22
Die Nachricht von Rainas unerwarteter Rückkehr nach Norworth hätte Nigel zu keinem unpassenderen Zeitpunkt erreichen können. Er hatte sich ein junges Dorfmädchen von der Arbeit auf dem Feld geholt und lag mit ihr im Gebüsch, als das Signal des Trompeters die Ankunft von Reitern verkündete. Als er an der Tonfolge erkannte, dass die Besucher eher Freund als Feind waren, lächelte er auf das schluchzende Mädchen herunter.
»Schscht«, flüsterte er und legte ihr den Finger auf die Lippen. Dann packte er ihre Tunika am Ausschnitt und riss sie ihr herunter.
Ein Blitz von Lust durchfuhr ihn, als er ihre kleinen, knospenden Brüste sah. Dieses Mädchen war vielleicht das jüngste von allen, die er sich in letzter Zeit genommen hatte. Nigel sog den Atem ein. Er konnte es kaum erwarten, sie zu kosten.
Hinter ihm räusperte sich jemand.
»Vielleicht interessiert es dich zu hören, dass Lady Raina zurückgekommen ist.« Nigel vergaß für einen Moment seine zarte Beute, erhob sich auf die Knie und warf einen Blick nach hinten auf Evard, der ihn mit gerunzelter Stirn tadelnd ansah. »Sie ist vor Kurzem eingetroffen«, sagte der Ritter.
»Allein?«
»Zwei von Rutledges Männern haben sie bis zum Waldrand gebracht –«
»Ich will die beiden sehen«, forderte Nigel und erhob sich vollends.
»Sie sind schon wieder fort«, entgegnete Evard und fügte dann ziemlich säuerlich hinzu: »Lady Raina scheint in guter Verfassung zu sein, falls es dich interessiert.«
Nigel grinste und murmelte die üblichen Worte der Lobpreisung, dass es ihr gut ging. Das Dorfmädchen hielt sich die zerrissene Tunika über der Brust zusammen und rappelte sich schluchzend auf. »Du bleibst«, befahl Nigel ihr. »Ich habe dir nicht erlaubt zu gehen.«
Evard stieß einen Fluch aus. »Hast du dein Soll an Jungfrauen nicht bald erfüllt, Mann? Musst du deine Bastarde in jeden Schoß pflanzen?«
Nigel lachte und warf einen Seitenblick auf das Mädchen. »Wie der Vater, so der Sohn, würde ich meinen.« Er wandte sich erneut dem grimmig dreinschauenden Ritter zu. »Geh zurück zum Turm, Evard; ich will eben noch diesen fruchtbar aussehenden Acker gründlich durchpflügen und dann gleich nachkommen.« Als Evard sich entfernte, wandte Nigel seine Aufmerksamkeit wieder dem zitternden jungen Mädchen zu. »Komm jetzt, Süße, sei nett zu deinem Lord, hmm?«
Es dauerte nicht lange, da tauchte Nigel aus dem Gebüsch auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Er legte seinen Schwertgürtel um und stieg auf das Pferd des Barons, das er sich genommen hatte, nachdem er seines an Rutledge verloren hatte. Er trieb das Tier zum Galopp an und ritt kurze Zeit später mit donnernden Hufen in den Burghof von Norworth ein. Er rief dem herbeieilenden Squire eine Frage zu und erfuhr, dass Lady Raina sich in ihr Zimmer zurückgezogen habe.
Nigel stürmte die Wendeltreppe hinauf und klopfte an die geschlossene Tür zu Rainas Zimmer. Er hielt sich nicht damit auf zu warten, bis er hereingerufen wurde.
Raina stand neben der Wanne mit milchig-trübem Wasser und fuhr sichtlich erschrocken zu ihm herum. Sie errötete und strich sich rasch den Rock ihres Gewandes aus roter Seide glatt. Ihre blassen, kleinen Füße waren nackt, ihr Haar war offen und lockte sich feucht bis fast zu den Hüften. Nigel verfluchte sein Timing; es schien, dass er noch einen Blick auf ihren unbekleideten Körper hätte werfen können, wenn er nur einen Augenblick früher gekommen wäre. Schon bald, dachte er. Schon bald würde es ihm freistehen, sich all das von ihr anzusehen, was er wollte. Lächelnd ging er auf sie zu und nahm sie in die Arme.
»Raina, allen Heiligen sei Dank, dass du wieder daheim bist!« Er atmete tief ihren sauberen Duft ein und hielt sie trotz ihrer versteinerten Reaktion fest. »Ich hatte etwas im Dorf zu erledigen, als ich von deiner Rückkehr hörte.« Er setzte ein falsches Lächeln auf. »Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte.«
Sie befreite sich aus seiner Umarmung und schlang die Arme um sich. Ihre Stirn legte sich in ärgerliche Falten. »Nigel, was ist hier passiert? Mein Vater –«
»Ist nicht wohlauf«, beendete er den Satz für sie und ging zum offenen Fenster, um auf den Hof hinunterzuschauen. »Der Baron kann in letzter Zeit kaum noch seine Gedanken beherrschen, geschweige denn eine Burg. Aber sei versichert, dass ich jede Anstrengung unternommen habe, mich an seiner statt in die Rolle des Kastellans einzufinden.« Er schaute sie über die Schulter an und sah, dass ihre Stirn sich geglättet hatte. Nachdenklich und mit dem herzlichsten Gesichtsausdruck, den er zustande brachte, fügte er hinzu: »Es war keine leichte Aufgabe, sich auf die geschäftlichen Dinge zu konzentrieren, wenn mein Herz sich nur nach deiner sicheren Rückkehr sehnte.«
Es brachte ihm ein kleines Lächeln ein. »Danke, dass du dich um alles gekümmert hast.«
Nigel runzelte die Stirn. Er war verblüfft über ihre Zurückhaltung und dass es ihm offensichtlich nicht gelungen war, sie zu beruhigen. Er wandte sich vom Fenster ab und sein Blick richtete sich auf das Bett.
Dort lagen die zerlumpten Überreste von Rainas Kleid. Daneben der Umhang eines Mannes. Nigel ging auf das Bett zu, und sein Zorn wuchs mit jedem Schritt, mit dem er sich ihm näherte. Rainas Gewand war zerrissen und beschmutzt; der Rock ausgefranst und starrte am Saum vor Schmutz; einer der Ärmel war an der Schulter abgerissen. Er biss die Zähne zusammen und berührte die blasse Seide, strich über das Mieder. Sein Blick glitt zu dem Umhang, und er prüfte den Stoff zwischen den Fingern. Seltsam, dachte er, dass man einer Geisel die Wärme des Umhangs ihres Entführers anbietet. »Man sagt, er hat dich frei gelassen.«
»Ja«, antwortete sie. »Er will keine Rache mehr. Er wollte mich nicht länger gegen meinen Vater benutzen, deshalb schickte er mich nach Hause, eine Geste des guten Willens –«
»Guter Wille?« Nigel ließ den Umhang mit offensichtlichem Abscheu fallen und sah Raina an. Sie schenkte ihm den unschuldigen, vertrauensvollen Blick eines Kindes. Welche Naivität. Er lachte leise. »Guter Wille, in der Tat.« Er ging zum Fenster, wo er sich mit der Hüfte gegen den Sims lehnte und die Arme vor der Brust verschränkte. »Wie viele Königreiche sind schon verloren gegangen, weil ein Schuft geschworen hat, guten Willens zu sein?«
»Er ist kein Schuft«, widersprach Raina, »und sein Wort ist ehrenhaft. Ich vertraue ihm.«
Nigel schnaubte verächtlich. »Herrgott noch mal, Raina! Wenn man dich so reden hört, könnte man auf die Idee kommen –« Sein Blut schien zu erstarren, sich förmlich zu verklumpen, als ihn jäh ein Gedanke durchfuhr. Er presste die Zähne zusammen und wandte langsam den Kopf. Er wusste, dass sich sein Abscheu auf seinem Gesicht widerspiegelte, aber er war unfähig, ihn zu verbergen. »Hast du Gefühle für ihn entwickelt?«
Raina wandte den Blick ab und war entweder nicht in der Lage oder nicht bereit, seinem Blick standzuhalten. »Es ist so viel passiert, als ich bei ihm war«, flüsterte sie vage. »Nigel, ich erwarte nicht, dass du es verstehst –«
»Warst du mit ihm im Bett?«
Dass seine Stimme so ruhig klang, überraschte selbst Nigel, denn innerlich bestand er nur noch aus Wut. Sie machte ihn zittern und er war kurz davor, zu explodieren. Ihr Schweigen auf seine Frage war ihm unerträglich.
»Antworte mir!« Er richtete sich vom Fenstersims auf, ging zu Raina und packte sie an den Armen. »Sag es mir, verdammt! Hast du dich von ihm anfassen lassen? Hast du die Beine für ihn breit gemacht?«
»Nigel, bitte.« Sie wand sich und versuchte, seine Finger von ihren Armen zu lösen. »Du tust mir weh!«
Nigel spürte, dass er hart wurde, als ihre Abwehr stärker wurde. Ihre Unberührtheit, die zu verlangen er niemals das Recht gehabt hatte, war ihm gestohlen worden. Sie hatte ihn seit Jahren hingehalten, und jetzt das. So schmerzlich ihr Verrat auch war, ein gequälter Teil von ihm wollte – nein, musste – die Worte hören. »Wie lange hat er gebraucht, um dich zu verführen, Raina? Einen Tag?« Er schnitt eine Grimasse, schüttelte sie fast. »Oder nur ein paar Stunden?«
Er spürte ihre Angst und ließ sie sofort los, denn er wusste, dass er vorsichtig zu Werk gehen musste. Noch brauchte er sie und ihr Vertrauen. Während nur eine einzige Flasche notwendig gewesen war, um den Baron zu beherrschen, würde Raina sich seinem Willen nicht so leicht beugen, das wusste Nigel. Das hatte sie nie getan.
Einige Male hatte er wirklich gehofft, sie würde nie mehr zurückkommen; es hätte seine Pläne, die Herrschaft des Barons zu übernehmen, leichter durchführbar gemacht. Aber jetzt stand sie vor ihm, heil und unversehrt. Und das tödliche Treffen, von dem Nigel sich erhofft hatte, es würde eins der Hindernisse – wenn nicht gar beide – aus dem Weg räumen, die zwischen ihm und Norworth standen, würde vielleicht niemals stattfinden. Er war wieder dort, wo er begonnen hatte. Wollte er Norworth für sich gewinnen, dann musste er den Baron loswerden und seine legitime Erbin heiraten.
Raina von seiner Zuneigung zu überzeugen war schon vorher schwer genug gewesen, aber jetzt, in Anbetracht ihrer offensichtlichen Gefühle für Rutledge, würde das unmöglich sein, solange dieser Schurke am Leben war. Es konnte keinen Zweifel daran geben, dass Rutledge Raina benutzt hatte – in der Situation hätte das jeder Mann getan. Wahrscheinlich brüstete er sich damit, wie leicht es gewesen war, sich d’Bussys Tochter zu nehmen, und war jetzt ohne Zweifel dabei, einen Plan zu schmieden, um Norworth bei erster Gelegenheit anzugreifen. Der Schuft mochte sich Rainas Körper genommen haben, aber Nigel weigerte sich, ihm noch mehr zu überlassen.
Und sollte sie den Bastard dieses Schurken in sich tragen, würde er dieses Balg ersäufen, noch bevor es die Möglichkeit hätte, seinen ersten Atemzug zu tun.
»Du wirst mir alles sagen, Raina. Wo er ist, wie viele Männer er hat … seine Schwächen. Ich werde die ganze Garnison hinführen, wenn es notwendig sein sollte, um ihn aufzustöbern –«
»Nein!« Raina packte ihn am Arm und sah ihn flehend an. »Es wird keine Gewalt mehr geben! Bitte«, flüsterte sie. »Ich habe meinen Vater gebeten, sich morgen mit Gunnar zu treffen … um über Frieden zu reden.«
Gunnar.
Den Namen dieses Kerls von ihren Lippen zu hören war für Nigel wie ein Dolchstoß in seine Eingeweide, so widerwärtig, dass er kaum den Rest von dem verstand, was sie sagte. Die Worte drangen langsam zu ihm vor, brannten sich durch den Schleier seiner Wut. Sie hatte um ein Treffen zwischen ihm und ihrem Vater gebeten. Um über den Frieden zu reden. Nigel zog nachdenklich die Stirn kraus. »Ich verstehe. Und hat der Baron zugestimmt?«
»Er hat noch nicht zugestimmt, aber ich hoffe, er wird es noch tun.«
Geistesabwesend nickte Nigel. Vielleicht ergab sich doch noch etwas Gutes aus der jüngsten Entwicklung. Da Raina wohlbehalten wieder zu Hause war, verfügte Rutledge über keinen Verhandlungsvorteil mehr. Und wenn der alte Baron klug war, würde er sich unter dem Deckmantel der friedlichen Absicht morgen tatsächlich mit Rutledge treffen. Und dann, wenn sich die Gelegenheit ergab, würde Nigel mit seinen Männern zuschlagen. Rutledge wäre nicht länger eine Bedrohung, und der Baron würde so bald wie möglich danach einen schrecklichen tödlichen Unfall erleiden. Norworth und Raina würden dann endlich ihm gehören.
»Nun denn«, sagte Nigel, »ich bete, dass der Baron die Klugheit Eurer Bitte erkennt, Mylady.« Mit einem knappen Kopfnicken ging Nigel an Raina vorbei und zur Tür hinaus, um sich mit seinen Plänen zu befassen.
An diesem Abend hallte Norworths große Halle von lebhaften Gesprächen und Fröhlichkeit wider. Bevor das Essen begann, war jeder Burgbewohner an den Tisch des Lords gekommen, um Raina willkommen zu heißen und seiner Erleichterung Ausdruck zu geben, dass sie wohlbehalten zurück war. Sie saß neben ihrem Vater am hohen Tisch und fühlte sich seltsam fehl am Platze und eher wie ein Gast denn als Herrin der Burg.
Nigel hatte seit der Unterredung in ihrem Zimmer nicht mehr mit ihr gesprochen, und Raina war froh, nicht auch jetzt seiner Kritik ausgesetzt zu sein. Sie wusste, dass er wütend war und sie zweifelsohne für eine Närrin hielt, weil sie es zugelassen hatte, etwas für Gunnar zu empfinden. Aber wie hätte sie erklären können, was geschehen war? Wie hätte irgendjemand verstehen können, was sich in der kurzen Zeit, die Gunnar und sie zusammen gewesen waren, zwischen ihnen entwickelt hatte?
Sie aß schweigend und warf gelegentlich einen Blick auf ihren Vater, der links von ihr saß. Auch er hatte seit dem Mittag nicht mehr mit ihr gesprochen, und Raina fühlte, dass seine Antwort auf ihre Bitte ihn stark beschäftigte. Jetzt griff er nach seinem Pokal und leerte ihn bereits zum zweiten Mal im Verlauf der letzten Stunde. Von seinem Platz zur Linken des Barons winkte Nigel einen Pagen zu sich. Mit einem leichten Kopfnicken deutete er auf den Pokal des Barons, und der junge Page hob die Flasche, um das Trinkgefäß von Neuem mit gewürztem Wein zu füllen.
Raina legte die Hand über den Becher ihres Vaters. »Nein, keinen Wein mehr. Bitte bring uns stattdessen Honigmet.« Der Page zögerte, schaute Nigel an und schien auf dessen Zustimmung zu warten. Als Raina ihre Bitte nachdrücklicher wiederholte, nickte der Junge und eilte davon, um den Befehl auszuführen.
Sie fragte sich noch, was Nigel wohl beabsichtigte, als der Stuhl neben ihr über den Boden schrappte und ihr Vater sich erhob. Er räusperte sich und brachte damit das Lärmen der Gespräche und des Essens zum Schweigen. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass Nigel sich gespannt vorbeugte, während sich eine erwartungsvolle Stille in der Halle ausbreitete und aller Augen sich auf die Estrade richteten.
»Durch die Gnade des Herrn ist meine Tochter zu uns zurückgekehrt«, verkündete der Baron. Ein Jubelschrei erhob sich, gefolgt von einem zweiten, dann klang Beifall auf. Zu Rainas Beunruhigung verlangte einer der Rufer Gunnars Tod. Ihr Vater hob die Hand und gebot Ruhe. »Ich danke Gott dafür, aber ich muss auch ihrem Entführer danken.« Einige Männer tauschten verwirrte Blicke, während andere aufmerksam schwiegen. »Hätte er sich nicht barmherzig gezeigt, wäre sie jetzt nicht hier. Deshalb habe ich beschlossen, mich morgen früh mit Rutledge zu treffen – allein, wie er es verlangt –, um über eine friedliche Beilegung unserer Differenzen zu sprechen.«
Raina stieß den Atem aus, den sie angehalten hatte, stand auf und stellte sich neben ihren Vater. Sie küsste ihn auf die Wange. »Danke«, sagte sie leise.
»Was mich betrifft, ich vertraue ihm nicht«, verkündete Nigel kriegerisch. Er sprach zu den Männern, die in der Halle saßen, ohne den Baron anzusehen. »Ich sage, wir treffen ihn wie geplant … aber mit unserer Streitmacht. Nur dann können wir eines künftigen Friedens sicher sein.«
Zustimmende Rufe waren in der Halle zu hören.
»Nein«, widersprach der Baron mit Aufmerksamkeit gebietender Stimme. »Ich werde ihn nicht täuschen. Meine Tochter hat mir versichert, dass Rutledge vertrauenswürdig ist. Ihr Wort genügt mir.« Er wandte sich wieder an seine Leute. »Und euch allen sollte das auch genügen.«
Nigels Stimme trieb einen Keil in die einvernehmliche Stimmung, als die Anwesenden wieder ihre Plätze einnahmen. »Was ist, wenn der Frieden nach seinen Bedingungen vereinbart wird und es Norworth Land oder Geld kosten wird? Wie viel wollen wir für das Versprechen dieses Halunken einbüßen, Frieden zu halten?«
»Die Sicherheit meiner Tochter und ihr Glück sind mir mehr wert als irgendwelche Ländereien. Ich nehme an, du hast nicht vor, über ihren Wert zu streiten.«
»Nein, Mylord.« Nigel nahm es mit einem angespannten Flüstern hin. »Natürlich nicht. Aber was ist mit mir? Wenn Ihr Euch diesem Missetäter ergebt, was wird dann aus mir werden?«
»Du wirst das sein, was du schon immer gewesen bist. Ein Ritter unter Norworths Befehl.«
»Aber glaubt Ihr nicht, mir stehen meine eigenen Überlegungen zu?«
»Ich habe, so gut ich es vermochte, für deine Annehmlichkeiten gesorgt.« Raina konnte das Gesicht ihres Vaters nicht sehen, aber die nur mühsam gezügelte Wut in seiner Stimme war deutlich herauszuhören. »Du solltest dankbar sein für das, was du durch meine Großzügigkeit genossen hast.«
»In der Tat«, stieß Nigel zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Und das bin ich, Mylord. Dankbar für jede Mildtätigkeit.« Sein Lächeln war dünn, ebenso wie sein darauf folgendes Lachen. »Ich habe Euch mein ganzes Leben gut gedient, und soviel ich weiß, habe ich nie um eine Gegenleistung gebeten. Weder um Land noch um Geld. Um nichts. Nicht einmal um die Ehre Eures Namens.«
Die geflüsterten Worte hatten Nigels Mund kaum verlassen, als der Baron mit der Hand ausholte und ihn ins Gesicht schlug, so heftig, dass Nigels Lippe aufplatzte. Raina keuchte auf. Es schien ihr, als laste in diesem Augenblick das Gewicht von tausend Steinen auf ihrer Brust. Fassungslose Ungläubigkeit, genährt durch eine langsam dämmernde Erkenntnis, die so unfassbar wie entsetzlich war, stieg wie Galle in ihr hoch.
Die Erinnerungen an Nigels jahrelanges romantisches Werben um sie drang wie eine Sturzflut in ihr Bewusstsein, drehte ihr den Magen so heftig um, dass sie sich fast erbrochen hätte. Sie hörte ein interessiertes Murmeln durch die Halle raunen, war sich vage bewusst, dass niemand, bis auf jene auf der Estrade, wusste, was ihren Vater zu dieser gewalttätigen Handlung veranlasst hatte.
Nigel sprang so brüsk auf, dass sein Stuhl umstürzte. Sein flackernder Blick traf den Rainas und hielt ihn für den Bruchteil einer Sekunde fest. Tränen glitzerten wie Eiskristalle in seinen Augen; dann waren sie verschwunden, zusammen mit jeder Spur von Gefühl, als er seine Aufmerksamkeit ihrem Vater zuwandte. Mit einem hohl klingenden Lachen hob Nigel seinen Zeigefinger und wischte sich einen Blutstropfen aus dem Mundwinkel.
»Nigel –«, begann der Baron und streckte die Hand nach ihm aus, aber Nigel war schon die Stufen der Estrade hinabgesprungen und verließ die Halle.
Zu erschüttert, um etwas sagen zu können, starrte Raina ihren Vater in stummem Entsetzen an. Seine ausgestreckte Hand sank herunter, und seine Gesichtszüge wandelten sich zu einer jämmerlichen Grimasse. Langsam wandte er Raina das Gesicht zu. Er sagte nichts … aber das musste er auch nicht. Die Wahrheit stand in seinen Augen.
Augen, die, wie Raina zum ersten Mal bemerkte, die gleiche Farbe hatten wie die Nigels.