot er an.
Hoffnung flackerte in Raina auf; sie war in dieser schlimmen Situation also doch nicht ganz auf sich allein gestellt. Doch die Chance, ihren Vater zu finden – was immer ihm widerfahren sein mochte – war gering. »Wynbrooke liegt viele Stunden nördlich von hier, und obwohl ich weiß, dass mein Vater zuvor noch nie so weit geritten ist, war er …« Sie konnte nicht sprechen. »Ich kann Euch nicht sicher sagen, welchen Weg sie genommen haben, aber –«
»Wir werden ihn finden«, versicherte Evard ihr. »Ich werde erst zurückkommen, wenn wir ihn gefunden haben.«
Sie drückte ihm die Hand, dankte ihm für seine Loyalität und schickte ihm ein schnelles Gebet hinterher, als er die Estrade verließ und zu einer Gruppe von Männern ging und ihnen winkte, sie mögen ihm hinausfolgen.
Einige Stunden später war Nigel des Feierns endlich müde. Er nahm Raina am Ellbogen und forderte sie auf, ihm nach oben zu ihrem Zimmer zu folgen. Vor der Tür blieb er stehen und versperrte ihr den Weg. »Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe bemerkt, dass eine Handvoll Männer nach dem Essen nicht mehr in der Halle war – Evard, John und Delwyn, um nur einige zu nennen. Ich hoffe nicht, dass du irgendeinen Plan ausheckst in der Hoffnung, unsere bevorstehende Heirat zu verhindern.«
»Ich habe sie ausgeschickt, meinen Vater zu finden. Da deine Interessen anderweitig besetzt zu sein schienen, habe ich mich selbst darum gekümmert, dass er nach Hause gebracht wird.«
Er lächelte dünn. »Ah, Raina. Immer die ergebene Tochter. Ich kann nur hoffen, dass du eine ebensolche Ehefrau sein wirst.«
»Das werde ich«, erwiderte sie gleichmütig, »allerdings nicht deine.«
»Dickköpfig bis zum Schluss, wie ich sehe. Nun, das macht jetzt keinen Unterschied mehr. Bereite dich darauf vor, meine Liebe, denn morgen früh werden du und ich heiraten und ab morgen Abend dann –«, er grinste anzüglich, als er die Tür aufstieß, um Raina an sich vorbei in ihr Zimmer gehen zu lassen, »werde ich meine Söhne tief und oft in deinen Schoß pflanzen.«
»Nur über meine Leiche«, erwiderte Raina, während sie ihr Zimmer betrat.
Nigels Reaktion war das Kichern eines Wahnwitzigen. »Nein«, erwiderte er, »über die Leiche unseres Vaters, so wie die Dinge liegen.« Er legte die Hand auf den Eisenriegel der Tür. »Angenehme Träume, liebe Schwester«, zischte er und schloss die Tür hinter sich.
Alle Bewohner des Turms waren schlafen gegangen, als Raina sich eine ganze Weile später aus ihrer Kammer stahl, um sich auf die Suche nach Gunnar zu machen. Bewaffnet mit einem kleinen Dolch und mit einer brennenden Wachskerze schlich sie die schmale Wendeltreppe hinunter, die zu den Verliesen des Turmes führte, dem Ort der Vergessenen.
Grünbraunes Moos wuchs dick auf den Wänden und bezeugte, dass das Gefängnis schon lange Zeit nicht mehr benutzt worden war. Die steilen Stufen waren rutschig vor Feuchtigkeit, und die Luft wurde kälter und modriger, je tiefer Raina hinabstieg.
Endlich erreichte sie die Tür zur Zelle für die Gefangenen. Ihr eisenbeschlagenes Holz war schwarz vor Alter und fühlte sich feucht an. Sie lauschte einen Augenblick auf Anzeichen von Leben hinter dieser Tür, hörte jedoch keinen Laut. Sie wappnete sich gegen das Schlimmste, als sie nach dem kalten Metallriegel griff, ihn anhob und dann die schwere Tür aus Eichenholz aufstieß. Die Lederangeln knarrten, als sie sich in die gähnende Schwärze öffnete.
Ein Ansturm feuchter, kalter Luft attackierte Rainas Sinne und trug den durchdringenden Geruch von Moder und Verfall heran. Das Licht der Kerze konnte den Raum nicht erhellen, was vielleicht auch ein Segen war. Wenn die Wände der Wendeltreppe sie hatten zusammenzucken lassen, dann waren die Wände der Zelle entschieden dazu angetan, ihr Übelkeit zu verursachen. Ihr Magen hob sich heftig, und Galle stieg ihr in die Kehle, als sie in das Dunkel spähte. Stinkender Schimmel und Flechten überzogen die Wände und bildeten auf dem Steinboden einen schmierigen Belag.
Raina schwenkte die Kerze hin und her und hoffte, eine größere Lichtquelle zu finden, als etwas an der Wand zu ihrer Rechten ihre Aufmerksamkeit erregte. Sie betete, es möge eine Fackel sein, während sie ihren Mut zusammennahm und in die Finsternis trat. Sie tastete sich Zoll für Zoll an der schleimigen Wand entlang auf den Wandhalter zu und hielt die Kerzenflamme an die Fackelfüllung aus Wolle.
Flammen flackerten zu einem dunstigen Orange auf und blendeten Raina, während der Kerker sich mit Schatten und Rauch füllte. Sie rieb sich die Augen, die sich langsam an das Licht gewöhnten. Als Raina sich schließlich von der Wand abwandte, blieb ihr ein entsetztes Aufkeuchen in der Kehle stecken.
Dort, in der Ecke, mit Eisenfesseln um Hand- und Fußgelenke, befand sich Gunnar. Er saß in sich zusammengesunken gegen die Wand gelehnt, denn die Länge der Ketten an seinen Armen ließ es nicht zu, dass er sich hinlegte. Der Kopf war ihm auf die Brust gesunken, seine Tunika war befleckt von getrocknetem Blut und Schmutz. Er regte sich nicht – atmete vielleicht nicht einmal, vermutete sie in panischem Entsetzen.
»Gunnar!« Sie lief zu ihm, die Knie brachen unter ihr weg, als sie sich auf den Boden neben ihn hockte. Ihre Hände schwebten über seinem Kopf und seinen Schultern, zu groß war Rainas Angst, ihn zu berühren und einen erkalteten Leib zu spüren. »Was hat er dir angetan? Geht es dir gut? Bitte wach auf!«
Endlich rührte er sich, reagierte mit einem heiseren Stöhnen auf ihre Stimme, und Raina umarmte ihn so zart wie sie konnte, grub die Finger in sein wirres, stumpfes Haar und küsste ihn auf die Stirn. Es schien eine schreckliche Anstrengung für ihn zu sein, einfach nur den Kopf zu heben, und als er es tat, zog sich Rainas Magen zu einem harten Klumpen zusammen. Sein Gesicht war geschwollen und blutig, die Unterlippe aufgeplatzt und verkrustet von getrocknetem Blut. Sein rechtes Auge war zugeschwollen; eine große Wunde bedeckte seine Wange.
»Oh, Gunnar, es tut mir so leid!«, rief sie tränenerstickt und strich ihm das Haar aus den Augen. »Hätte ich gewusst …«
Er stieß etwas Unverständliches hervor, die schweren Eisenketten klirrten und schrappten an der Wand entlang, als er versuchte, sich zu bewegen. »Ich –« Er hustete heftig, krümmte sich zusammen und stöhnte vor Schmerz. »Ich … ihn nicht getötet –«
»Schsch, Liebster, nicht sprechen«, beruhigte sie ihn und streichelte sein Gesicht und sein Haar, froh, ihn zu spüren. Sie war unendlich dankbar, dass sie ihn gefunden hatte. Auch wenn sie sich nicht von ihm lösen mochte – die Zeit drängte, wenn sie ihn aus seinem Gefängnis befreien wollte. Sie zog ihren Dolch hervor und begann, seine Fesseln damit zu bearbeiten. »Sei ganz still jetzt, ich werde dir hier heraushelfen.«
Aber er wollte nicht still sein. Seine Stimme klang angespannt und flach, weil er vermutlich mehrere gebrochene Rippen hatte. »Ich habe ihn nicht getötet, Raina. Auch wenn Nigel dir das Gegenteil gesagt hat, ich habe es nicht getan. Ich wäre eher gestorben, als dir einen solchen Schmerz zuzufügen.«
»Das weiß ich.« Sie erwiderte seinen Blick mit derselben Intensität, die sie in seinen Augen sah. »Ich habe nicht einen Moment lang daran gezweifelt.«
»Ach, Lämmchen, die Art, wie wir auseinandergegangen sind – es war falsch. Es hat mich umgebracht, dich so fortzuschicken. Ich wollte nur, dass du in Sicherheit bist.«
»Bei dir wäre ich es gewesen –«
»Nein«, sagte er leise. »Und du dürftest auch jetzt nicht bei mir sein. Es ist zu gefährlich. Was ist, wenn Nigel dich hier findet?«
»Das ist mir egal. Ich war nicht sicher, ob ich dich je wiedersehen würde. Ich werde dich jetzt nicht mehr allein lassen. Niemals mehr. Ich werde dich hier herausholen oder bei dem Versuch sterben.« Sie steckte die Spitze der Dolchklinge in die Eisenmanschette um sein rechtes Handgelenk und drehte sie, um das Schloss zu öffnen, aber die Spitze war zu groß und zu breit.
»Verdammt, es ist sinnlos! Du darfst dieses Risiko nicht eingehen!«
»Was ich nicht riskieren kann, ist, dich wieder zu verlieren. Außerdem wird Nigel mir nichts tun, solange ich von Nutzen für ihn bin.«
»Raina, sei nicht dumm. Mein Leben bedeutet mir nichts, aber ich kann den Gedanken nicht ertragen, dass dir Schaden zugefügt wird.« Mit unbeirrbarer Entschlossenheit arbeitete sie weiter an seinen Fesseln. »Du bist ein starrsinniges Frauenzimmer«, sagte er mit einem unterdrückten Lachen.
»Das merkst du erst jetzt?« Raina lächelte, obwohl sie innerlich zitterte. Ihr war bewusst geworden, dass ihre Versuche, seine Fesseln zu lösen, zum Scheitern verurteilt waren. Nach mehreren fruchtlosen Versuchen ergriff Gunnar ihre Hand.
Er schüttelte langsam den Kopf wie zur Bestätigung ihrer Niederlage. Dann schaute er auf ihre ineinander verschränkten Finger. »Du trägst meinen Ring nicht. Hat Wesley –«
»Doch, er hat ihn mir gegeben. Ich habe beide hier, dicht an meinem Herzen.« Sie hob die Hand und löste die Schnur, an der sie die kostbaren Erinnerungsstücke trug. »Sie sind sicher verwahrt, wie du es gewünscht hast.«
»Ich habe darauf vertraut, dass du weißt, was ich dir damit sagen wollte – dass ich zu dir zurückkommen werde, wenn ich kann.«
Als sie lachte, war es eine bittersüße Mischung aus Freude und Erleichterung. »Ich habe gehofft, dass sie das bedeuten. Aber ich wollte meinen erst an meiner Hand tragen, wenn auch du deinen tragen würdest. Gebt mir Eure Hand, Mylord.«
Raina steckte ihm den schweren Ring an den Finger, und Gunnar wiederholte diese Geste, indem er ihr den Ring seiner Mutter auf den vierten Finger der linken Hand steckte. »Ach Lämmchen«, sagte Gunnar rau an ihrer Wange. »Ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr. Ich war ein Narr, dich gehen zu lassen.«
»Nun, dann sorge dafür, dass du es nie wieder tust«, schalt Raina ihn sanft und küsste ihn.
Sie küssten sich leidenschaftlich und lange, und ihre Umarmung war heftig – sie wussten beide, dass dies das letzte Mal sein konnte. Und dennoch waren sie entschlossen, es als nur den sehr dunklen Anfang einer strahlenden und verheißungsvollen Zukunft zu sehen.
Und genau in diesem Augenblick vernahmen sie ein tiefes, grollendes Lachen. Es kam von der im Dunkeln liegenden Treppe.