18
Raina erwachte davon, dass Gunnar mit den Fingerknöcheln sanft über ihre Wange strich. Sie blinzelte und brauchte einen Moment, um ihn zu erkennen, und das nicht nur wegen der hellen Nachmittagssonne, sondern auch, weil es so neu für sie war, dass ein Mann auf sie herunterlächelte. Wie hatte sie ihn je für grausam halten können! Dieses schöne, herbe Gesicht konnte niemals schroff genannt werden. Diese vollen, sinnlich lächelnden Lippen konnten nur Lust bringen.
Sie war mehr als nur ein wenig enttäuscht, als sie bemerkte, dass er sich bereits angezogen hatte.
»Wie fühlst du dich?«, fragte er sanft.
Sie hatte sich nie besser gefühlt, nie lebendiger. Und so vollkommen. Mit Gunnar zusammen zu sein verschaffte ihr ein Gefühl des Geborgenseins. Sie hatte das Gefühl, dass alles richtig und gut war.
Sie lächelte. »Ich fühle mich wunderbar.«
»Hast du Hunger?«
»Nur nach dir«, sagte sie und zog ihn an sich, um ihn zu küssen.
»Gib gut acht, Lämmchen, dass du mich nicht zu sehr verwöhnst.« Er küsste sie flüchtig auf die Nasenspitze, dann zog er sie an beiden Armen hoch. »Komm. Ein Korb mit etwas zu essen steht auf dem Hof für uns bereit. Lass uns für eine Weile von hier verschwinden.«
Raina sprang fast aus dem Bett, zog sich rasch ihr Gewand über und folgte Gunnar nach draußen.
Eine kurze Weile später waren sie schon tief in den Wald hineingeritten und näherten sich einem kleinen See. Gunnar zügelte sein Pferd unter einer großen, alten Weide, die sich mit ihrem Baldachin aus silbrig schimmernden Blättern über das Wasser neigte. Einer ihrer dicken Äste streckte sich weit über den Ufersaum hinaus, und seine belaubten Zweige hingen dicht über dem See. Wildblumen und weiches Waldmoos dufteten in der leichten Sommerbrise. Irgendwo in den Baumkronen zwitscherte ein Rotkehlchen sein Lied.
»Was für ein zauberhafter Ort«, sagte Raina leise, als Gunnar aus dem Sattel stieg und sie dann zu sich herunterhob. »Es ist hier wie im Paradies, so abgeschieden und friedvoll. So ganz anders als Norworth –«
Sie unterdrückte den Vergleich einen Augenblick zu spät, und jetzt lag er ihr bitter wie Galle auf der Zunge. Wie hasste sie es, diesen Ort erwähnt zu haben, gedankenlos an ihren Vater gerührt zu haben, der zu solch unfassbarer Grausamkeit fähig war. Aber noch bevor sie eine Entschuldigung stammeln konnte, dass sie die Erinnerung an die Vergangenheit heraufbeschworen hatte, ergriff Gunnar ihre Hand und zog sie in seine Arme.
Er senkte seinen Mund auf den ihren und eroberte ihre Lippen in einem wilden, seelenberührenden Kuss, der Rainas düstere Stimmung und Verzweiflung vertrieb wie eine heilende Salbe auf einer schmerzenden Wunde. »Dies ist das Paradies«, murmelte er. »Und dies …«
Sein Mund glitt tiefer, seine Zunge erkundete das Tal ihrer Brüste, während seine Hände über sie glitten, sie streichelten und liebkosten, bis ihr in seinen Armen fast die Sinne schwanden. Zu bald hörte er damit auf, wenn auch widerstrebend. »Lass uns lieber gehen, bevor ich dich an Ort und Stelle nehme. Ich möchte, dass dieser Tag ewig dauert.«
Schwindelig von Sehnsucht und bereit, sich ihm ganz und gar zu fügen, folgte Raina ihm, als er sie bei der Hand nahm und zum Ufer des Sees führte. Dort wandte er sich ihr zu und küsste sie wieder, tiefer jetzt als zuvor, so, als könnte er sich kaum zurückhalten, ihren ganzen Mund zu fordern. Und der Hunger, den sie auf seinen Lippen schmeckte, wurde nur noch von dem übertroffen, der in seinem brennenden Blick lag. Er zog ihr das Kleid aus und tat es auf so behutsame, ehrfürchtige Art, als enthülle er die kostbare Statue einer Heiligen. Dann streifte auch er seine Kleider ab und ließ sie achtlos auf den Waldboden fallen.
Nackt und herrlich erregt stand er vor Raina. »Erschreckt dich der Gedanke an ein Bad mit mir noch immer so sehr wie vor ein paar Tagen?«, fragte er.
Heilige Muttergottes, aber das klang fast, als würde er es hoffen. Wie ein kühner heidnischer Eroberer stand er mit vor der Brust gekreuzten Armen und leicht gespreizten Beinen vor ihr. Es lag etwas Bezauberndes in dieser offensichtlichen Zurschaustellung männlicher Arroganz, und Raina musste hart mit sich kämpfen, nicht zu schmunzeln. Stattdessen lächelte sie scheu, ließ ihren Blick über die Herrlichkeit seines nackten Körpers gleiten, ließ ihn absichtlich mit kühlem Gleichmut auf seiner Erektion verweilen. Gunnar grinste und sah aus wie eine Katze im Sahnetopf, als sie ihm in die Augen schaute.
»Sehe ich denn ängstlich aus, Mylord?«, erwiderte sie schließlich in spielerischer Herausforderung.
Er lachte laut über ihre Frage; es war ein herzliches, fröhliches Lachen, das ihre Seele wärmte. »Nein, du freches, schamloses Frauenzimmer!«, rief er. »Ich würde sagen, so siehst du nicht aus. Aber du könntest wenigstens so tun und einem Mann seinen Stolz lassen!«
Mit diesen Worten riss er sie in seine Arme und trug sie in den See. Als das Wasser ihm bis zur Taille reichte, ließ er Raina herunter. Sie spürte ein heftiges Brennen, als das Wasser die Zartheit zwischen ihren Beinen berührte, und sie stieß einen leisen Laut des Erschreckens aus.
Gunnar zuckte zusammen und zog sie an sich. »Es tut mir leid, Lämmchen. Tut es dir sehr weh?«
Sie schüttelte den Kopf; das Unbehagen war schon verflogen.
»Verdammt«, murmelte er, »ich hatte kein Recht –«
»Ich habe mich dir aus freiem Willen hingegeben«, unterbrach sie ihn, ehe er sich noch länger für etwas entschuldigte, das die himmlischste Stunde ihres Lebens gewesen war. »Du hattest das Recht, weil ich es dir eingeräumt habe. Weil ich dich wollte.«
Er stieß einen tiefen Seufzer aus, bevor ihre Lippen sich trafen. Sein Kuss war zart und schmerzlich süß, aber er schmeckte so sehr nach Reue, dass ihr die Tränen kommen wollten. »Ach Raina«, murmelte er, »ich habe ein solch kostbares Geschenk nicht verdient. Du hättest dein erstes Mal mit deinem Ehemann erleben sollen, nicht mit mir.«
Das tat mehr weh als jeder Schmerz, den sie dabei hätte erleiden können, ihn zu lieben. Sie konnte den Gedanken, ohne ihn zu sein, ebenso wenig ertragen wie die Vorstellung, mit einem anderen Mann zusammen zu sein. Aber Gunnar war ein Krieger, gewöhnt an Schlachten und Kämpfe, er war nicht die Art von Mann, der Pläne für eine Familie und eine Zukunft machte. Und schon gar nicht mit der Tochter seines Erzfeindes.
Und selbst wenn es anders gewesen wäre – die Pläne ihres Vaters für sie standen schon seit Langem fest. Den größten Teil ihres Erwachsenenlebens hatte er sie auf Norworth von allem abgeschirmt, hatte ihre Keuschheit bewacht wie der König sein Gold, hatte darauf gewartet, den passenden Ehemann für sie zu finden. Eine gute Partie, die den d’Bussys noch mehr Land und Wohlstand bringen würde. Er hatte kein Geheimnis aus seiner Hoffnung gemacht, dass sie einen Politiker heiraten würde, einen Mann mit Verbindungen zum Hof des Königs.
Mit Schaudern dachte Raina an die ältlichen Earls und lüsternen Barone, die ihr Vater nach Norworth eingeladen hatte – erinnerte sich auch an die wütenden Vorhaltungen ihres Vaters, nachdem sie die Versuche dieser Männer zurückgewiesen hatte, ihr den Hof zu machen. Dabei war sie sogar so weit gegangen, einen Becher Wein auf die Seidentunika eines Freiers zu schütten, als dieser die Frechheit besessen hatte, unter dem Tisch ihren Oberschenkel zu drücken.
Plötzlich schien die Andeutung, die Dorcas vor einigen Tagen gemacht hatte – dass sie versuchen sollte, Gunnar zu überzeugen, sie bei sich zu behalten –, gar nicht mehr so absurd zu sein. Mehr als alles, was sie jemals ersehnt hatte, wünschte sich Raina, bei Gunnar zu bleiben. Für immer, hier draußen in diesem Paradies, wo sie das Gefühl hatte, ganz sie selbst zu sein. Wo sie sich als lebendiger Teil von etwas Schönem und Wahrem fühlte. Wo sie sich zu Hause fühlte.
Aber sie würde ihn weder darum bitten noch mit ihren Problemen belasten. Vor ihr lagen nur noch wenige glückliche Tage, ehe Gunnar ihrem Vater gegenüberstehen würde, und sie hatte vor, jeden Moment bis dahin auszukosten. Mit übermenschlicher Entschlossenheit drängte sie ihre Tränen zurück und sah Gunnar an. »Mylord, wir waren uns einig gewesen, dass wir nicht über Sorgen oder Reue sprechen wollten. Bitte, enttäuscht mich nicht, indem Ihr es jetzt tut.«
Er küsste die Innenfläche ihrer Hand. »Ganz wie Ihr wollt, Mylady.«
»Also gut«, entgegnete sie mit einer Unbeschwertheit, die sie nicht empfand. »Dann gönnt mir einen Wettkampf. Ich nehme an, du bist ein passabler Schwimmer?«
Er grinste. »Passabel, ja. Mein Vater hat oft darüber gescherzt, dass ich wohl mit Kiemen geboren wurde.«
»Wirklich? Nun, Lord Kaulquappe, ich hoffe, du bist ein guter Verlierer. Hättest du heute Vormittag genauer hingesehen, dann wäre dir aufgefallen, dass ich Schwimmhäute zwischen den Zehen habe.«
»Mmm, danach wollte ich dich auch schon fragen«, neckte er sie.
Raina versetzte ihm lachend einen Stoß, ehe sie aus seiner Reichweite floh und losschwamm. »Das Ziel ist die andere Seite des Sees. Der Gewinner bekommt eine Belohnung!«
Sie schwamm, so schnell sie konnte, und glitt mit langen Zügen durch das Wasser, nutzte ihren Vorsprung und war sehr gut in der Zeit. Das Ziel schon ganz nahe vor sich, schaute sie sich um. Kein Gunnar. Wohin war er verschwunden? Raina trat Wasser, fuhr herum, suchte nach einem Anzeichen von ihm. Als sie zum Ufer schaute, durchfuhr sie ein Stich der Enttäuschung – und der Überraschung.
Gunnars Kopf und Schultern durchbrachen die Oberfläche des Wassers ungefähr zehn Schritte vom Ufer entfernt. Verflixt, er hatte sie geschlagen! Vielleicht hatte er tatsächlich Kiemen, denn er musste das ganze Stück unter Wasser zurückgelegt haben! Er wandte sich um, stand bis zur Brust im Wasser und grinste ihr entgegen.
»Soll ich jetzt gleich oder erst später sagen, was ich als Belohnung haben möchte?«, fragte er.
Noch hatte er das Ufer nicht erreicht, bemerkte Raina mit einem Funken von Befriedigung. Sie konnte immer noch gewinnen. Sie schwamm weiter, lässig jetzt, damit er ihre Absicht nicht bemerkte. »Wie hast du gelernt, unter Wasser zu schwimmen?«, fragte sie und ließ sich näher zu ihm treiben.
»Mein Vater hat es mir beigebracht. Ich glaube, ich habe das Schwimmen gleich nach dem Laufen gelernt.«
Sie war jetzt nahe der Stelle, an der Gunnar stand, und beschloss, es mit einer Ablenkung zu versuchen. »Ich glaube, ich hätte Angst, so lange unter Wasser zu bleiben. Wie schaffst du es, die Luft so lange anzuhalten?«
»Übung«, erwiderte er und zuckte die Achseln. »Und Selbstbeherrschung.«
»Nun, ich bin zutiefst beeindruckt, Mylord.« Er grinste über ihr Lob. Stolz war offensichtlich ein unwiderstehlicher Köder. Armer Lord Kaulquappe, er würde gleich in den Angelhaken beißen. »Zeigst du mir, wie man das macht?«, drängte sie.
»Wenn du möchtest.« Er begann langsam unterzutauchen, ohne Raina dabei aus den Augen zu lassen.
In dem Moment, als sein Kopf im Wasser verschwand, schwamm Raina los und hielt auf das Ufer zu. Genau zwei Schwimmzüge später schlangen sich starke Arme um ihre Taille und hinderten sie am Weiterschwimmen. Sie kreischte, als Gunnar sie aus dem Wasser zog und sich über die Schulter warf.
»Ihr spielt nicht fair, Mylady«, klagte er mit einem Lachen und gab ihr einen leichten Klaps auf ihr nacktes Hinterteil. Er trug sie das Ufer hinauf und setzte sie dort ab. »Und jetzt, da ich trotz arglistiger Täuschung des Gegners gewonnen habe, werde ich gründlich über eine angemessene Belohnung nachdenken.« Er legte die Hände um sie und zog sie an sich. Er grinste wölfisch, als seine Erektion sich zwischen ihnen hart aufrichtete.
»Nicht so schnell, Mylord«, protestierte sie und entzog sich seiner Umarmung mit gespielter Entrüstung. »Du hast mich ans Ufer getragen, und das bedeutet, dass wir das Ziel gemeinsam erreicht haben. Wir haben beide gewonnen, deshalb kann jeder eine Belohnung fordern.«
»Hmmm«, knurrte Gunnar, »also nicht nur ein dreister Betrug, sondern obendrein auch ein sehr gescheiter. Bist du schon immer so anmaßend gewesen?«
»Immer.«
Er lachte leise. »Das habe ich mir gedacht.« Er streckte die Hand nach ihr aus, drehte ihr das nasse Haar am Hinterkopf zu einer Schlange, strich es ihr aus dem Gesicht, sodass ihr Körper gänzlich unverhüllt seinen glühenden Blicken preisgegeben war. »Bist du immer schon so schön gewesen?«, fragte er rau.
Sie hatte keine Gelegenheit, etwas zu erwidern. Gunnars Mund schloss sich um eine ihrer Brustwarzen, und Raina keuchte laut auf, alle Worte und Gedanken flogen wie auf seidenen Schwingen davon. Er kniete sich vor sie, küsste ihre Brüste, und seine Lippen und seine Zunge glitten heiß über ihre Haut.
Er küsste ihren Bauch, dann glitt sein Mund tiefer und streichelte die zarte Haut ihrer Hüften. Ein verlangender Kuss auf ihren Schoß, und Raina öffnete die Beine, zögernd erst und unsicher, was er von ihr wollte. Aber er wusste es. Er überwältigte ihren Körper mit seinem Mund und seinen Händen, schmeckte sie und bereitete ihr Lust auf eine Weise, die es noch nicht einmal in ihren Träumen gab und die sie sogar jetzt noch nicht ganz verstand. Sie stöhnte, fühlte seine Finger, die sie teilten und in sie eindrangen.
»Oh, Gunnar …« Ihre Worte waren ein Hauch und wie der Schwur völliger Hingabe. »Oh ja …«
Und dann erzitterte sie in seinen Händen. Ihre Beine schmolzen, ihr Fleisch brannte, und sie bebte unter seiner vollendeten Verführung. Sie war nicht sicher, ob ihre Füße noch den Boden berührten, denn innerlich glühte sie, als eine Welle aus köstlichem Entzücken sie hoch in den Himmel emportrug. Wild und ehrerbietig zugleich streichelte Gunnar sie mit seiner Zunge. Saugte an ihr. Verschlang sie.
Sein Name war ein geflüstertes Flehen auf ihren Lippen, als eine weitere Welle wie glitzernde Funken der Ekstase über sie hinwegströmte. Erschöpft und schwindelig glitt sie zurück auf die Erde, wurde sich vage bewusst, dass er sie allein gelassen hatte. Dort, wo er sie berührt hatte, streichelte sie jetzt der Sommerwind, kühlte ihre heiße Haut.
»Ein Wettschwimmen zurück zur anderen Seite, Mylady?«
Noch gefangen von ihrem abebbenden Höhepunkt öffnete Raina die Augen und versuchte zu verstehen, was er gesagt hatte. Ihre Sinne bebten noch vom Rausch ihres Orgasmus, ihr Körper war schwach von der bezwungenen Leidenschaft. Gunnar stand einige Schritte von ihr entfernt am Seeufer. Strahlend.
»In dem Korb dort drüben liegt ein schöner roter Apfel. Er gehört dem, der zuerst auf der anderen Seite des Sees ist.«
Raina machte einen Schritt auf wackligen Beinen. »Du willst wieder ein Wettschwimmen? Jetzt?«
»Ich spiele auch nicht immer fair«, entgegnete er mit einem Augenzwinkern. Dann sprang er ins Wasser und verschwand unter der Oberfläche.
Raina schaffte es zur anderen Seite des Sees, ließ sich aber dabei nicht mehr auf ein Wettschwimmen ein. Stattdessen nahm sie sich Zeit und genoss die erfrischende Kühle des Wassers und legte die Strecke langsam zurück. Gunnar war bereits dabei, sich auf der Decke auszustrecken, die er unter der Weide ausgebreitet hatte, als Raina aus dem Wasser stieg.
Wie Adam vor dem Sündenfall schien er mit seiner Nacktheit unbekümmert umgehen zu können. Er stützte sich auf einen Ellbogen, während er mit dem Dolch eine Scheibe von dem Apfel abschnitt und ihr in den Mund steckte. »Zwei der süßesten Belohnungen und beide an einem Tag«, bemerkte er. »Ich bin wirklich ein glücklicher Mann.«
Raina fühlte, wie sie errötete. »Ihr, mein Herr, seid ein niederträchtiger Schuft mit einer seltsamen Art von Humor.«
Er grinste, schnitt noch ein Stück von dem Apfel ab und bot es ihr an, als sie sich neben ihn setzte. »Und du bist eine schlechte Verliererin, Lämmchen. Iss deinen Apfel.«
Sie kaute das Stück, das er ihr gab, und dann noch eines. Als nichts mehr übrig war als das Kerngehäuse, zog Gunnar den Korb zu sich heran und suchte zwischen den Dingen herum, die er aus der Küche entwendet hatte: einen Laib dunkles Brot, einen Kanten Käse, einige Streifen geräuchertes Wildbret und einen Schlauch Wein. Ausgesprochen herzhafte Speisen für ein Picknick, aber Raina wusste, dass sie jetzt genau das Richtige waren.
Sie legte sich zufrieden zu Gunnar, nachdem er das Brot gebrochen und den Käse angeboten hatte, und fragte sich, wie es möglich war, so vertraut mit einem Mann zu sein, den sie kaum kannte. Sie kannte ihn auf intime Weise, natürlich. Und tief drinnen in sich fühlte sie sogar, dass ihre Seelen miteinander verbunden waren und dass es vielleicht schon seit Anbeginn der Zeit so war. Aber als sie Gunnar jetzt ansah, erkannte sie, wie wenig sie wirklich von ihm wusste. Von seiner Vergangenheit.
»Du sagtest, dein Vater habe dir das Schwimmen beigebracht. War er selbst auch ein guter Schwimmer?«
Er sah sie eine Weile an, als wollte er den Grund für ihre Frage wissen. »Aye«, antwortete er schließlich, »der beste in der ganzen Grafschaft.« Den Blick abgewandt spielte er mit dem Dolch in seinen Händen, benutzte dessen Spitze, um einen Stein vom Rand der Decke zu schnipsen. »Er war in allem ein guter Lehrer und sehr geschickt in vielen handwerklichen Dingen, obwohl er eigentlich seine wissenschaftlichen Arbeiten vorzog.«
»Er war Gelehrter?«
»Ein Studierender des Lebens, wie er immer sagte«, erwiderte Gunnar mit einem kleinen Lächeln. »Aber er war der älteste Sohn und Erbe, und deshalb war sein Werdegang schon am Tag seiner Geburt festgelegt. Und dabei war keine Zeit für Bücher und zum Lernen vorgesehen. Sein Leben sollte das eines Kämpfers sein, eines Ritters, der seinem Lehen verpflichtet ist. Das hat ihn aber dennoch nicht davon abgehalten, Schriften und Papiere wandhoch in seinem Zimmer zu stapeln.« Er lachte wehmütig. »Und auch nicht davon, meinen Kopf und den meiner Mutter mit Geschichten über die alten Griechen und deren Philosophen zu füllen.«
Das hieß, bis ihr Vater diesen sanften Mann abgeschlachtet und dem Lernen und Erzählen von Geschichten ein Ende gemacht hat, dachte Raina. Schuldgefühle machten ihre Stimme schwach. »Er muss ein bemerkenswerter Mann gewesen sein.«
»Sie waren beide bemerkenswert, meine Eltern. Gerecht, hart arbeitend. Anständige Menschen.«
»Stört es dich, über sie zu reden … mit mir?«
»Nein«, erwiderte er und sah sie endlich wieder an. »Es ist nur so, dass ich lange nicht mehr auf diese Weise an sie gedacht habe. Einfach nur … nur an sie gedacht habe.«
»Und Ihr, Mylady?«, fragte er nach einer längeren Pause. »Wie habt Ihr schwimmen gelernt? Wurdet Ihr darin unterwiesen oder wurdet Ihr tatsächlich mit diesen angeblichen Schwimmhäuten geboren?« Er fasste nach einem ihrer Füße und führte ihn an seinen Mund, täuschte vor, in ihre Zehen zu beißen.
»Ich habe es mir selbst beigebracht«, sagte sie und lachte, während sie ihren Fuß aus seinem kitzelnden Griff zurückzog. »Als ich klein war, habe ich mich einmal aus der Burg geschlichen. Es war sehr dunkel in jener Nacht. Ich habe nicht aufgepasst und bin in den Burggraben gefallen.«
Er stieß einen übertriebenen Ausruf des Abscheus aus und lachte dann. »Das ist dir recht geschehen. Warum bist du auch allein in der Dunkelheit herumgeschlichen? Oder hast du dich mit jemandem getroffen?«
»Ich wollte davonlaufen.«
Der Ernst ihrer Antwort musste ihn überrascht haben, denn er wandte ihr das Gesicht zu und sah sie prüfend an. »Und warum?«
Sie wollte es ihm nicht sagen. Es ging ihr zu nahe. Sie versuchte es mit derselben Art gleichmütiger Zurückweisung, auf die ihr Vater so oft zurückgegriffen hatte, wenn er sich unangenehmen Themen gegenübergestellt sah. »Es war nichts, wirklich. Die Dummheit eines Kindes, das ist alles.«
Sein intensiver Blick sagte ihr, dass er es ihr nicht abnahm. »Damals hast du offensichtlich nicht so darüber gedacht. Wie alt warst du?«
»Oh, ich erinnere mich nicht mehr genau … vier oder fünf, denke ich.«
Sie war fünf gewesen, und es war im Frühling jenes Jahres geschehen. Kurze Zeit bevor ihre Mutter gestorben war. Ohne dass Raina sich anstrengte, konnte sie wieder die verbrannten Lavendelblätter riechen, den durchdringenden Geruch eines heilenden Rauches, der oft das Schlafzimmer ihrer Mutter erfüllt hatte. Wie auch an jenem Tag.
Gunnars Stimme brach wie ein Flüstern in ihre Gedanken ein. »Raina, Liebes, warum bist du fortgelaufen?« Er zog sie in seine Arme, hüllte sie in seine Wärme ein. »Du kannst es mir doch sagen.«
Sie holte tief Luft und barg ihre Stirn an seiner Brust. »Norworth war nicht so wie dein Zuhause. Es gab keine Picknicks, kein Geschichtenerzählen, keinen Schwimmunterricht. Mein Vater war entweder nicht da oder zu beschäftigt, um sich mit einem einsamen Kind abzugeben. Und meine Mutter verließ an den meisten Tagen kaum ihr Zimmer…«
Ohne es zu wollen, hatte Raina ihre Mutter auf der anderen Seite der spaltbreit geöffneten Tür schluchzen gehört. Sie schloss ganz fest die Augen, aber sie konnte noch immer den zierlichen Körper sehen, der in der Mitte des großen Bettes lag, mit dem Rücken zur Tür. Eine Handvoll Dienstmägde hatte sich um ihre Mutter bemüht, die vor Schmerz gestöhnt hatte, als eine der Mägde ihr sanft mit einem Tuch das Gesicht abgetupft hatte. Eine andere machte einen Kräuterumschlag um ihren verletzten Arm.
Mama, liest du mir etwas vor?
Bei ihrer Frage hatten alle Mägde zur Tür geschaut, dorthin, wo Raina stand, die Bibel ihrer Mutter in der Hand. Niemand hatte etwas gesagt. Dann war ein verzweifelt klingendes Schluchzen durch den Raum gedrungen.
Bringt sie von hier weg! Ich will Raina nicht hierhaben!
Sie zitterte bei dieser Erinnerung, und Gunnar hielt sie fest umschlungen, streichelte ihre Schulter. Sein Schweigen und seine Zärtlichkeit gaben ihr Mut. »Ich glaube, ich bin davongelaufen, weil ich das Gefühl hatte, nicht dorthin zu gehören. Ich hatte das Gefühl, ich sei unerwünscht.«
Es klang dumm in ihren Ohren, jemandem, der seine Familie durch eine sinnlose Tragödie verloren hatte, zu sagen, dass sie einfach nur wegen ihrer verletzten Gefühle hatte davonlaufen wollen. Aber dahinter steckte mehr als nur das, und aus einem unerklärlichen Grund fühlte Raina, dass sie die ganze hässliche Wahrheit mit Gunnar teilen konnte. »Ich dachte, sie wäre glücklicher, wenn es mich nicht gäbe.«
»Deine Mutter?«
Raina nickte. »Sie muss einmal glücklich gewesen sein, lange bevor ich mich an sie erinnern kann. Mein Vater sagte immer, sie sei das schönste Mädchen ganz Englands gewesen, als sie sich begegneten, aber irgendetwas muss ihr widerfahren sein. Etwas muss sie verändert haben. Vielleicht war meine Geburt auf gewisse Weise eine Enttäuschung für sie.« Diesen letzten Gedanken konnte sie nur flüsternd aussprechen, denn er beschämte und verletzte sie zu sehr.
Gunnars ungläubiger Ausruf ließ sie aufschauen. »Das kannst du doch nicht ernsthaft meinen.« Als sie ihn nur anblinzelte, lachte er mitfühlend. »Raina, ich weiß nicht, was hinter verschlossenen Türen auf Norworth vor sich gegangen ist, aber ich kann dir sagen, dass deine Geburt keine Enttäuschung für deine Mutter war.«
Sie berührte sanft seine Wange, dankbar, dass er sie zu trösten versuchte, nach allem, was ihre Familie ihm angetan hatte. »Danke, dass du das sagst, aber du kannst nicht wissen –«
»Ich weiß es«, beharrte er, »weil ich sie einmal mit dir gesehen habe.«
Raina befreite sich aus seiner Umarmung und sah ihn verblüfft an. »Wann? Und wo?«
»Es war während eines Festes auf Norworth, als ich vielleicht sechs Jahre alt war. Du warst noch ein Säugling von kaum einem Jahr, schätze ich.«
Sie konnte es kaum glauben. »Du warst in Norworth? Du erinnerst dich, mich mit meiner Mutter gesehen zu haben?«
»Aye, obwohl ich gestehen muss, dass ich als kleiner Junge nicht viel für Säuglinge übrig hatte. Bei schönen Frauen war das allerdings etwas ganz anderes. Und deine Mutter war wunderschön.« Er lächelte Raina bewundernd an. »Aber selbst sie verblasst neben dir.«
Raina ließ sich von ihm küssen, doch die Ungeduld, mehr zu hören, ließ sie den Kuss nach kurzer Zeit beenden. »Du musst mir alles sagen, an das du dich erinnern kannst!«
»Ich fürchte, viel mehr gibt es nicht zu erzählen. Einige von uns Jungen haben nach dem Essen in den Gärten Verstecken gespielt. In einem abgelegenen Teil des Gartens hörte ich plötzlich eine Frauenstimme, die Psalme rezitierte. Sie klang sehr süß und sanft.«
»Meine Mutter.« Raina wusste es, ohne zu fragen.
»Ich kroch um einen Rosenbusch herum und sah sie auf einer Bank sitzen. Sie gab dir die Brust, und auf ihrem Schoß lag aufgeschlagen eine Bibel. Sie las leise daraus vor; ihr beide wart ein Bild des Glücks. Das Bild hat sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Es war der aufrichtigste Ausdruck von Liebe, den ich je gesehen habe. Ich hab dort gestanden, habe zugehört und zugeschaut, bis einer meiner Freunde mich entdeckte und mich mit sich zu den anderen zog.« Er verstummte plötzlich. »Warum weinst du?«
»Seit sie gestorben ist, wollte ich diese Bibel schon so oft aus dem Regal nehmen und darin lesen, weil ich dachte, ich könnte dann wieder ihre Stimme hören. Und ihre Arme um mich fühlen. Ich habe bis jetzt immer geglaubt, es wäre nur Einbildung gewesen. Ein Traum.«
»Nein, es war kein Traum«, sagte er und strich ihr über das Haar.
Obwohl diese neue Wissen Raina das Herz leichter machte, tauchte aus einer dunklen Ecke ihres Bewusstseins ein bedrückender Gedanke auf. Welche Art von Albtraum hatte ihre Mutter in das traurige Geschöpf verwandeln können, an das sie sich erinnerte? Was hatte sie so viele Jahre lang wie eine Gefangene an ihr Zimmer gefesselt? Raina spürte, dass eine Erklärung in ihrem Kopf Gestalt annehmen wollte, und drängte sie zurück. Es war zu schrecklich, darüber nachzudenken.
Gunnar hob ihr Kinn und wischte eine verirrte Träne von ihrer Wange. »Die Sonne geht fast schon unter, und du hast noch nicht gesagt, welche Belohnung du für unseren Wettkampf haben möchtest«, erinnerte er sie und führte sie sanft zu weniger belastenden Dingen. »Was verlangt Ihr als Belohnung, Mylady?«
Raina hätte fast die Antwort ausgesprochen, die ihr auf der Zunge lag. Sie wollte sein Herz, seine Liebe. Aber darum konnte sie ihn nicht bitten. Sie würde es nicht ertragen können, von ihm zurückgewiesen zu werden. Stattdessen sagte sie: »Du hast diesen Tag mit mir verbracht und mir eine kostbare Erinnerung an meine Mutter geschenkt, die ich in Ehren halten kann. Das ist Belohnung genug.«
»Wenn du keine andere Belohnung willst«, neckte er sie, »dann werde ich für mich etwas verlangen.«
Raina lachte, als er sich auf sie legte. Wie von selbst spreizten sich ihre Beine für ihn, und er drang in sie ein. »Versucht Ihr, mir Angst zu machen, Mylord?«
»Du siehst nicht ängstlich aus«, scherzte er und wiederholte ihren Wortwechsel von vor einigen Stunden. »Nenn mir die Belohnung, Weib.«
»Also gut«, gab sie mit vorgetäuschter Verzweiflung nach. »Als Belohnung wünsche ich mir, für immer hier bleiben zu können.«
Lachend rollte er sich herum, zog sie mit sich, bis sie auf ihm saß, ihre Beine zwischen seinen. »Du würdest dir wünschen, diese Lichtung nie zu verlassen? Wie würden wir unsere Tage verbringen? Das würde ich gern hören.«
Er schloss die Augen, legte sich unter ihr zurecht und wartete. Raina strich ihm durchs Haar und betrachtete sein schönes Gesicht – die kleinen Fältchen in den Augenwinkeln, die glatte Stirn und die Spur von Bartschatten auf seinem wie gemeißelt aussehenden Kinn. Er war so ganz und gar Mann, und doch sah er manchmal so unschuldig aus. Sie sehnte sich danach, sich in seine Arme zu schmiegen, seinen Kummer fortzustreicheln und seine Siege mit ihm zu teilen … immer.
Und weil sie ihn so sehr liebte, öffnete sie ihm ihr Herz.
»Wir werden unsere Tage so wie diesen verbringen, ohne Störungen, ohne Sorgen. Hier draußen, wo alles frisch und grün ist und niemand uns finden kann. Wir hätten uns und brauchten nichts anderes mehr.«
»Ein schöner Gedanke, aber was würden wir essen?«, fragte er. »Und wo würden wir wohnen? So selig und glücklich, wie wir begonnen haben, so sehr werden du und dein Magen mich verfluchen, wenn der Winter kommt.«
»Du stillst meinen Appetit, und deine Arme wärmen mich. Ich schwöre, mehr Annehmlichkeiten brauche ich nicht.« Sie runzelte die Stirn und zog ihn am Ohr. »Das ist mein Wunsch. Du solltest gut zuhören, Mylord.«
»Das tue ich, Mylady … mit großem Interesse.« Sein Gesicht nahm einen verwegenen Ausdruck an. »Und jetzt erzähl mir von unseren Nächten.«
»Hmmm«, sagte Raina nachdenklich und stellte sich endlose Nächte in Gunnars Armen vor. »Unsere Nächte wären wunderbar, geradezu magisch. Du würdest mich hingebungsvoll lieben, mein Herz und meine Seele mit deiner schamlosen, süßen Folter umgarnen, und ich würde mich der Aufgabe widmen, für jede Nacht eine neue Art zu finden, dir Lust zu bereiten … etwas, das dich so wahnsinnig vor Verlangen nach mir macht, dass du nie mehr von meiner Seite weichst, auch nicht für den kürzesten Augenblick.«
Er zog ihre Hand an seine Lippen und küsste die Innenfläche. »Bei Nächten von solcher Leidenschaft kommen doch zweifellos auch Kinder in diesem Wunschtraum vor?«
»Oh ja«, fuhr sie mutig fort. »Starke, gut aussehende Söhne, die zu guten Männern heranwachsen, wie ihr Vater einer ist.«
Gunnar brummte protestierend. »Ich würde gern eine Tochter haben. So vorlaut wie du und mit der gleichen spitzbübischen Nase und mit einem Lächeln, mit dem sie ihren Vater dazu bringt, alles zu tun, was ihr Herz sich wünscht.« Eine Falte legte sich plötzlich auf seine Stirn, und er schaute finster zu ihr hoch. »Oder nein – sie hat das mürrische Aussehen ihres Vaters, denn sonst würde ich gezwungen sein, meine alten Jahre damit zu verbringen, Horden von verliebten Bauernburschen verjagen zu müssen.«
Raina kicherte, als sie sich den in die Jahre gekommenen Gunnar vorstellte, der absichtlich ahnungslose Bewerber zu Tode erschreckte. »Ihr Vater wäre der einzige Mann, für den sie Augen hätte«, beruhigte ihn Raina, »zumindest für eine gewisse Zeit.« Sie strich ihm über die Stirn und ließ die Finger durch sein Haar gleiten. »Aber eines Tages wird sie jemandem begegnen, der ihr Herz mit seiner Zärtlichkeit erobern wird, und sie wird nichts anderes mehr wollen, als jeden wachen Augenblick in seinen Armen zu verbringen.«
Er schwieg einen Moment, bevor er fragte: »Und was geschieht, wenn kein Mann Gnade vor den Augen ihres Vaters findet?«
»Dann wird das Herz ihres Vaters mit Gewissheit brechen, denn eine Liebe, die so stark und so wahrhaftig ist wie ihre, braucht keine Erlaubnis. Sie weiß nur, dass es so sein muss.« Raina hielt den Atem an in der Stille, die folgte. Sie war sich ganz und gar bewusst, dass sie genauso gut von sich und Gunnar hätten sprechen können.
»Ach Lämmchen«, sagte er schließlich. Er küsste ihre Hand und legte sie auf sein Herz. »Wünsche können etwas sehr Gefährliches sein. Und das Träumen macht es nur umso schwerer, die Wirklichkeit zu akzeptieren.«
Raina glitt von ihm herab und legte sich neben ihn. Gunnar stützte sich auf den Ellbogen und schaute auf sie hinunter. »Wir können uns an Wünschen und Träumen nicht festhalten, aber wir können uns aneinander festhalten. Halt mich jetzt.« Der zärtliche Ausdruck in seinen Augen vertiefte sich, und er drückte sie mit seinem ganzen Gewicht auf die Decke. Raina klammerte sich an ihn und hielt ihn fest, als er sie auf die einzige Weise liebte, zu der er den Mut hatte.