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Das infernalische Brüllen, von dem Norworth Castle knapp eine Stunde nach diesem Ereignis erbebte, ließ jedem Menschen und jedem Tier vor Grauen die Haare zu Berge stehen. Die Mütter scharten ihre Kinder um sich und zogen sich in ihre Zimmer zurück, als man dem Baron mitgeteilt hatte, dass seine Tochter entführt worden war. Selbst die Burghunde verkrochen sich eilig in den Winkeln und Ecken der großen Halle. Der Kastellan, zu dessen Verantwortung es gehörte, in der Abwesenheit des Burgherrn für die Sicherheit der Festung und deren Bewohner zu sorgen, hatte seinem Lehnsherrn die schreckliche Neuigkeit soeben mitgeteilt. Jetzt stand er vor dem Baron, rang die Hände und war sich fast sicher, dass der Baron ihm den Hals umdrehen würde.

Aber so entsetzt und wütend Luther d’Bussy auch war er wusste, dass jetzt Besonnenheit an erster Stelle stand. Er würde den Kastellan wegen seiner Nachlässigkeit immer noch bestrafen können, wenn Raina wieder in Sicherheit war, und er tröstete sich damit, dass er genau das dann auch tun würde. Der lähmende erste Schock über ihre Entführung begann sich zu legen, jetzt war überlegtes Handeln das Wichtigste.

»Schafft ihn mir aus den Augen«, befahl der Baron mit knurrender Stimme. Mit einem Blick zitierte er den Hauptmann seiner Wache zu sich. »Ich will, dass Trupps jeden Winkel des Landes absuchen. Es ist mir egal, wie viele Männer dafür nötig sind und wie lange es dauert. Ich will, dass meine Tochter gefunden wird, und zwar sofort!«

Der Mann nahm seine Befehle entgegen und verließ die Halle. An dem großen Rundbogen des Eingangs begegnete er Nigel, der die Halle mit Eile und Entschlossenheit betrat, seinen schwarz gewordenen Helm unter dem Arm. Ruß und Schmutz bedeckten sein Gesicht und sein Haar, und in seinen Kleidern hing der beißende Geruch nach Rauch Zeichen der Zerstörung, die Rutledges Männer im Dorf angerichtet hatten.

»Das Feuer ist unter Kontrolle, Mylord«, meldete er, nachdem er vor den Baron getreten war. »Ich habe die Dorfbewohner angewiesen, von den Feldern zu retten, was sie können, aber ich fürchte, wir haben einen Großteil der Wintervorräte verloren. Die meisten Hütten werden neu aufgebaut werden müssen, und ich kann nur vermuten, was die Kosten des «

Baron d’Bussy hieß ihn mit einer Handbewegung zu schweigen. »Genug. Ich will jetzt nicht mit einer Aufzählung von derart belanglosen Verlusten behelligt werden.«

Nigel runzelte die Stirn. »Belanglose Verluste, Mylord? Vergebt mir, wenn ich das sage, aber was dieser Halunke uns bis jetzt gekostet hat, ist weit davon entfernt, belanglos «

»Er hat Raina entführt.«

Nigels Helm fiel zu Boden, der laute Aufprall unterstrich einen heftigen Fluch. »Nein! Verdammt, nein!« Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und begann, hin und her zu gehen, aufs Äußerste erregt und fast schäumend vor Wut. »Wenn dieser Bastard sie auch nur anrührt, dann möge mir Gott beistehen. Ich werde ihn mit meinen bloßen Händen in Stücke reißen!«

Als Nigel wieder vor ihn trat, sah der Baron dieselbe Wut in den Augen des jungen Mannes lodern, die er auch fühlte.

»Warum?«, rief Nigel. »Warum haben wir das nicht kommen sehen? Wo ist der verdammte Kastellan? Ich will seinen Kopf!«

Der Baron d’Bussy empfand in dieser Stunde der Ohnmacht und der Hilflosigkeit ein seltsames Gefühl von Verbundenheit mit Nigel. Er erhob sich von seinem Sitz, stieg die Stufen der Estrade hinunter und legte dem Ritter die Hand auf die Schulter. Die Blicke der beiden Männer trafen sich und hielten einander fest. »Ich werde sie finden, Mylord. Und das verspreche ich Euch als ein Mann, der Raina ebenso verehrt wie Ihr: Ich will, dass Rutledge mit dem Tod bezahlt für das, was er uns angetan hat uns beiden.«

Mit diesen Worten bückte sich Nigel, hob seinen Helm auf und verließ nach einer besonders tiefen Verbeugung die Halle.

»Gut gesprochen, Junge«, flüsterte der Baron, während Nigels schnelle Schritte den Gang hinunter verklangen.

Vielleicht habe ich Nigel in der Vergangenheit nicht genügend Anerkennung gezollt, dachte der Baron, als er dem jungen Mann nachsah. Seine Sorge um Rainas Sicherheit kam aus tiefstem Herzen, davon war der Baron überzeugt. Nigels Ergebenheit für Raina und die Sorge um ihr Wohlergehen und ihr Glück stammten offensichtlich aus der Zeit, als sie beide noch Kinder waren. Obwohl den alten Baron der Gedanke beunruhigt hatte, wohin die Ergebenheit Nigels eventuell führen konnte und das hatte er ihm auch gesagt , musste er zugeben, dass der Bursche seinen Schwur gehalten hatte, respektvoll Distanz zu Raina zu wahren. Jetzt konnte der Baron nur beten, dass Nigels glühende Ergebenheit ihn zu Raina führen würde, ehe ihr noch mehr Schaden durch Rutledge zugefügt wurde.

Der Baron nahm sich einen Krug mit Wein von einem der Tische und zog sich damit in die Abgeschiedenheit seines Zimmers zurück. Er hatte so vieles für selbstverständlich genommen, hatte niemals erwartet, auch nur ein Stück von dem zu verlieren, woran er seine Freude hatte. Er stand am Fenster seines Zimmers und blickte auf das hinunter, was von dem Dorf Norworth übrig geblieben war. Schwarzer Rauch stieg von den strohbedeckten Dächern einiger Hütten und Wirtschaftsgebäude auf, während die Hühner, die den brennenden Ställen entkommen waren, erschreckt den helfenden Menschen vor die Füße flatterten. Viele Schafe und Kühe lagen tot auf den verwüsteten Feldern, die überlebenden Tiere streunten orientierungslos umher.

Geistesabwesend setzte der Baron den Krug an die Lippen. Dann zögerte er, denn ihm schlug aus dem berauschenden Bouquet des Weins ein Leben voller Zorn und Leere entgegen. Der Alkohol hatte ihm seine Jugend geraubt; wollte er wirklich zulassen, dass er von Neuem Einlass in sein Leben fand?

Der Schmerz über das, was er verloren hatte, wallte so stark in ihm auf, dass er beinahe den Krug hätte fallen lassen. Aber es war das Versprechen des Rausches, das ihn damit lockte, die alten Erinnerungen verdrängen zu können. Er neigte den Krug und nahm einen tiefen Zug, schenkte dem Rinnsal, das ihm aus dem Mund lief und seine feine Tunika aus Seide befleckte, keine Beachtung.

Nach den langen Jahren seiner Abstinenz biss ihn der Wein in der Kehle, brannte sich einen glühenden Weg in seinen Magen und schenkte eine willkommene obgleich kurze Ablenkung von dem Schmerz, der sein Herz umfangen hielt, nein, seine ganze Seele. Die bittere Hitze bewirkte einen Hustenanfall, der sich aber bald wieder legte, der nachließ, um einer tröstenden, warmen Weichheit Platz zu machen, von der der alte Baron fast vergessen hatte, dass es sie gab.

Wie leicht wäre es, dachte er, seine Schuld mit Wein zu betäuben. Wie verlockend der Gedanke, in dem Nebel eines Rausches zu ertrinken und seiner Angst und seinen Schuldgefühlen zu entfliehen, wenn auch nur für wenige Stunden. Ein weiterer Schluck noch, und er wusste, er würde sich nicht mehr beherrschen können, und den ganzen Krug leeren. Noch ein Schluck und er wäre wieder verloren, vielleicht für immer. Aber was kümmerte ihn das!

Er hatte nichts mehr zu verlieren. Der Baron strich über den Krug, fast ehrfürchtig, dann lachte er laut.

Es war wahr; ohne Raina zählte nichts mehr. Er hatte sie in all diesen Jahren vor Schmerz und Schaden beschützt, hatte sie umsorgt seine Tochter, das einzig Gute, das er in seinem verderbten Leben zustande gebracht hatte. Es war ihm gelungen, den Schmutz seiner zurückliegenden Missetaten zu vergraben, hatte sich aus Liebe zu ihr des Trinkens enthalten aus Angst, sie zu verlieren, würde sie jemals erfahren, was für ein Mann ihr Vater in Wirklichkeit war. Und jetzt war sie fort.

Mürrisch starrte Luther d’Bussy in den Krug. Dann setzte er ihn an die Lippen und trank. Er wischte sich mit dem Unterarm über den Mund, hustete und keuchte unter der starken Wirkung des Weines.

Bittere Tränen füllten seine Augen, brannten wie Feuer, während der Schmerz in seiner Brust anschwoll und ein unerbittliches Schuldgefühl an seinem Herzen zu nagen begann. Ein Rumpeln begann in seinem Magen und kroch langsam höher, bis erst sein Kopf und dann der ganze Turm erfüllt waren von dem qualvollen Schluchzen eines Mannes, der alles verloren hatte.

Irgendwo in der Ferne heulte ein Wolf, als Rutledge sein Pferd durch das Gehölz trieb, dicht gefolgt von zwei Reitern. Raina fühlte jeden donnernden Schritt des Tieres, jede Bewegung erschütterte sie bis auf die Knochen so hart, dass sie fürchtete, aus dem Sattel geworfen zu werden. Aber jeder heftige Ruck wurde von Rutledges festem Halt um ihre Taille abgefangen, sein starker, muskulöser Arm hielt sie sicher an seine harte Brust gedrückt.

Raina machte sich die größten Vorwürfe, ihm so leicht in die Hände gefallen zu sein. Sie hätte eher sterben sollen, als sich von ihm entführen zu lassen. Die Tatsache, dass er sie nicht getötet hatte, machte sie nur noch wütender, denn das konnte nur bedeuten, dass der Mann vorhatte, sie auf irgendeine Weise zu benutzen, um an ihren Vater heranzukommen. Sie dachte an ihren armen Vater, der vor Schmerz über ihre Entführung außer sich sein würde. Sie wusste, dass er alles für ihre sichere Heimkehr tun würde.

Dieser Gedanke hätte sie eigentlich trösten sollen, tat es aber nicht. Rutledge baute vermutlich auf die Liebe ihres Vaters zu seiner Tochter und würde das zu seinem Vorteil nutzen. Trotz aller Anstrengungen, diesen Gedanken zu verdrängen, beschwor ihre Fantasie alle möglichen Bilder herauf, eines schrecklicher als das andere.

Sie musste tapfer sein, sich aus Rutledges eisernem Griff herauswinden, ungeachtet der möglichen Folgen. Oder vielmehr gerade in Anbetracht der Folgen. Die Hufe der Pferde würden sie sicherlich innerhalb kürzester Zeit zertrampeln. Wenn sie tot wäre, würde Rutledge kein Druckmittel zum Verhandeln haben, und ihr Vater bliebe verschont.

Raina schloss die Augen und konzentrierte sich auf das mitleidlose Donnern der Pferdehufe, bis dieses Geräusch alles war, was sie hören konnte. Der dröhnende Rhythmus füllte bald ihre Ohren und rief ihr zu, sich fallen zu lassen. Sie hielt den Atem an, betete um ein rasches Ende und machte sich bereit, aus dem Sattel zu springen.

In diesem Moment zog Rutledge die Zügel an, umfing Rainas Taille noch ein wenig fester und ließ sein Pferd langsamer gehen, als sie unter einem Blätterdach auf eine kleine Lichtung zuritten. Das vertraute Klirren von Rüstungen und das ungeduldige Schnauben der Pferde erregte Rainas Aufmerksamkeit.

Eine Gruppe von wenigstens einem Dutzend heruntergekommen aussehender Männer erwartete sie auf Pferden und bewaffnet für die Schlacht. Die meisten betrachteten Raina mit leichter Neugierde; einer der Männer murmelte so etwas wie »Kriegsbeute« und erntete die glucksende Zustimmung seiner Kameraden. Rutledges Arm drückte ihr in den Magen, aber er verschwendete keine Zeit mit Begrüßungen oder Erklärungen; stattdessen rief er einigen der Männer den Befehl zu, vorauszureiten, während er andere anwies zu bleiben, um die Soldaten des Barons zu beobachten, die sie verfolgen würden.

Gleich darauf ritten sie weiter, bahnten sich wieder einen Weg durch das Buschwerk und ritten in einem noch schnelleren Tempo als zuvor über das dunkle Land.

Raina hatte keine Ahnung, wie lange sie geritten waren oder welche Richtung sie eingeschlagen hatten. Obwohl sie erschöpft war, hielt sie sich wach für den Fall, dass sich eine Möglichkeit zur Flucht ergeben sollte. Ihre müden Gedanken schwankten zwischen der Angst um ihr Leben und der praktischen, doch unmöglichen Aufgabe, sich die Landschaft einzuprägen, durch die sie ritten.

Der Mond narrte sie, er spähte wie eine große silberne Kugel durch die Baumwipfel, warf Licht und Schatten in alle Richtungen, schuf Formen und Gestalten, wo es keine gab, und veränderte das, was übrig blieb. Bäume und Hügel, Felsen und Täler verschwammen zu einem formlosen Nichts mit jedem Schritt, den Rutledges Pferd machte. Das heftige Schlagen ihres Herzens hörte Raina inmitten der donnernden Hufe und nächtlichen Geräusche bald nicht mehr. Zweige brachen unter ihnen; Äste streckten sich in der Finsternis wie Spinnenfinger aus, um an ihrem Kleid zu ziehen und nach ihrem Haar zu greifen, wenn sie vorbeiritten. Nackte Angst und die Kühle der Nacht verursachten bei Raina eine Gänsehaut.

Plötzlich setzte das Pferd zu einem Sprung über einen Abgrund an. Einen Herzschlag lang schien die Luft um sie herum bis auf das unmissverständliche Rauschen von Wasser irgendwo in der Nähe stillzustehen. Raina hatte nicht bemerkt, dass sie den Boden verlassen hatten, bis das Tier mit einer markerschütternden Landung, die Raina die Luft aus den Lungen presste, wieder aufsetzte und sie bei diesem Aufprall einen ihrer Schuhe verlor.

Sie spürte, dass Rutledge seine muskulösen Schenkel gegen die Flanken des Pferdes drückte, als sie am rutschigen Ufer eines Flusses entlangritten. Und die ganze Zeit fühlte sie seinen kräftigen Herzschlag an ihrem Rücken, drang sein Atem schnell und heiß an ihr Ohr. Der anstrengende Ritt schien ihm keine Mühe zu machen, während Raina nur darum beten konnte, er möge zu Ende sein, bevor sie zu Tode geschüttelt war.

Obwohl sie sich vorstellte, dass ihm das Hinterteil genauso wehtun musste wie ihr, ließ er das Pferd erst dann in einen langsamen Schritt fallen, als die rosigen Farben der Morgendämmerung durch die Tannen zu sickern begannen. Schließlich brachte er es zum Stehen. Schaumiger Schweiß bedeckte Nacken und Schultern des Tieres; seine Flanken hoben sich bei jedem angestrengten Atemzug. Der Sattel knarrte, als Rutledge sich über Rainas Rücken beugte und abstieg, dann zog er sie in seine Arme und stellte sie auf den Boden.

Raina hatte ihre Beine so lange nicht bewegt, dass sie sie jetzt kaum noch fühlte. Ihre Knöchel begannen sofort, auf höchst seltsame Weise zu prickeln und ein Zittern in den Knien ließ sie wanken. Zu ihrer Bestürzung und ihrer Empörung streckte Rutledge die Hand aus, um sie zu stützen, seine großen Hände umfassten ihre Oberarme, als wären sie dünn wie Zweige.

Dann ließ er sie los und zog einen kleinen Dolch aus seinem Wehrgehenk.

Rainas Schrei wurde durch den Knebel nur zu einem gedämpften Stöhnen, als sie zurücksprang und hinfiel. Ihr Rock bauschte sich bis hoch über ihre Knie, als sie auf dem Boden aufschlug, aber sie konnte nichts tun, um ihre nackten Beine zu bedecken. Zudem war ihre Aufmerksamkeit nur auf die Waffe gerichtet, die Rutledge in der Hand hielt.

Er war ihren Blicken gefolgt, dann lachte er leise. »Glaubt Ihr, ich würde euch den ganzen Weg hierher bringen, um Euch auf dieser Lichtung die Kehle durchzuschneiden?« Seine Miene wurde ernst. »Haltet still, Mädchen.« Er streckte ihr die Hand hin. »Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit, Mylady. Wollt Ihr Eure Fesseln loswerden oder nicht?«

Zögernd und halb erwartend, dass er ihr die Hände abschneiden wollte, streckte Raina sie ihm hin und wandte das Gesicht ab, damit sie nicht dabei zusehen musste. Mit einer geschickten Aufwärtsbewegung seiner Klinge durchtrennte Rutledge den Leinenstreifen, der schlaff auf den Waldboden fiel. Sofort schoss das Blut in ihre Hände und verursachte einen dumpfen, pochenden Schmerz.

»Solange Ihr mir gehorcht, habt Ihr nichts von mir zu befürchten«, sagte er und beugte sich vor zu ihren Füßen.

Sein Versprechen ähnelt mehr einer Drohung, dachte Raina, so wie es gesagt worden war: mit zusammengekniffenen Augen und einem Messer, das auf ihr Gesicht gerichtet war.

Rainas Augen folgten argwöhnisch der Klinge, als Rutledge seine große Hand um ihre Fußgelenke schloss und die Fessel durchtrennte. Obwohl sie nun von ihr befreit war, verweilte seine bemerkenswert warme und beunruhigende Hand auf ihrem Bein, bis er ihr ins Gesicht sah. Und bemerkte, dass sie ihn mit großen Augen anstarrte. Offensichtlich unfähig, seinen Abscheu für sie zu verbergen, ließ er sie mit einem finsteren Stirnrunzeln los und zog ihr dann mit einer beinahe hastigen Bewegung den Rock über die Knie, um ihre Beine zu verhüllen.

Er stand auf und streckte ihr mit einem Ausdruck von Ungeduld die Hand entgegen. Raina nahm an, und er half ihr auf, hielt sie so lange fest, bis sie das Gleichgewicht gefunden hatte. Ihre Hände konnten kaum seine Unterarme umfassen, und als ihre Augen den seinen begegneten, sah sie in ihnen einen frevlerischen Glanz wie bei einem hungrigen Wolf. Sofort zog sie sich aus seiner sie seltsam erregenden Umarmung zurück, ballte die Fäuste in den Falten ihres Rockes und fragte sich, wie weit sie zu Fuß wohl kommen würde.

»Denkt nicht einmal daran, zu fliehen, Mylady«, sagte er, als könnte er ihre Gedanken lesen. »Ihr würdet nicht weit kommen. Und wenn nicht ich es bin, der Euch findet, so gibt es viele andere, die in diesen Wäldern unterwegs sind. Und diese anderen würden sich für Euer Wohlergehen als weitaus abträglicher erweisen.«

Mit diesen Worten griff er an ihren Hinterkopf und löste den Knoten ihres Knebels. Ehe Raina wusste, wie ihr geschah, wurde ihr Gesicht an seine Brust gepresst, und ihre Nase füllte sich mit seinem Duft. Es war ein sinnlicher Moschusduft, vermischt mit dem scharfen Geruch seines Kettenhemdes und dem leichten Geruch nach Leder, der sich unauslöschlich in ihr Bewusstsein prägte und der sie für immer an ihn erinnern würde.

Raina bewegte ihr Kinn und rieb sich die wunden, rauen Lippen, während Rutledge seinen Dolch in die Scheide zurücksteckte. »W-wohin bringt Ihr mich?«, krächzte sie mit trockener Kehle.

»Das hat Euch nicht zu interessieren. Aber Ihr habt mein Wort: Solange Ihr mir gehorcht, wird Euch kein Schaden zugefügt werden.«

»Euer Edelmut ist wirklich erstaunlich«, fauchte sie, »ebenso wie Eure Arroganz, wenn Ihr wahrhaftig von mir erwartet, dass ich Euren Befehlen gehorche.«

»Tatsächlich? Hätte ich die Zeit, Mylady, dann würde ich Euch zeigen, was sich hinter meiner Arroganz verbirgt. Aber so, wie die Dinge liegen, gibt es wichtigere Dinge, um die ich mich kümmern muss.«

Ohne eine weitere Erklärung streckte er die Hand aus und packte sie am Handgelenk, um sie mit sich zu ziehen, aber Raina stemmte die Fersen in den Boden und weigerte sich mitzugehen.

Rutledge wandte sich zu ihr um, unverhohlene Fassungslosigkeit huschte über sein Gesicht. Er lächelte gequält und ruckte an ihrem Arm. Sie taumelte, rührte sich aber nicht von der Stelle. Sie reckte das Kinn.

»Eigensinniges Mädchen«, brummte er, als er zu ihr ging, sie hochhob und wie einen Getreidesack über die Schulter warf. Das Johlen und der Beifall von Rutledges Männern brandeten in dem Augenblick auf, in dem ihre Füße den Boden verließen.

»Zeigt ihr, wer der Herr ist!«, rief einer der Männer.

»Wie’s scheint, muss das Frauenzimmer erst mal Eure Lanze zu schmecken bekommen, Mylord!«

Raina protestierte lautstark, trat um sich und schlug mit den Fäusten auf seinen Rücken ein, aber falls er ihre Schläge überhaupt spürte, so beachtete er sie doch nicht. Er entfernte sich aus dem Kreis der johlenden Männer und setzte Raina auf einen Flecken Moos unter einer riesigen Eiche ab. Er grinste auf sie hinunter, während er seinen Umhang öffnete.

»W-was tut Ihr da?«, keuchte sie.

»Ihr müsst keine Angst haben, Mylady, ich habe nicht die Absicht, Euch gleich hier zu nehmen. Wir machen nur Rast, um den Pferden eine Pause zu gönnen.« Er ließ den Umhang auf ihren Schoß fallen. »Schlaft, wenn Ihr wollt. Wir haben noch einen langen Weg vor uns, und Ihr seht jetzt schon erschöpft aus.«

Raina stieß die wollene Wärme energisch von sich. Sie wollte sich lieber zu Tode frieren, als eine solch fürsorgliche Geste anzunehmen. Außerdem war sie höchstwahrscheinlich nur ein schlecht verhüllter Versuch, ihre Wachsamkeit einzulullen, damit er seine Pläne mit seinen Leuten besprechen konnte, ohne dass sie sie erfuhr. Nein, sie weigerte sich, auch nur an Schlaf zu denken, ganz egal, wie groß die Versuchung auch war, für eine Weile auszuruhen. Niemals würde sie ihm den Rücken zukehren oder ihre Augen schließen, wenn sie ihn in der Nähe wusste. Sie ahnte, dass ihr Blick ihm verriet, was sie dachte.

Rutledge zuckte die Schultern. »Wie Ihr wollt«, brummte er und wandte sich ab, um sein Pferd an einen Baum in der Nähe der anderen Pferde anzubinden.

»Widerwärtiger Rohling!«, rief Raina ihm nach. »Ihr seid tot! Hört Ihr mich? Wenn mein Vater Euch erst aufgespürt hat und das wird er, glaubt mir , seid Ihr tot!«

Sie hörte sein amüsiertes Lachen, als er davonging. Und sie glaubte ihn sagen zu hören, dass er schon tot sei.