7
Die Frau hatte Mut; das musste Gunnar ihr zugestehen. Aber sie war auch erschöpft, und die Stunden, die sie jetzt schon bei ihm war, hatten ihren Teil dazu beigetragen, selbst ihre große Zähigkeit anzugreifen. Er vermutete, dass es eher ihre Müdigkeit und kein bereitwilliges Sich ergeben war, das sie dazu brachte, ihm schweigend zu folgen und ihm dabei nur einen bösen Blick zuzuwerfen. Er zog sie zu sich hoch auf das Pferd und setzte sie vor sich, schlang seinen Arm um ihre Taille und hielt sie enger, als es nötig war, als sie die Lichtung verließen und sich zu einem Lagerplatz für die Nacht aufmachten.
Während das Land sich vor ihnen ausdehnte und die Zeit bis zur Dämmerung langsam verstrich, focht Gunnar einen mühsamen inneren Kampf mit sich aus, der darin bestand, die Nähe seiner unerwarteten Gefangenen nicht zur Kenntnis zu nehmen und sich stattdessen darauf zu konzentrieren, seine nächsten Schritte zu planen. Zu seiner Bestürzung jedoch konnte er nur daran denken, dass er mit dieser Frau schlafen wollte, die bei jedem Schritt seines Pferdes gegen seine schnell härter werdenden Lenden drückte.
Die federleichte Seide ihres Gewands kräuselte sich im Wind, bauschte sich hin und wieder und strich ihm dann leicht über Handgelenk und Arm. Ihr Zopf hatte sich völlig gelöst, und ihr duftendes Haar streifte ihn. Ihre schmale Taille schmiegte sich in die Beuge seines Armes, und er war machtlos, sich gegen die Bilder zu wehren, die in ihm wach wurden. Sie war ein faszinierendes Bündel von Versuchungen für einen Mann wie ihn.
Gunnar schob diesen Gedanken ärgerlich beiseite und gab seinem Pferd die Sporen. Er sagte sich, dass es der Abendwind war und nicht ihr Haar, der so wunderbar nach Rosen und Geißblatt duftete, dass es die Hitze des Zorns war und nicht das heiße Blut einer leidenschaftlichen Frau, die ihre Haut brennen ließ, ihm seine Hand versengte.
Als ihr Körper sich schließlich in erschöpftem Schlaf entspannte und ihre Atemzüge sich vertieften, gewann die Neugier die Oberhand über die Pflicht. Wie der Dieb, zu dem zu werden er gezwungen worden war, schob Gunnar wie zufällig den Arm höher, bis er unter ihren vollen Brüsten lag. Er stahl sich die Gelegenheit, die sie ihm gewiss niemals gestattet hätte. Dann atmete er tief ihren Duft ein und schloss die Augen, um sich gegen ihre Weichheit zu wappnen. Und er sagte sich, dass ihre starke Wirkung auf ihn in der einfachen Tatsache begründet lag, dass er eine Frau brauchte.
Dringend.
Die Ruine von Wynbrooke Castle lag eingehüllt in der tintenschwarzen Finsternis der Mitternacht, als sie sich ihr und dem wie ausgestorben wirkenden Dorf näherten, aber offensichtlich genügte der Anblick, um Raina den Atem stocken zu lassen. Gunnar hatte schon vor einiger Zeit gespürt, dass sie aufgewacht war, auch wenn sie bis jetzt keine Veranlassung gesehen hatte, etwas zu sagen.
»Wo sind wir?« Ihre Stimme klang dünn und verriet ihre Anspannung.
Gunnar wusste, dass die Ruine auch in der Dunkelheit ein gespenstischer, Respekt einflößender Anblick war, auch wenn es lange her war, seit Wynbrooke seinen Atem hatte stocken lassen.
Er hätte Beklommenheit, vielleicht auch einige Furcht dabei empfinden müssen, als er das sah, was von seinem Zuhause übrig geblieben war. Er hatte diesen Ort oft aufgesucht, um sich immer wieder daran zu erinnern, warum er lebte, was sein Zweck auf dieser Erde war. Unzählige Male war er hergekommen und hatte aus den Schatten des Waldes auf den Schutt und die Schändung gestarrt – ein stummer, nachdenklicher Betrachter, der sich niemals dem Wohnturm genähert hatte, der niemals seine Anwesenheit der Handvoll Menschen verraten hatte, die im Dorf geblieben waren.
Aber seit einigen Jahren traf Gunnar der Anblick Wynbrookes nicht mehr so sehr. Er rührte ihn nicht mehr. Wie die Jahre, in denen er Schlachten geschlagen und dem Tod ins Auge geblickt hatte, hatte auch dieser Anblick nicht mehr die Macht, ihn zu beunruhigen.
Als Raina jetzt fragte: »Was für ein Ort ist dies?«, antwortete er deshalb ohne Anflug eines Gefühls: »Es ist das Werk Eures Vaters.«
Auf seinen Schnalzlaut hin setzte sein Pferd sich wieder in Bewegung, und er führte seine Männer weiter und umging dabei absichtlich die kleine Ansammlung heruntergekommener Lehmhütten, die das Dorf bildeten. Sie ritten den Burghügel hinauf und durch das offene Tor der eingefallenen Festungsmauer.
Wynbrooke war eine bescheidene Burg und verfügte nur über einen Hof, ein weites, grasbewachsenes Areal, auf dem Gunnar als Junge die Hühner und später die kleinen gleichaltrigen Mädchen herumgescheucht hatte. Ein kleiner Stall hatte auf einer Seite des Hofes gestanden, wie Gunnar sich erinnerte; alles, was jetzt noch darauf hinwies, waren einige verkohlte Holzbalken und rußgeschwärzte Steine. Die Stallungen waren verschwunden; die große Halle war nichts als Schutt und Steine – alles war in sich zusammengefallen oder verbrannt. Nur der Turm war stehen geblieben. Der Ort, den Gunnar einst sein Zuhause genannt hatte, ähnelte einer verlassenen und einsam aufragenden Säule aus massivem grauem Stein.
Als er im Schatten dieses finsteren Mahnmales stand, fühlte er Raina in seinen Armen zittern und hörte vage, dass seine Männer leise darüber murrten, in einem Grab schlafen zu müssen. Für einen Moment spürte er einen Schauder seinen Rücken hinunterlaufen. Es ist nur die kühle Nachtluft, sagte Gunnar sich und stieg vom Pferd. Er wandte sich um und hob Raina in seine Arme, stellte sie auf den Boden und löste dann eine zusammengerollte, an den Sattel gebundene Decke und reichte sie ihr.
»Bindet die Pferde für die Nacht irgendwo an und sucht euch dann einen Platz zum Schlafen«, wies er seine Männer an, während er Rainas Hand nahm und sie mit sich zog, als er auf den Turm zuging.
»Ihr wollt doch wohl nicht in dieser Ruine schlafen.« Ihre Stimme klang flehend, als sie ihm folgte, kaum in der Lage, mit seinen großen Schritten mitzuhalten.
»Ihr seid hier sicher.« Er griff nach dem eisernen Riegel an der Tür und bemerkte, dass die breite Tür aus Eichenholz sich aus ihren Angeln gelöst hatte. Die Finsternis, die ihm vom oberen Treppenabsatz entgegenschlug, kam wie aus einem schwarz gähnenden Portal zu einem feuchten und moderigen Raum.
Eine Fledermaus flüchtete, als sie über die Schwelle traten, flatterte über ihre Köpfe hinaus in die Nacht. Eine zweite folgte rasch. Rainas erschrockener Aufschrei hallte in dem höhlenartigen Zimmer wider, und sie barg das Gesicht an Gunnars Arm, bis die kleinen Wesen davongeflogen waren.
»Kommt«, befahl Gunnar leise und führte sie weiter, nutzte dabei einen dünnen Strahl silbrigen Mondlichts, der durch einen Mauerriss ins Innere des Turmes fiel und ihm half, die Wendeltreppe zu finden, die in die oben gelegenen Gemächer führte. Er hielt Rainas Hand fest, als sie die steile, gewundene Treppe hinaufstiegen, und versuchte, das seltsame Zittern in seiner Brust zu bezwingen, das mit jedem Schritt, den er tat, stärker wurde.
Unerwünschte Bilder tauchten in seiner Erinnerung auf: das grelle Klirren von d’Bussys Schwert, das bösartige Lachen, der zusammengesunkene Körper seiner Mutter, das Blut. Jesus, das Blut. Die Hand fest gegen seine Schläfe zu pressen reichte nicht, um den Schmerz zu lindern, der dort pochte, noch die Schuld, die an seinem Bewusstsein nagte.
»B-Bitte«, wisperte Raina hinter ihm. »Ich möchte nicht hierbleiben.«
Er verzog freudlos den Mund. »Der Gedanke ist auch für mich wenig verlockend, Mylady, aber ich glaube, es ist der sicherste Ort für uns, um Rast zu machen und uns für ein paar Stunden auszuruhen.«
Sie erklommen die Treppe und Gunnar ging auf die erste Kammer zu, seine Schritte klangen schwer. Schweiß perlte auf seiner Oberlippe und seiner Stirn, als er sich der Tür näherte, Furcht hielt sein Herz fast so fest umklammert wie Raina jetzt seine Hand.
»Wartet hier«, sagte er und ging, um dann an der Schwelle stehen zu bleiben. Er ballte die Fäuste und wappnete sich gegen das, was er in dem Raum finden mochte.
Die Tür stand einen Spalt weit offen und vermittelte seltsamerweise den Eindruck, als habe der letzte Benutzer das Zimmer ruhigen Herzens verlassen, nicht voller Schrecken. Er streckte die Hand aus und berührte das von einem Eisenband verstärkte Türblatt aus Eichenholz und verachtete sich selbst dafür, dass sie zitterte. Er war dankbar für die Dunkelheit, die dieses Zittern vor Rainas Blicken verbarg. Mit ein wenig Druck öffnete die Tür sich knarzend in ihren uralten Lederangeln.
Gunnar ließ den Blick rasch durch das Zimmer wandern und stieß den Atem aus. Er hatte noch nicht einmal bemerkt, dass er ihn angehalten hatte.
Kaltes Mondlicht fiel durch die halb offenen Läden vor den Fensterschlitzen der gegenüberliegenden Wand herein, durch die auch eine träge Brise Nachtluft hereinwehte. Er atmete flach und stellte überrascht fest, dass die Luft weder nach Tod noch nach Feuer roch, sondern nur nach dem leichten Duft des Sommers.
Im blassen Mondschein konnte Gunnar erkennen, dass keine alte Binsenstreu auf den groben Holzdielen lag. Jeder Hinweis auf die Zerstörung, die hier vor dreizehn Jahren stattgefunden hatte, war offensichtlich beseitigt worden. Die große Rüstungstruhe seines Vaters war fort; ebenso der Spinnrocken und die Spindeln seiner Mutter. Die Steinmauern des Gemachs, die einst mit bunten Teppichen und dem Banner der Rutledges bedeckt gewesen waren, waren jetzt kahl. Das Kohlenbecken war geleert worden und seit Langem unbenutzt. Es beherbergte jetzt eine fleißige Spinne, die das gähnende Loch in der gegenüberliegenden Wand mit ihrem komplizierten Netz überzogen hatte. Das große Bett, in dem seine Eltern geschlafen hatten, war das einzige Möbelstück, das sich noch im Raum befand, aber die Kissen und Strohmatratzen waren fort, und es war jetzt kaum mehr als ein staubbedeckter Holzrahmen, vielleicht zu unförmig, um aus dem Turm entfernt werden zu können.
Aber das Gemach schien nicht geplündert worden zu sein. Jemand, dem seine Eltern etwas bedeutet haben mussten, hatte alle Spuren der Schändung beseitigt, die d’Bussy begangen hatte. Und Gunnar war sich fast sicher, wer das gewesen war.
Er wandte sich um und sah Raina über die Schulter an, dann forderte er sie mit einer Handbewegung auf, zu ihm zu kommen. Sie trat aus der Dunkelheit und kam ohne Widerrede an seine Seite; offensichtlich war ihr selbst seine zweifelhafte Gesellschaft lieber, als allein an der Tür zurückgelassen zu werden. Gemeinsam betraten sie das Zimmer, Raina folgte ihm so dicht auf den Fersen, dass er fast den Druck ihrer Brüste gegen seinen Rücken spürte. Er spürte ihren Atem auf seiner Haut. Sie atmete rasch und flach.
Sie blieb in der Mitte des Zimmers stehen, während er weiterging, um die Fensterläden weit zu öffnen und auf den darunterliegenden Hof zu schauen. Seine Männer hatten bereits ein Feuer angezündet und sich darum versammelt, sie tranken aus ihren Flaschen und kauten auf Kanten von dunklem Brot.
»Seid Ihr hungrig?«, fragte er Raina.
»Nein.«
Die rasche, feste Ablehnung wurde von einem leisen Knurren aus ihrem Magen Lügen gestraft. Gunnar wandte sich vom Fenster ab und ging langsam zu ihr. Sie verharrte reglos und sah ihn abwartend und ängstlich an. Die zusammengerollte Decke hielt sie wie einen Schutzschild umklammert. Trotz der lauen Sommerluft zitterte sie.
Gunnar ging an ihr vorbei und zog sein Schwert, um damit die Spinnweben vor der Feuerstelle zu zerschneiden. »Ihr könnt Euch Euer Lager hier herrichten, vor dem Kamin«, wies er sie an. »Vielleicht finde ich draußen etwas Reisig, um ein Feuer zu machen.«
»Ihr lasst mich hier zurück? Allein?« Dieses letzte Wort keuchte sie fast in einem Ton, der wie Fassungslosigkeit klang.
»Aye«, erwiderte er und steckte das Schwert wieder zurück in die Scheide. »Aber glaubt nicht, dass Ihr davonlaufen könnt, während ich fort bin. Ich werde einen meiner Männer hochschicken, der in meiner Abwesenheit die Tür bewacht.«
Sie machte zögernd einen Schritt auf ihn zu. »Wohin geht Ihr?«
»Ich habe etwas zu erledigen«, antwortete er absichtlich unbestimmt und ging zur Tür. Sofort fühlte er, wie sie mit beiden Händen seine Hand ergriff. Er blieb wie erstarrt stehen.
»Bitte.« Sie drückte seine Hand mit verzweifelter Festigkeit. »Lasst mich nicht hier zurück.« Sie tat einen kleinen Atemzug, ihre Stimme war nichts als ein Wispern hinter ihm. »Ich fürchte mich.«
Dieses schlichte Eingeständnis schockierte ihn fast ebenso sehr wie das Gefühl ihrer ineinander verschränkten Hände. Wo war der Teufelsbraten, der behauptet hatte, lieber sterben zu wollen, als ihn noch mal anzusehen? Was war mit dem Zankteufel geschehen, der sich zwischen ihren Vater und Gunnars Schwert gestellt hatte, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken?
Er fuhr zu ihr herum, wütend und bereit, ihr genau diese Fragen zu stellen.
Ihr ins Gesicht zu sehen war ein Fehler, wie Gunnar zu spät erkannte. Selbst in der Dunkelheit konnte er ihre rosigen Lippen erkennen, die leicht geöffnet waren und zitterten, die viel zu weich aussahen für seinen Seelenfrieden. Ihre Augen begegneten den seinen, groß und flehend unter dem zarten Schwung der Brauen. Unerklärlicherweise sehnte er sich plötzlich danach, mit der Hand über ihre zarte Wange zu streichen, über die anmutige Linie ihres Halses. Sehnte sich danach, ihr Haar zu berühren, die seidigen Locken durch seine Finger gleiten zu lassen und zu spüren, wie sich ihr Körper in einer tröstenden Umarmung an ihn schmiegte.
Und für einen Moment geriet er in Versuchung, zu bleiben.
Aber was er ihr anzubieten hatte, war nicht Trost und kaum dazu angetan, ihr die Furcht zu nehmen.
»Herrgott noch mal«, fluchte er leise, wobei sein Zorn mehr gegen sich selbst als gegen sie gerichtet war. Mit ruppiger Verärgerung entzog er ihr seine Hand und blickte sie in der Dunkelheit grimmig an. »Rührt Euch nicht vom Fleck, und Euch wird nichts geschehen.«
Mit diesen Worten machte er auf dem Absatz kehrt, verließ das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. Er hatte es eilig, von ihr wegzukommen, ehe er seine Meinung änderte und bei ihr blieb.
Raina bedauerte ihre Worte in dem Moment, als sie ihr über die Lippen kamen, und Rutledges ärgerliche Erwiderung verstärkte ihre Beschämung nur noch. Warum sie glaubte, dass seine verhasste Gegenwart ihr ein Trost sein würde, wusste sie selbst nicht. Wenn sie auch nur die Hälfte des Abscheus, den sie im Wald beteuert hatte, für ihn empfand, dann müsste sie über seine Abwesenheit eigentlich froh sein. Sie hätte ganz gewiss nicht auf seine sich entfernenden Schritte gelauscht, sie hätte sich nicht an das Fenster gestellt, damit sie ihm nachschauen konnte, als er über den Hof zu seinen Männern ging und jemandem namens Cedric zurief, er solle vor ihrer Tür Wache halten. Raina runzelte die Stirn, starrte seiner davoneilenden Gestalt nach, als wollte sie Löcher in seinen breiten, arroganten Rücken brennen, während er auf sein Pferd stieg und aus dem Hof in die Nacht hinausritt.
Nachdem er fort und nichts mehr übrig war, auf das sie ihren Zorn richten konnte, wandte Raina ihre Aufmerksamkeit widerstrebend ihrem vorübergehenden Nachtlager zu. Aber es war und blieb ein dunkles und niederdrückendes Zimmer, bar jeden Lebens und nicht viel besser als der Rest dieses verfallenen und verlassenen Turms.
Das ist das Werk Eures Vaters.
Rutledges Worte bei ihrer Ankunft kamen ihr in den Sinn wie ein Schwall kalten Wassers: Sie erschreckten sie, verwirrten sie und machten sie frösteln.
Sie hatte sich keine Illusionen darüber gemacht, dass ihr Vater – wie jeder Baron in dieser Zeit – hin und wieder gezwungen gewesen war, für den Erhalt und zum Schutz seiner Besitzungen und Lehnsgüter Kriege zu führen. Aber diese Burgruine sah furchtbarer als nach einem Krieg aus. Dieser Ort, mit einem solch großen Ausmaß an Zerstörung und bar jeden Lebens, war mehr als nur erobert worden. Er war ausgelöscht worden. Doch warum?
Sie verspürte ein Frösteln, das sich von ihren Gliedern bis in ihr Herz ausbreitete, als sie sich vom Fenster abwandte und sich in dem Raum umsah. Vergeblich suchte sie nach etwas, mit dem man ein Feuer in dem Kohlenbecken entfachen könnte. Das Zimmer war plötzlich zu kalt, zu dunkel.
Raina hasste die Dunkelheit.
Dunkelheit ließ sie an ihre Mutter denken, ließ die endlosen Tage wieder vor ihr auferstehen, die sie als kleines Mädchen außerhalb des Schlafzimmers ihrer Eltern verbracht hatte, während sie auf das Weinen ihrer Mutter gelauscht hatte. Ihre Mutter war allein in ihrem großen, kalten Zimmer gewesen, die Tür verriegelt, die Läden verschlossen, die schweren Bettvorhänge fest zugezogen. Sie hatte das Essen verweigert und jeden Trost abgelehnt. Und sie hatte sich geweigert, irgendjemandem zu gestatten, ihr in ihrer Verzweiflung beizustehen, ihr einziges Kind eingeschlossen.
Dunkelheit bedeutete für Raina einen Tag im frühen Herbst, als sie fünf Jahre alt gewesen war. Sie hatte mit dem Schmuck ihrer Mutter gespielt und dann ihre Eltern gehört, die früher als erwartet von einem Turnier zurückgekommen waren. Raina war in den Schrank gehuscht, hatte die Tür zugezogen und ganz still in der dunklen Kälte gestanden. Sie hatte die Stimmen gehört, erfüllt von Zorn und immer lauter werdend, als ihre Eltern die Treppe zu ihrem Zimmer heraufgekommen waren. Sie hatte die Tür schlagen hören, hatte den Hass in der überschäumenden Anklage ihrer Mutter gehört: »Ich bin keine Närrin, Luther! Ich weiß, was du getan hast! Um Himmels willen, er war ein unschuldiger Mann!«
Die Stimme ihres Vaters klang verzweifelt, flehend. »Margareth, meine Liebe, verstehst du denn nicht? Wenn ich eines Vergehens schuldig bin, dann nur, dass ich dich zu sehr liebe.«
Das Klirren eines Tongefäßes, das auf dem Boden in tausend Stücke zerschellte, unterstrich das stoßweise Schluchzen ihrer Mutter. »Fass mich nicht an! Du bist ein Ungeheuer, Luther! Ein eifersüchtiges Ungeheuer mit einem schwarzen Herzen, und ich verachte dich mehr als jemals zuvor!«
Raina konnte noch immer das laute Klatschen eines Schlages hören, einer Hand, die auf eine Wange schlug, und die ohrenbetäubende Stille, die darauf folgte. Bis heute wusste sie nicht, wer zugeschlagen hatte oder wer geschlagen worden war. An jenem Abend, nachdem sie das Abendessen zurückgewiesen und sich mit einem Krug Honigwein in ihr Zimmer zurückgezogen hatte, war ihre Mutter krank geworden.
Am Morgen danach war sie fort gewesen, und ihr Vater, wütend und außer sich, war an diesem Tag zusammen mit seiner Armee fortgeritten.
Der Streit, der von Raina belauscht worden war, hatte für sie niemals einen Sinn ergeben, und voller Furcht, zugeben zu müssen, zugehört zu haben, hatte sie nie den Mut gefunden, ihren Vater danach zu fragen. Es war offensichtlich um eine für ihn sehr schmerzliche und sehr persönliche Angelegenheit gegangen.
Und jetzt musste sie sich der Bedrohung stellen, dass sie auch ihn verlieren könnte. Müde und voller Furcht rollte sich Raina auf Rutledges Decke zusammen und gab dem Impuls zu weinen nach. Irgendwann in den Stunden, die seit seinem Fortgehen vergangen waren, schlief sie ein.
Gunnar saß an dem Tisch der kleinen Lehmhütte, trank Wein aus einem Becher und starrte in die Flammen einer glühenden Kohlenpfanne, die in der Mitte der Hütte stand. Das warme, orangefarbene Licht schien auf das faltige, alte Gesicht des Mannes, der Gunnar gegenübersaß, und malte wütende Farben auf das lange weiße Haar und den brustlangen Bart des Heilers.
»Ich weiß, dass du heute nicht zum ersten Mal hier bist«, sagte Merrick und füllte Gunnars leeren Becher zum vierten oder fünften Mal in den vielen Stunden, seit er bei ihm war.
»Ach ja?«, sagte Gunnar sanft, den der Wein in eine tröstliche Trägheit versetzt hatte, die selbst diese überraschende Mitteilung nicht erschüttern konnte.
»Aye.« Merrick nickte. »Vor einigen Jahren habe ich dich im Wald gesehen, und dann wieder in diesem Frühjahr.«
»Du hast mich nicht angesprochen.«
»Nein … du hast zum Turm hinaufgestarrt, und ich konnte an dem Ausdruck deiner Augen sehen, dass du nicht den Wunsch hattest, gesehen zu werden.« Merrick leerte seinen Becher, dann stieß er einen kleinen Seufzer aus. »Und ebenso wusste ich, dass du eines Tages zu mir kommen würdest, wenn du Zeit genug gehabt hättest, deinen Hass ruhen zu lassen, und wieder zu leben beginnen würdest.«
Gunnar schürzte die Lippen und schaute tiefer in seinen Becher, weil er es vorzog, nicht dem klugen Blick des alten Mannes zu begegnen. Plötzlich war er froh, dass er nicht den wahren Grund preisgegeben hatte, der ihn heute Nacht in Wynbrooke hatte Rast machen lassen. Merrick, ein gottesfürchtiger, sanfter Mann, hatte Gunnars unstillbares Verlangen nach Vergeltung damals nicht verstanden; und er würde es ganz gewiss auch jetzt nicht verstehen.
»Und«, sprach Merrick weiter, während er aufstand und den Raum durchquerte, »weil ich wusste, du würdest zurückkommen, habe ich das hier für dich verwahrt.«
Als der alte Mann die Hand nach einem einfachen irdenen Gefäß ausstreckte und dessen Inhalt auf seine Handfläche schüttete, spannte sich in Gunnar plötzlich etwas an wie eine Bogenseite. Seine Brust fühlte sich an wie zusammengeschnürt, sein Herz schlug schwer in bedrängender und wachsamer Erwartung, während Merrick zum Tisch zurückkehrte und langsam ein kleines Stück Stoff auseinanderfaltete.
»Das lag neben dir, als ich dich an jenem Tag fand«, sagte er und brachte einen breiten goldenen Ring zum Vorschein, in dessen Mitte ein großer blutroter Rubin saß.
Gunnar starrte auf den Siegelring seines Vaters und spürte, wie ihm das Blut aus dem Kopf wich. Mit schweißnassen Händen umklammert er seinen Weinbecher so fest, dass dieser dem Druck fast nicht standgehalten hätte. Verdammt, wie viele Male hatte er sich selbst wegen dieses Ringes verflucht? Zuerst dafür, dass seine Mutter ihn ihm gegeben hatte, weil sie ihn für wert befunden hatte, ihn zu tragen, dafür, ihn seiner Obhut anvertraut zu haben … und dann dafür, dass er ihn verloren hatte. Als Folge seines Versagens. Seiner Feigheit.
»Nimm ihn, mein Junge«, drängte Merrick, als Gunnar ihn nur stumm anstarrte. »Ich hätte ihn dir schon vor all diesen Jahren geben sollen, nachdem du gesund genug warst und ich dich nach Norden geschickt habe, um bei meinem Bruder auf Penthurst zu leben.« Er schüttelte langsam den Kopf und runzelte nachdenklich die Stirn. »Aber du warst damals so voller Zorn, so besessen von dem Gedanken an Rache, dass ich befürchtete, dieser Ring würde nur noch Öl ins Feuer träufeln.
Mein Bruder hat mich für verrückt gehalten, weil ich dich zu ihm geschickt habe«, fuhr Merrick fort. »Einen Dämon, so hat er dich genannt: mit düsterem Herzen, trinkend bis zum Exzess, immer auf der Suche nach neuen Kämpfen, bevor die Narben und Wunden des letzten verheilt waren. Ich habe immer damit gerechnet zu hören, dass du den Tod gefunden hättest, ich war sicher, du würdest ein gewaltsames Ende finden, aber diese Nachricht kam nie. Dann, vor sieben Jahren, glaube ich, schickte mir mein Bruder die Nachricht, dass du Penthurst sang- und klanglos verlassen habest, einfach fortgegangen seiest. Das war das Letzte, was ich von dir wusste, bis ich dich vor einigen Jahren in diesem Wald gesehen habe. Und jetzt sitzt du hier vor mir. Den Mann zu sehen, der du heute bist, macht mich froh, dass ich diesen Ring für dich verwahrt habe. Nehmt ihn, Mylord. Er gehört Euch.«
Gunnar wollte den Ring am liebsten nehmen und durch die Hütte schleudern, wollte vergessen, dass er ihn je gesehen hatte. Mehr als alles andere wollte er die Verpflichtung loswerden, die die Annahme des Ringes mit sich brachte. Stattdessen nahm er das kostbare Erinnerungsstück aus Merricks ausgestreckter Hand und schloss die Faust darum.
Ich werde dich rächen, schwor er im Stillen. Ich werde dafür sorgen, dass du stolz auf mich bist.
»Es beschämt mich, es zu gestehen«, sagte Merrick, »aber ich habe mich oft gefragt, ob ich nicht einen großen Fehler gemacht habe, als ich dir an jenem Tag zu Hilfe gekommen bin. Ob mein Bruder vielleicht recht damit hatte, dass es besser für dich gewesen wäre …« Er räusperte sich plötzlich. »Bah! Dummes Geschwätz eines dummen alten Mannes, eh?«
Er kicherte, aber Gunnar wusste, dass in Merricks Worten mehr Wahrheit als Witz lag. Er war für jeden in seiner Umgebung eine Gefahr gewesen. Vielleicht war er das noch immer. Aber irgendetwas hatte ihn ernüchtert in dem Jahr, in dem er Penthurst verlassen hatte, etwas, das ihn mit plötzlicher, eindringlicher Klarheit hatte erkennen lassen, wie dumm blinder Zorn und ungezügelte Gewalt waren.
Er war betrunken gewesen und hatte sich in einer Schänke mit einem anderen Mann um irgendeine Frau gestritten, die er gerade kennengelernt hatte. Genau genommen hatte die Frau wenig zu schaffen gehabt mit Gunnars Wunsch, sich zu prügeln. Irgendetwas an der Art, wie der Mann ihn angesehen hatte – die Art, wie er sich benahm –, hatte Gunnar an d’Bussy erinnert und sofort in ihm den überwältigenden Drang ausgelöst, den Ritter in Stücke zu schlagen. Der Mann beging den Fehler, der Hure auf Gunnars Schoß zuzublinzeln, und das war genau der Vorwand, den Gunnar brauchte. Und der ihn handeln ließ.
Einige Augenblicke später war er so gefangen in seinem sinnlosen Zorn, dass er gar nicht bemerkte, wie es in der Schänke plötzlich still wurde, als ein Edelmann mit seinem Gefolge eintrat. Er hörte auch nicht die Wette, die gegen ihn abgeschlossen wurde, während dieser Adlige nur wenige Schritte von der Prügelei entfernt sein Essen genoss. Erst als sein Gegner unter ihm lag, blutend und um Schonung flehend, war Gunnar fähig, innezuhalten und seine Wut zu bezähmen. Er hörte das Klirren eines mit Münzen gut gefüllten Geldbeutels, der auf einen Tisch geworfen wurde, das Kratzen einer Bank über den Boden, das Zuschlagen der Eingangstür.
Doch da war es schon zu spät.
Jemand klopfte ihm auf die Schulter und schob ihm einen Krug hin. »Hier, der geht auf d’Bussy.«
Gunnar fuhr herum, sicher, dass er sich verhört haben musste. »Was –?«
»Baron d’Bussy«, bestätigte der Wirt. »Er hat gesagt, dass Ihr in seinen Augen wie ein Mann voller Todessehnsucht ausseht, und er hat gegen Euch gewettet. Zwölf Deniers hat er an mich verloren. War nicht allzu glücklich, sein Geld zu verlieren. Ich kann Euch sagen, dass –«
Aber Gunnar hörte nicht mehr zu. Er schob den Krug zur Seite und rannte zur Tür, stieß sie auf und stürzte hinaus in den mitternächtlichen Regen. Er kam zu spät. Die Hufschläge von d’Bussys Reiterschar waren nur noch von ferne zu hören, im Sturm kaum noch auszumachen. Sein Feind war in greifbarer Nähe gewesen, und jetzt war er fort. Eine verpasste Gelegenheit, eine Gelegenheit, die sich vielleicht nie wieder ergeben würde.
In jenem Moment kam das zornerfüllte Tier in Gunnar zur Besinnung. Jetzt war es eine weit zurückliegende Erinnerung, ein Biest, gehalten von festen Zügeln, denn zornig zu sein bedeutete zu fühlen, und zu fühlen bedeutete schwach zu sein, verletzbar zu sein und Fehler zu machen. Und deshalb wollte Gunnar nichts mehr fühlen und erkor die Gefühllosigkeit zu seiner Meisterin, seiner Maxime.
Zumindest wiederholte er sich das immer wieder in seinem Kopf, während der Siegelring seines Vaters ihm in die Haut seiner geballten Faust schnitt.
Merrick starrte Gunnar an, als dieser endlich den Kopf hob und seinen Blick erwiderte. Sein Ton war nachdenklich geworden, mitfühlend. »Deine Familie zu verlieren, dein Heim … es kann nicht leicht für dich gewesen sein, besonders da du noch so jung warst.«
Es war nicht leicht gewesen. Aber Gunnar wollte jetzt nicht darüber nachdenken. Er musste nicht an den schwachen, schluchzenden Jungen erinnert werden, dem d’Bussy an jenem Tag auf Wynbrooke begegnet war, oder an den Narren, der den Baron sich nicht nur einmal, sondern zweimal durch die Finger hatte schlüpfen lassen: in der Schänke und dann wieder bei dem Turnier. »Die Vergangenheit ist …«
Er wollte sagen, dass die Vergangenheit vergessen und vorbei sei, aber die Wahrheit war weit davon entfernt. Die Vergangenheit würde lebendig sein, bis d’Bussys Leben ein Ende gesetzt worden war. »Vergangenheit ist Vergangenheit«, sagte Gunnar stattdessen brüsk, dann stürzte er den Rest Wein in seinem Becher in einem großen Schluck herunter und erhob sich, war bereit zum Aufbruch.
Merrick versorgte ihn mit einem großen Kanten Käse und einem Laib Brot für den langen Ritt, der am nächsten Morgen anstand. Den Ring seines Vaters zu sehen hatte Gunnar unvermittelt ernüchtert, deshalb nahm er das Angebot des alten Mannes ohne Zögern an, ihm auch einen Schlauch Wein mitzugeben. Erst nachdem er aufgestanden war, begriff Gunnar, dass er im Kopf ganz klar war, sein Körper aber sein Maß an Wein gehabt hatte.
Auf ungewohnt wackligen Beinen entbot Gunnar seinen Dank und verabschiedete sich von Merrick. Dann band er sein Schlachtross los. Mit einem Bündel Reisig, eingewickelt in seinen Umhang und festgebunden auf seinem Pferd, den Vorrat an Lebensmitteln unter den Arm geklemmt, und den Ring sicher in einem kleinen Beutel verwahrt, der an seinem Schwertgürtel hing, ritt er zurück den Hügel hinauf zum Turm und seiner wartenden Gefangenen.
Cedric hatte Wache gehalten und stand leise auf, als Gunnar den obersten Treppenabsatz erreichte. Von dem Dutzend Männern in seinen Diensten war Cedric nach Gunnars Urteil einer der pflichtbewusstesten, der es niemals versäumte, einen Befehl auszuführen. Andere hingegen – und ganz besonders einer namens Burc – schienen bei Befehlen Ausnahmen zu machen, wenn sie nicht unmittelbar ihren Interessen dienten. Cedric war der einzige Mann, dem er Rainas Bewachung anvertrauen konnte.
»Keine Probleme?«, fragte Gunnar.
»Keine, Mylord.« Der hochgewachsene Ritter mit dem freundlichen Gesicht senkte seine Stimme zu einem kaum hörbaren Flüstern. »Ich habe sie schluchzen gehört, gleich nachdem ich hochgekommen bin, aber jetzt ist sie schon seit Stunden still wie eine Maus.«
Gunnar entließ den Mann, öffnete die Tür und schloss sie hinter sich – mit überraschend geringer Lautstärke, wenn man seine derzeitige Verfassung bedachte. Raina lag zusammengerollt wie ein Baby auf seiner Decke und schlief ungestört weiter, während er mit dem gesammelten Reisig vor dem Kohlenbecken in die Hocke ging. Er betrachtete Raina verstohlen.
Ihr Schlaf war unruhig gewesen; das schloss er daraus, dass ihr Gewand sich um sie gewickelt hatte und hochgerutscht war. Es enthüllte ihre blassen, zarten Fesseln und die sanfte Linie einer wohlgeformten Wade. Ihr einzelner, unbeachteter Schuh lag seitlich neben dem provisorischen Nachtlager, und Gunnar staunte darüber, dass selbst ihre Füße wunderschön waren, schlank und zartgliedrig wie ihre Hände, die sie unter ihre Wange geschoben hatte.
Ihr gelöster Gesichtsausdruck ließ sie für ihn aussehen wie ein ruhender Engel. So liebreizend, so unschuldig. So ganz anders als der Dämon, der sie gezeugt hatte. Er konnte fast sehen, wie eine Frau wie sie einen Mann besänftigen konnte. Wie eine stolze, liebende Tochter wie sie sogar einen Mann bezähmen konnte, der so schlecht war wie d’Bussy.
D’Bussy.
Verdammt, aber seine Gedanken sollten sich lieber mit diesem Mann beschäftigen, nicht mit dessen bezaubernder Tochter.
Gunnar zog ärgerlich die Stirn kraus, während er das Feuer anzündete. Er setzte sich auf die Fersen und starrte in die aufflackernden Flammen.
Er hätte sie auf Norworth zurücklassen sollen. Bei allen Heiligen, was hatte er sich dabei gedacht, als er sie gefangen nahm? Es war klar, dass sie das beste Faustpfand, das sicherste Mittel war, um an d’Bussy heranzukommen, aber hätte sie nicht ein hässliches, sauertöpfisches, bösartiges Weib sein können, anstelle eines solchen … Lamms? Er wünschte, sie wäre nicht diese starke und schöne Frau, die ihn vom allerersten Augenblick an gefesselt hatte. Die ihn auf dem Turnier mit einem unschuldigen kleinen Kuss verhext hatte. Die eine Versuchung für ihn war, selbst jetzt, da sie schlief.
Gunnar fluchte lautlos und fuhr sich wütend durchs Haar. Er musste an seine Mission denken, musste sich allein darauf konzentrieren. Er musste sich von dieser Frau fernhalten, und er musste jede Ablenkung vermeiden, angefangen bei der, die ihm heute Abend widerfahren war.
Er löste die Schnur des Lederbeutels, der an seinem Schwertgürtel hing, und nahm einen der beiden Schätze heraus, die er darin verwahrte. Einen, der sich für seinen Seelenfrieden als fast ebenso störend erwiesen hatte wie der Ring, den Merrick ihm heute Abend zurückgegeben hatte. Aber während der Ring seines Vaters schwer und kalt war, fühlte dieses andere Stück Erinnerung sich so zart an wie ein Wispern, so leicht wie eine Feder, und es hatte die Farbe eines blassblauen Sommerhimmels.
Gunnar hielt das kleine Stück Stoff an sein Gesicht, war versucht, es auf seiner Haut zu spüren, wie er es insgeheim und schuldbewusst in den Nächten seit dem Turnier immer wieder getan hatte. Ehe er die Möglichkeit hatte, sich noch einmal mit diesem Vergnügen zu quälen, zerdrückte er den Stoff in seiner Faust und warf ihn in das Kohlenbecken. Er wandte sich ab, als die Flammen nach seinen Rändern griffen und ihn rasch verschlangen.
Er stellte die Tasche mit dem Brot und dem Käse neben Raina, legte den Weinschlauch dazu und ging dann zu der ihrem Lager gegenüberliegenden Wand. Dort setzte er sich auf den Boden, lehnte sich mit dem Rücken an die Mauer und stützte die Ellbogen auf seine angezogenen Knie. Fast sofort breitete sich die Erschöpfung bis in seine Knochen aus, ließ seine Schultern heruntersacken und zog ihm das Kinn auf die Brust, rief ihn in den Schlaf.
Der Albtraum begann in dem Moment, als ihm die Augen zufielen.