15
Wenn es seine Absicht gewesen war, sie zu verletzen, dann war ihm das auch gelungen. Als habe man ihr einen Schlag versetzt, sank Raina auf die Knie. So schmerzlich es gewesen war, aber sie hatte vermutlich eine Erinnerung daran gebraucht, was sie an diesen Ort gebracht hatte, in seine Arme.
Ihr Vater … seine angeblichen Verbrechen.
Obwohl Raina verzweifelt wünschte, Gunnars Behauptungen anfechten zu können, wusste sie jetzt, dass er kein Mann war, der leichtfertig jemanden anklagte. Wer immer auch für die schrecklichen Narben verantwortlich war, die Gunnars Rücken zerstört hatten, es war die schlimmste Art von Ungeheuer. Herzlos, gewissenlos. Sie verstand jetzt, warum Gunnar mit einer solchen Heftigkeit hasste, denn sie fühlte ihre eigene Wut bei dem Gedanken an das brennen, was er hatte erleiden müssen. Und seine Familie verloren zu haben … so allein zu sein.
Aber ihr Vater?
Was Gunnar gesagt hatte, konnte nicht die Wahrheit sein. Es konnte nicht sein! Die Verwicklung ihres Vaters in etwas derart Verabscheuungswürdiges einzugestehen würde bedeuten, zugeben zu müssen, dass ihr ganzes Leben auf Lüge und Verrat aufgebaut war. Es würde bedeuten, dass ihr Vater – der sanfte, liebevolle Mann, auf dessen Schoß sie als kleines Mädchen gesessen hatte, der die Wunden ihrer Kindheit durch Küsse geheilt und ihr in all den Nächten, in denen sie um den Verlust ihrer Mutter geweint hatte, die Tränen getrocknet hatte – in Wirklichkeit ein Fremder war. Ein abscheulicher Lügner. Und das konnte sie nicht glauben, wie sehr der Zweifel auch an ihr nagte.
Außerdem war Gunnar zur Zeit der Belagerung noch sehr jung gewesen – was hatte er gesagt, wann es gewesen war? Vor ungefähr dreizehn Jahren? Vielleicht hatte seine Sicht als Kind die Erinnerung verzerrt. Ja, so musste es gewesen sein! Und auch wenn ihr Vater bisher nicht bereit gewesen war, mit ihr über seine Verwicklung oder sogar sein Wissen über das Verbrechen zu reden, vielleicht konnte er alles erklären, wenn er genug Zeit gehabt hatte, darüber nachzudenken.
Wenn sie doch Gunnar nur davon überzeugen könnte, dass er ihrem Vater eine Chance geben musste, angehört zu werden.
Gunnar vermied es für den Rest des Tages, Raina zu begegnen, und ging dabei sogar so weit, trotz des drohenden Regens mit Alaric und seinen Männern auf die Jagd zu gehen. Und das nur, um für einige Stunden weit weg von der Burg zu sein. Narr, der er war, glaubte er, dass die Zeit der Abwesenheit seine Gedanken davon abhalten würde, zu Raina zu wandern und sie in seinen Armen zu halten.
Aber er sah ihr Gesicht bei jeder Wegbiegung vor sich, fühlte ihre Zartheit in der leichten Sommerbrise, roch ihren Duft in dem Geruch der Heide, der über den Hügeln lag. Der Klang seines Namens auf ihren Lippen hallte in seinem Kopf wider, ließ seine Lenden schon bei dem Gedanken daran erbeben, sie ihn wieder sagen zu hören, mit ihrer samtweichen Stimme, die heiser vor Leidenschaft war. Raina war unter seiner Haut und in seinem Blut – er konnte es nicht leugnen.
Mehr als einmal hatte er nicht gehört, dass einer seiner Männer ihn angesprochen hatte, und sie hatten ihre Fragen wiederholen müssen. Mehr als einmal traf sein Pfeil nicht das Ziel, und er hatte sich die Gelegenheit entgehen lassen müssen, leichte Beute zu machen. Gunnar war mit seinen Gedanken woanders, so wie schon in den wenigen vergangenen Tagen, und schließlich überließ er das Jagen seinen Männern und zügelte sein Pferd.
Er griff in die kleine Tasche, die er an seinem Schwertgürtel trug, und nahm den Ring heraus, den er Raina am ersten Abend auf der Burg abgenommen hatte. So zierlich und doch so stark. Schön und wahrhaftig. Wie sie …
Seine Mutter.
In jeder Erinnerung Gunnars an seine Mutter trug sie diesen Ring. Sie hatte ihm oft die Geschichte erzählt, wie sie in seinen Besitz gelangt war und wie viel er ihr bedeutete. Sein Vater hatte ihn ihr als Unterpfand seiner Zuneigung geschenkt, ehe er in den Krieg gezogen war. Es war ein Versprechen, dass er ihre Liebe mit sich nehmen würde an jedem Tag, dass er zurückkehren würde, um sein Leben seiner Liebe zu ihr und ihrem gemeinsamen Sohn zu widmen. Und genau das hatte er getan, hatte sie dem kleinen Gunnar mit einem wehmütigen Lächeln erzählt.
Was würde er dafür geben, noch einmal in ihr sanftes Antlitz schauen zu können!
Er ballte die Faust um den Ring und drückte die kostbare Erinnerung an sein Herz. Luther d’Bussy hatte den Ring an jenem Tag von ihrer leblosen Hand gezogen und dann die Unverfrorenheit besessen, ihn seiner Tochter zu schenken. Er hatte das Symbol des Guten und der Ehre geraubt und es mit einem Erbe aus Verrat und Betrug besudelt. Nicht, dass Raina für diese Tat verantwortlich gemacht werden konnte; sie trug den Ring mit demselben Stolz, mit dem seine Mutter ihn getragen hatte. Sie schätzte die Bedeutung, die er für sie hatte, höher als seinen Wert.
Gunnar hatte barsch reagiert, als er den Ring nach so vielen Jahren wiedergesehen hatte. Ohne Erklärung, ohne Entschuldigung hatte er ihn Raina weggenommen. Genau genommen war er kaum fähig gewesen zu denken, ganz zu schweigen davon, etwas zu sagen, als er begriffen hatte, dass er den Ring endlich zurückbekommen hatte. Seit so langer Zeit schon hatte er dessen Gegenstück verflucht und gepriesen, den Ring, den seine Mutter für seinen Vater hatte anfertigen lassen. Den Ring, den Merrick ihm vor einigen Tagen zurückgegeben hatte.
Diesen Ring zu tragen, würde Gunnar sich erst an dem Tag gestatten, an dem der Mord an seinen Eltern gesühnt war.
Dass Raina dadurch ihren Vater verlor, den sie offensichtlich so sehr liebte, war eine unglückliche Fügung. Es schmerzte ihn, wenn er daran dachte, dass sie die gleiche Qual empfinden würde wie er, als er seine Familie verloren hatte. Sie würde ihn dafür hassen, und das mit Recht.
Aber wie Raina sich seinetwegen fühlte, durfte keine Auswirkung auf sein Handeln haben. Es hatte ihn vielleicht veranlasst, die Halle der Burg herzurichten und ihre Tugend zu respektieren, aber dies hier war etwas anderes. Hier ging es um die Begleichung einer Schuld, die schon viel zu lange unbeglichen war, und er würde sich nicht beirren lassen, sie einzufordern … am wenigsten durch seine Gefühle. Dennoch hatte Raina das Recht auf eine Erklärung, eine Entschuldigung.
Lautes Donnergrollen lenkte Gunnars Aufmerksamkeit auf den fast schwarzen Himmel. Durch den Baldachin der Baumkronen fielen schwere Regentropfen auf sein Gesicht, während dicke Wolken herantrieben. Er legte den Ring zu dem anderen in den kleinen Beutel an seinem Schwertgurt und stellte sich in den Steigbügeln auf. Er kniff die Augen zusammen, als er durch das Dickicht nach seinen Männern spähte. In der Ferne hörte er plötzlich Alarics Triumphgeheul die Luft zerreißen und wandte sich dieser Richtung zu.
Die Männer waren dabei, das Unterholz mit ihren Schwertern zu durchkämmen, und keiner von ihnen sah übermäßig begeistert aus.
»Du hast ihn verfehlt, Bursche«, murrte Cedric.
»Nein!«, protestierte Alaric. »Hast du es nicht quieken gehört?«
»Das einzige Quieken, das ich gehört habe, kam von dir«, knurrte Burc und hieb mit einem Schwertstreich die Blüten einer Pflanze ab. »Bestenfalls hast du vielleicht den Arsch des Keilers getroffen.«
Gunnar ritt zu seinen Männern und zog die Zügel an. »Ihr könnt die Jagd auch ohne mich zu Ende bringen«, sagte er. »Ich werde zum Turm zurückreiten.«
»Aye. Ich komme mit Euch.« Wesley, der Bogenschütze, befestigte seinen Bogen am Sattel. »Es fängt an zu regnen, und ich habe keine Lust, bis auf die Knochen nass zu werden, nur um einem eingebildeten Keiler hinterherzujagen.«
»Ich auch nicht«, stimmte Burc ihm zu.
Die Mehrheit der Männer war ebenfalls dieser Meinung, und sie bereiteten den Abbruch der Jagd vor.
»Aber ich habe wirklich getroffen«, beharrte Alaric, »und ich werde nicht ohne den Keiler nach Hause kommen.« Er sah die Ritter an. »Wer ist bereit, mit mir zu wetten, dass ich mich nicht irre? Sicherlich gibt es jemanden unter euch, der keine Angst vor ein paar Regentropfen hat?«
Ein beleidigtes Gemurmel ging durch die Schar, und Gunnar musste grinsen. Auch wenn sein Squire sein Ziel mit Bogen und Pfeil nicht getroffen haben mochte, so wusste der Junge doch genau, wie er mit seinem Mutterwitz weiterkam.
Alaric stieg auf sein Pferd, um sich auf die Suche nach dem Wildschwein zu machen. »Gott weiß, dass den meisten von euch ein bisschen Wasser auf dem Arsch nicht schaden könnte.«
»Tatsächlich?«, sagte Cedric und nahm unabsichtlich Alarics Herausforderung an. »Ich für meinen Teil würde wirklich sehr gern dein Gesicht sehen, wenn du feststellst, dass dein Keiler nichts ist als ein Häschen, oder vielleicht sogar nur eine mickrige Ratte, aufgespießt von deinem Pfeil.«
Ein anderer Mann stimmte in Cedrics Lachen ein und erklärte, auch er würde gern Zeuge der Blamage des Jungen sein.
Mit einem wissenden Grinsen in Alarics Richtung und einem leichten Kopfschütteln wendete Gunnar sein Pferd und ritt mit Burc und einigen anderen Männern zurück zur Burg.
Das schlechte Wetter zog rasch herauf und brachte einen ungewohnt kalten Wind mit sich. Regen schlug in das offene Fenster von Gunnars Schlafgemach und bespritzte das Sims und den Boden darunter, ehe Raina hineilen und die Läden schließen konnte. Sie zitterte vor Kälte und wärmte sich vor dem Kamin die Hände, als die Tür knarrend geöffnet wurde.
Gunnar trat leise ein, seine Haare und sein Umhang waren nass vom Regen. »Ist dir kalt?«, fragte er. Als sie leicht nickte, legte er den Umhang ab und warf ihn auf das Bett, dann holte er ein Holzscheit von dem Stapel neben dem Kamin und legte ihn auf den Feuerrost.
Dunkles, getrocknetes Blut hatte Flecken auf seinem Ärmel hinterlassen, wo der Schnitt in den Arm durchgeblutet hatte, doch er beachtete die Verletzung überhaupt nicht. Er schien jedes ihm widerfahrende Missgeschick im Handumdrehen zu bewältigen; kein Schmerz schien bedeutend genug, ihn innehalten zu lassen. Raina fragte sich, wie es sein musste, all diesen Schmerz in sich verschlossen zu halten. »Wie geht es deinem Arm?«, fragte sie leise.
Er wandte sich um und sah sie über die Schulter an, als sei er überrascht, ihre Stimme zu hören. Er zuckte mit den Schultern. »Ganz gut, dank deiner hervorragenden Nähkunst.«
Der Raum war bis auf den jetzt aufflammenden Feuerschein dunkel. Er tanzte in Gunnars Augen, und die Schatten, die er warf, verliehen seinen eindrucksvollen Gesichtszügen ein fast mystisches Aussehen. Seltsamerweise konnte Raina in diesem Moment den Jungen sehen, der Gunnar einst gewesen sein musste, denn in seinen unergründlichen Augen schien sich die Leere des Alleinseins widerzuspiegeln, eines Lebens ohne Liebe. Sie sehnte sich danach, ihre Hand an seine Wange zu legen und die kantige Fläche seines Gesichts zu fühlen, die rauen Bartstoppeln, die das Kinn des Mannes überzogen, zu dem jener verletzte Junge geworden war.
Er räusperte sich. »Wegen heute Morgen«, sagte er unerwartet, »ich … es tut mir leid.«
Raina schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen.«
»Doch, den gibt es.« Er nahm ihre Hand und führte Raina zu seinem Bett.
Raina setzte sich neben ihn, verblüfft, dass er so sanft mit ihr umging, und darüber, wie behutsam er mit dem Finger über ihren Handrücken fuhr. Sie hielt den Atem an.
Als er weitersprach, sah er ihr dabei in die Augen. »Ich möchte mich bei dir für vieles entschuldigen, nicht nur für die Art, wie ich dich behandelt habe, seit du hier bist.«
Raina brauchte keine Entschuldigung; sie verstand ihn auch so. Aber da war etwas, das sie einfach wissen musste. »Gunnar, diese Narben –«
Er tat ihre Besorgnis mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. »Sie sind hässlich, und bei ihrem Anblick hat sich dir ohne Zweifel der Magen umgedreht.« Er lachte leise, aber es klang gezwungen. »Sie sind unwichtig.«
»Aber du hast gesagt, dass mein Vater dafür verantwortlich ist … Gunnar, du musst dich irren.«
Er stand abrupt auf und entfernte sich ein paar Schritte von ihr. Als er sprach, klang seine Stimme so kalt und hart wie die Schneide einer Klinge. »Es gibt keinen Irrtum. Es mag nicht durch seine Hand geschehen sein, aber es geschah auf seinen Befehl.«
»Es ist mir unmöglich zu glauben, dass –«
»Du nennst mich also einen Lügner?«
»Ich bezweifle nicht, dass du an die Verantwortlichkeit meines Vaters glaubst. Aber der Mann, der das getan hat, muss die schlimmste Art von Verbrecher überhaupt sein. Und ganz und gar nicht der Mann, den ich Vater nenne.«
»Das bedeutet nicht, dass er an diesem Verbrechen unschuldig ist.«
»Vielleicht nicht, aber was, wenn deine Erinnerung an jenen Tag nicht mehr genau ist? Du hast selbst gesagt, dass es dreizehn Jahre her ist. Du warst damals ein kleiner Junge. Die Erinnerung von Kindern ist oft übertrieben –«
»Was verlangst du noch, um überzeugt zu werden?«
»Ich muss nicht überzeugt werden«, sagte sie, »aber wenn du mir vielleicht sagen würdest, was geschehen ist … es mir genau erzählt … ich könnte dir helfen, das Geschehen zu entwirren und zu verstehen.«
»Ich werde es nie verstehen«, fauchte er und blickte sie mit gerunzelter Stirn finster an. Er seufzte tief und richtete seine Aufmerksamkeit auf das Feuer. »Ich will nicht, dass die Einzelheiten ans Licht gezerrt werden, ebenso wenig, wie du sie hören willst.«
»Wenn du vielleicht irgendeinen Beweis hättest –«, platzte sie heraus.
Gunnar fuhr herum und sah sie an, seine Miene verzog sich in verletzter Ungläubigkeit. »Einen Beweis? Einen Beweis, dass ich dort war und mit meinen eigenen Augen gesehen habe, wie dein Vater meine Mutter mit seinem Schwert nahezu in zwei Teile gespalten hat, als sie sich weigerte, seine Hure zu werden? Einen Beweis, dass ich von einem Soldaten deines Vaters niedergemacht und liegen gelassen wurde, um an meinen Wunden zu sterben?«
»Nein.« Raina legte die Hände auf die Ohren und versuchte, die schrecklichen Einzelheiten auszublenden. »Nein, das ist nicht wahr!«
»Du willst einen Beweis?«, brüllte er. »Hier! Da hast du ihn!« Er zerrte den kleinen Beutel von seinem Schwertgurt und warf ihn ihr zu. »Da hast du deinen verdammten Beweis!«
Noch lange nachdem Gunnar aus dem Zimmer gestürmt war, starrte Raina auf den Lederbeutel. Sie war voller Angst, ihn zu berühren, voller Angst vor dem, was sie darin finden würde. Vielleicht wollte sie letztlich doch keinen Beweis, vielleicht war es klüger, den Beutel einfach dort auf dem Bett liegen zu lassen. Aber dennoch verlangte die Frage nach einer Antwort.
Konnte ihr Vater wirklich solcher Verbrechen fähig sein?
Raina betete darum, dass der Beutel leer sein möge, als sie den Finger unter die Lederbänder schob und ihn zu sich heranzog. Er fühlte sich leicht an, sein Gewicht war nicht schwerer als das Material, aus dem er gemacht war. Aber als sie ihn über eine unebene Stelle der Decke zog, klirrte etwas Metallenes in dem Beutel.
Gänsehaut überzog Rainas Glieder, als sie die Verschnürung öffnete und sich den Inhalt des Beutels in die hohle Hand schüttete. Der Rubinring, den ihr Vater ihr geschenkt hatte – der, dessen Anblick Gunnar so wütend gemacht hatte –, fiel heraus. Ihm folgte noch ein Ring. Er war größer, eindeutig für einen Mann gedacht, aber von derselben Art wie ihrer.
Nein, nicht wie meiner, korrigierte sie sich.
Denn dies waren offensichtlich Ringe für einen Mann und eine Frau – für ein Paar. Symbole eines Bundes zwischen zwei Menschen, die sich liebten, ihr Leben miteinander teilten. Und die Tatsache, dass ihr Vater in den Besitz der einen Hälfte dieses Ringpaares gekommen war, konnte nur eines bedeuten. Er war an jenem Tag auf Wynbrooke gewesen.
Gunnar hatte recht gehabt: Der Ring war ein Familienerbstück …
Seiner Familie.
Ihr Vater, der sie dazu erzogen hatte, die Wahrheit zu ehren und in Aufrichtigkeit zu leben, hatte sie belogen. Er hatte ihr den Ring als Zeichen seiner Liebe geschenkt, obwohl es eher ein Beweis für seine Bösartigkeit war, seine Niederträchtigkeit. Raina war es gelungen, ihre Zweifel bis jetzt zu unterdrücken. Bis sie diese Ringe gesehen hatte. Jetzt erfasste Scham sie wie eine Welle, die sie bis in ihre tiefste Seele erschütterte.
Wenn ihr Vater sie wegen des Ringes angelogen hatte … was hatte er dann noch vor ihr verborgen?
Sie musste Gunnar finden, musste ihm sagen, dass es ihr leidtat … um alles. Er war gekommen, sich dafür zu entschuldigen, dass er sie unfreundlich behandelt hatte, und sie hatte ihn mit ihren Zweifeln gequält und seinen Charakter infrage gestellt. Verzweifelt darum bemüht, es wiedergutzumachen, lief sie aus dem Raum und die Treppe hinunter.
»Gunnar!«, rief sie und lief zur Halle, in der sie Stimmen hörte. »Gunnar!«
Eine Handvoll Männer saß bei einem Würfelspiel um den Tisch herum und schaute Raina fragend an.
»Habt Ihr Euren Lord gesehen?«, fragte sie, blind für die hochgezogenen Augenbrauen und die überraschten Blicke, die die Männer untereinander wechselten. »Ich muss ihn finden«, flehte sie. »War er hier?«
»War er«, sagte eine raue Männerstimme hinter ihr.
Raina fuhr herum und sah sich Burc gegenüber, der mit vom Trinken glasigen Augen auf sie zukam. Er stank nach abgestandenem Wein und Schweiß, und Raina krümmte sich innerlich vor Widerwillen zusammen.
»Wo ist er?«, fragte sie.
Der Ritter zuckte die Achseln. »Weggegangen.«
Der abschätzige Ausdruck in Burcs Augen ließ Raina die Haare im Nacken zu Berge stehen. Sie ballte die Fäuste und versuchte, an dem Mann vorbeizugehen. Er stellte sich ihr in den Weg, schnitt ihn ihr ab.
»Ich bitte Euch, gebt mir den Weg frei, Sir«, sagte sie und sah ihn dabei offen an.
Burc zog amüsiert die Augenbrauen hoch, auf seiner Stirn glänzte Schweiß. »Du bittest mich?«, wiederholte er mit einem gemeinen Grinsen. »Es würde mir sehr gefallen, das zu erleben, Weib.«
Raina schürzte die Lippen und machte rasch einen Schritt zur Seite. Burc tat es ihr gleich und grinste. Ganz offensichtlich genoss er dieses Katz-und-Maus-Spiel.
»Lass sie vorbei, Burc«, hörte Raina einen der Ritter aus der Halle rufen.
Burc rührte sich nicht.
Raina nahm all ihre Kraft und Entschlossenheit zusammen und stemmte die Hände gegen seine Schultern. Sie brachte ihn aus dem Gleichgewicht und schlüpfte rasch an ihm vorbei, als er taumelte. Sie floh den Gang hinunter zur Treppe, die zum Burghof führte, und war unschlüssig, wohin sie sich wenden sollte. Sie wusste nur, dass sie fort von Burc wollte. Sie kam jedoch nicht weit. Er packte sie an den Haaren und riss sie scharf zurück. Raina schrie vor Schmerz auf, aber Burc wand sich ihr Haar um die Hand und zog sie zu sich. Er drückte seinen dicken Zeigefinger auf ihre Lippen. »Schscht«, zischte er, und sein saurer Atem schlug ihr dabei ins Gesicht.
»B-Bitte«, stammelte sie. »Lasst mich gehen!«
Burc grinste und schüttelte grimmig den Kopf. »Ich habe kein mit Eurer Erlaubnis gehört«, spottete er in einem tiefen Knurren.
Raina würgte und versuchte, ihr Haar aus seinem Griff zu befreien. »Bitte, mit Eurer Erlaubnis, lasst mich gehen.«
Burcs Finger fuhr über ihre Lippen. »Ts, ts, ts«, spottete er. »Jetzt ist es zu spät. Jetzt fordere ich einen Kuss für mich.«
Raina schloss ganz fest die Augen und drehte ihr Gesicht weg, als er sich über sie beugte. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Niemals!«
Burc knurrte und schaute über die Schulter, als sei er besorgt, ihre Proteste könnten gehört worden sein. Mit einem wütenden Ruck zerrte er sie dann die Treppe hinunter. Blitze erhellten den Himmel, tauchten den Burghof für einen kurzen Moment in eine gespenstische Taghelle, ehe er wieder in düstere Dunkelheit versank. Raina war von dem strömenden Regen sofort nass bis auf die Haut, und ihre Schreie um Hilfe verloren sich im wütenden Sturm.
Burc zerrte sie an den Haaren hinter sich her, ließ sie hinter sich her taumeln und stolpern, ihre nackten Zehen versanken schmatzend in dem dicken Matsch, der den Burghof bedeckte. Burc zog sie um eine Ecke des Turms und drückte sie an die Mauer. Zitternd vor Kälte und Angst wischte Raina sich das wirre Haar aus dem Gesicht. Ihre Zähne begannen zu klappern.
»W-was w-wollt Ihr?«, schrie sie und verschränkte die Arme vor der Brust. Über das Rauschen des Regens hörte sie ihn fluchen. Sie wich einen Schritt zu Seite, betete, dass er sie in der Dunkelheit nicht besser sehen konnte als sie ihn. Seine Hand schoss vor, erstickte ihren Fluchtversuch im Keim.
»Ich hab nur einen Kuss gewollt, mehr nicht«, knurrte er. »Aber jetzt werde ich mir nehmen, was ich wirklich will.«
Ein weiterer Blitz zuckte über den Himmel, beleuchtete Burc einen schrecklichen Herzschlag lang. Er machte sich unter seiner Tunika zu schaffen und versuchte, sich von seinen Hosen zu befreien.
Panik erfasste Raina. Sie hatte eine Steinmauer in ihrem Rücken und eine zu ihrer Seite. Burcs Arm war wie Granit gegen ihre Schulter gepresst und hielt sie in der Ecke gefangen. »Oh Gott«, stöhnte sie, »bitte nicht!«
In diesem schwarzen Augenblick des Entsetzens betete Raina inständig darum, dass Gunnar sie retten möge. Ihr Bewusstsein rief seinen Namen wieder und wieder, zwang ihn, sie zu hören, zwang ihn, zu ihr zu kommen, um ihr zu helfen, wo auch immer er war. Sein Name, der als geflüstertes Gebet auf ihren Lippen begann, erhob sich zu einem verzweifelten Schrei, ehe sie Burcs überraschtes Grunzen hörte.
Einen Augenblick später wurde der stämmige Ritter hochgerissen und von ihr weggeschleudert. Er landete mit einem Aufstöhnen auf dem Boden, nur einige Schritte von ihr entfernt.
Noch bevor Gunnar sie mit entsetzter Stimme seinen Namen hatte schreien hören, hatte er gespürt, dass Raina ihn brauchte. Er war im Stall und versorgte sein Pferd, als er ihren Schrei hörte und alles stehen und liegen ließ, um in den Sturm hinauszulaufen, in die Richtung, aus der er sie hatte rufen hören. Wut und Zorn wuchsen zu einem donnergleichen Grollen in seinen Ohren an, als er sah, dass Burc vor ihr stand und sie gegen die Wand drückte.
Er packte den Bastard an den Schultern, riss ihn hoch über seinen Kopf und warf ihn in den Schlamm. Dann sprang er auf den überraschten Mann, setzte sich rittlings auf ihn und drückte seine Arme mit den Knien auf den Boden. Gunnar bearbeitete das Gesicht des Ritters mit den Fäusten und stellte dabei fest, dass das schreckliche Geräusch des Aufeinanderprallens von Knochen auf Knochen seine Wut kaum minderte. Burcs Lippe platzte auf und blutete heftig, was Gunnars Zorn nur noch anstachelte. Er würde diesen Lump töten, wenn er sie angefasst hatte!
Wieder und wieder traf seine Faust Burcs Gesicht, bis Gunnar nur noch das wilde Schlagen seines eigenen Herzens hörte, er nichts mehr schmeckte als die ätzende Furcht vor dem, was vielleicht geschehen war. Schon bald erhob sich gegen seine Schläge kein Widerstand mehr, denn Burc lag schlaff unter ihm, sein Gesicht war eine einzige blutige Masse.
Schließlich fand Gunnar die Kraft, mit Schlagen aufzuhören. Sein Atem ging heftig und abgerissen, während er auf den Mann hinunterstarrte. Das Wasser aus seinen Haaren tropfte ihm in die Augen, und seine Tunika klebte ihm am Körper. Er fühlte ein Brennen in seinem Arm, und als er hinschaute, sah er, dass frisches Blut seine Tunika benetzte, weil seine Wunde sich wieder geöffnet hatte. Der Regen hatte inzwischen nachgelassen und fiel jetzt sanft in die Pfützen um sie herum.
Burc stöhnte, was Gunnars Aufmerksamkeit wieder auf das zerschundene Gesicht des Ritters lenkte. Von Abscheu erfüllt erhob sich Gunnar von ihm und wischte sich mit dem Unterarm über die Stirn. Er schaute über die Schulter dorthin wo Raina stand, und sein Herz hörte fast auf zu schlagen.
Sie zitterte und starrte ihn in stummem Entsetzen an, eine Hand vor den Mund geschlagen. Tränen rannen über ihre Wangen. Ihre Augen waren unverwandt auf ihn gerichtet, groß und voller Furcht, und Gunnar begriff, dass ihr Entsetzen nicht dem Schuft galt, der sie fast vergewaltigt hätte, sondern ihm. Er streckte die Hand nach ihr aus, um sie zu beschwichtigen. Ihr Blick wanderte flackernd zu seiner Hand. Sie wich zurück, schüttelte heftig den Kopf.
»F-Fass m-mich nicht an!«, stieß sie fast hysterisch hervor.
Gunnar wandte den Blick von ihr ab, sein Kiefer mahlte, als er auf seine ausgestreckte, blutbefleckte Hand starrte. Er runzelte die Stirn und ballte die Hand zur Faust, während Burc sich mühsam erhob, sich auf Hände und Knie stützte und in den Schlamm hustete.
»Du hast mir meine verdammte Nase gebrochen«, lallte er und spuckte etwas in eine Pfütze, vermutlich einen Zahn.
Gunnar beachtete ihn nicht; genau genommen hörte er ihn kaum. Seine Aufmerksamkeit war allein auf Raina gerichtet und darauf, die Angst zu mildern, die sich in ihren Augen widerspiegelte. Er musste sie nur anschauen, um zu wissen, was sie dachte. Er hatte die Kontrolle über sich verloren, und sie hatte in ihm das Tier gesehen, das er tatsächlich war. Und jetzt hatte sie Angst vor ihm. In ihren Augen würde er sich nie wieder über das Tier erheben können, das sie heute Nacht erlebt hatte, und sein Herz schmerzte bei diesem Begreifen.
»Raina.« Er sagte ihren Namen wie ein Flehen und ging zögernd auf sie zu. Er wollte sie nur in seinen Armen spüren, musste wissen, dass ihr nichts geschehen war.
Sie schüttelte stumm den Kopf und holte tief und zittrig Luft. »Ich will nicht, dass du mich anfasst«, flüsterte sie, und ihre Stimme wurde etwas fester, als sie fortfuhr: »Bitte, lass mich einfach in Ruhe!«
Sie ging an ihm vorbei zum Turm, ließ ihn neben Burc im Regen stehen. Gunnars schmerzerfüllter Blick folgte ihr, geistesabwesend bemerkte er das Entsetzen, das sich auf den Gesichtern der übrigen Burgbewohner malte, die sich inzwischen am Eingang des Turms versammelt hatten. Im Lichtschein ihrer Fackeln sah er, dass auch sie ihn für ein Ungeheuer hielten. All diese Jahre hatte er niemandem erlaubt, das Ungeheuer in ihm zu wecken, und obwohl er in zahllosen Schlachten an der Seite dieser Männer gekämpft hatte, hatte er stets kühle Beherrschung gezeigt. Unmenschlich, so hatten sie ihn genannt, und Gunnar trug dieses Etikett ohne Bedauern. Sich menschlich zu zeigen, erforderte Gefühl, und Gefühl bedeutete Schwäche.
Gunnar hatte keine Schwächen … bis jetzt.
Bis er Raina begegnet war.
Gunnar wappnete sich gegen diesen Gedanken und wandte sich zu Burc um. Ich könnte ihn töten und wäre im Recht, dachte er. Der Mann hatte es gewagt, etwas in Besitz zu nehmen, das seinem Lord gehörte, und Gunnar hatte jedes Recht auf Vergeltung. Der Gedanke, dass Burc seine Hände auf Rainas zarte Haut gelegt hatte, brachte Gunnars Blut fast zum Kochen. Die Vorstellung einer von diesem Schwein geschändeten Raina ließ ihn darauf brennen, dem Hundesohn das Herz herauszuschneiden.
Nein, Burc tot sehen zu wollen, hatte wenig mit Lehnstreue und Misstrauen zu tun – jedoch alles mit Raina. Burc zu töten, auch wenn er das Recht dazu hatte, geschähe ganz und gar aus persönlichen Gründen.
»Verschwinde«, stieß Gunnar zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Burc schnaubte und wischte sich vorsichtig über die Unterlippe. »Dafür wirst du bezahlen, du verdammter –«
»Verschwinde! Und lass mich nie wieder deine Visage sehen, oder ich werde dich töten, das verspreche ich dir.«
Burc fluchte leise, dann humpelte er durch das offene Tor, während gleichzeitig die Jagdgesellschaft in den Burghof geritten kam. Die Männer warfen verdutzte Blicke auf den blutenden, verletzten Ritter, als sie an ihm vorbeikamen, sagten aber nichts, sondern kamen in großer Eile über den Hof geritten.
Alaric saß vor Wesley auf dessen Schlachtross und sah blass und erschöpft aus von dem, was letztlich doch noch eine erfolgreiche Jagd gewesen war. Auf dem Pferd des Squires lag ein großer Keiler, festgezurrt und gebunden. Die Reiter machten in der Mitte des Hofes halt, und alle bis auf Wesley und Alaric stiegen von den Pferden. Die Ritter, die zusammen mit Gunnar zur Burg zurückgekehrt waren, riefen ihnen Glückwünsche zu, als sie zu der Jagdgesellschaft kamen und einen Kreis um sie bildeten.
»Bei Gott, aber der Junge hat es geschafft!«, rief einer der Männer und schlug sich auf den Oberschenkel.
»Ja«, sagte Wesley, und sein Ton klang seltsam angespannt. Auch er stieg jetzt aus dem Sattel und zog dann Alaric zu sich herunter in seine Arme. »Aber er wird dafür vermutlich sein Bein hergeben müssen.«
Ein Raunen der Verwirrung und der Besorgtheit ging durch die Schar der Männer, als Gunnar zu ihnen trat. Er sah die Verletzung sofort – eine klaffende Wunde, verursacht von den messerscharfen Hauern des Keilers. Ein Frösteln durchlief ihn. »Bringt ihn ins Trockene«, befahl er und versuchte, das beunruhigende Schweigen der Männer nicht zu beachten. Als Wesley zögerte, stieß Gunnar einen Fluch aus, hob Alaric auf seine Arme und trug ihn eilig zum Turm. »Holt Raina!«, rief er über die Schulter. »Sagt ihr, sie soll Nadel und Faden bringen!«
Gunnar trug Alaric in die Halle, rief jemandem zu, für den Jungen einen Tisch frei zu machen. Agnes folgte dem Befehl sogleich und fuhr mit dem Arm weit ausholend über den nächstbesten Tisch, wischte Becher und Würfel zu Boden. Alaric stöhnte, als Gunnar ihn auf den Tisch legte und sich neben ihn kniete. »Ich hätte dich nicht da draußen lassen dürfen«, flüsterte Gunnar. »Verdammter sturer kleiner Welpe.«
Rainas besorgte Stimme von der Treppe her veranlasste Gunnar, abrupt aufzustehen. Nur einen Augenblick später war sie an seiner Seite, beugte sich über Alaric und trocknete ihm das nasse Gesicht mit ihrem Ärmel. Dann sah sie Gunnar anklagend an. »Was ist mit ihm geschehen?«
»Ein Keiler …«, murmelte Gunnar und schüttelte ernst den Kopf. »Er ist auf der Jagd verletzt worden. Ach verdammt. Sein Bein sieht schlimm aus …«
Rainas Aufmerksamkeit richtete sich ausschließlich auf den Jungen, während Gunnar hilflos hinter ihr stand. Sie öffnete den Verband von Alarics Bein, keuchte entsetzt auf und presste die Hand auf ihr Herz. Ihr Atem hörte sich an wie ein tiefes Seufzen, aber als sie sprach, war ihre Stimme ruhig und bedacht und absolut beherrscht. »Bring mir saubere Tücher, Agnes! Sehr viele! Und Decken.« Sie sah Dorcas an. »Ich werde viel Wein brauchen, um diese Wunde zu reinigen.« Beide Frauen liefen aus der Halle, um die Anweisungen auszuführen, während Raina sich wieder über Alaric beugte.
»Kannst du ihm helfen?«, fragte Gunnar hoffnungsvoll.
»Offen gesagt, weiß ich das nicht. Ich habe noch nie eine so tiefe, schwere Wunde gesehen.«
Gunnar schluckte hart. »Wesley meinte, er könnte das Bein verlieren.«
Raina warf den blutdurchtränkten Verband auf den Boden und wischte sich die Hände an ihrem Kleid ab. Ohne Gunnar anzusehen, erwiderte sie: »Ich bete vor allem darum, dass er am Leben bleibt.«
Die Bedeutung dieser Worte drückte schwer auf Gunnars Bewusstsein … und sein Herz. Alaric und sterben? Nein, unmöglich! Der Junge war zäh und so voller Leben, dass es für drei reichte. Er konnte doch nicht einfach so sterben!
Weiteres Grübeln wurde ihm erspart, als erst Dorcas und gleich darauf Agnes mit den geforderten Dingen zurückkamen. Raina blickte hoch und machte offensichtlich eine rasche Bestandsaufnahme. »Ich werde noch mehr Tücher brauchen; die Blutung wird nicht so bald aufhören – wenn überhaupt.« Nachdem die Frauen gegangen waren, wandte sie sich an Gunnar. Eisig. »Wie hast du das zulassen können?«
Genau diese Frage hatte er sich auch immer wieder gestellt – und war zu keiner Antwort gekommen. »Was hätte ich tun können, um es zu verhindern?«
»Du hättest ihn niemals zurücklassen dürfen!«, sagte sie anklagend. »Als sein Lord bist du für ihn verantwortlich. Für all diese Menschen hier.« Sie schüttelte den Kopf und stützte sich mit den Händen auf dem Tisch ab. »Wie erbärmlich, sich mehr um die Toten als die Lebenden zu kümmern.« Ihre scharfen Worte waren wie ein Messerstich in sein Herz. »Wann hörst du damit auf, den Menschen den Rücken zuzukehren, denen du etwas bedeutest?«
Sie stellte diese Frage ohne jede Boshaftigkeit und mit solch einem Schmerz in der Stimme, dass es ihn für kurze Zeit unfähig machte, etwas zu sagen. Er sah Raina nur an, wollte sie zwingen zu gehen und hoffte doch zugleich, sie würde es nicht tun. Er konnte ihre Verachtung nicht ertragen. »Was willst du von mir? Was soll ich tun?«
»Beten, falls dir nichts anderes einfällt«, entgegnete sie kurz und goss etwas Wein in Alarics Wunde.
Gunnar runzelte die Stirn. Gebete hatten ihm in der Vergangenheit noch nie viel genutzt, und er glaubte nicht, dass sie ihm jetzt helfen würden. Warum sollte Gott ihm heute zuhören? Und warum sollte irgendjemand ihm helfen wollen?
Er beobachtete, wie Raina mit dem in Wein getränkten Tuch die Wunde betupfte und in dieser Situation die Verantwortung übernahm, die zu tragen eigentlich seine Pflicht gewesen wäre. Sein Herz füllte sich mit Stolz … und mit Scham. Hier stand er, hilflos und tatenlos, während sie entschlossen seine Aufgaben übernahm. Gunnar hatte sich noch nie so nutzlos gefühlt, so abhängig von einem anderen Menschen.
Und dann begriff er, dass es vielleicht doch etwas gab, das er für Alaric tun konnte …
Raina legte das Tuch auf den Tisch und stieß einen tiefen Seufzer aus, während sie aufsah. »Ich entschuldige mich, Gunnar. Ich wollte dich nicht anfahren. Aber du musst verstehen, dass ich Angst habe. Alarics Verletzungen sind schwer, und ich verfüge einfach nicht über das Können –«
Sie wandte sich zu ihm um, und ihre Stimme erstarb.
Er war fort.