21

Norworth ragte unheilvoll in den hellen Mittagshimmel auf, als Raina und ihre beiden Begleiter den Wald verließen, der den weitläufigen Burgberg und das geschäftige Dorf zu dessen Füßen umgab. Die beiden Reisetage waren schneller vorübergegangen, als Raina erwartet hatte, und das hatte zum großen Teil an Wesleys unermüdlichen Anstrengungen gelegen, sie mit Späßen und Liedern aufzuheitern.

Jetzt, da sie ihr Ziel erreicht hatten, konnte jedoch nichts mehr Rainas Stimmung heben. Wesley spürte vermutlich ihre Furcht, denn er brachte sein Pferd neben ihr zum Stehen und legte ihr behutsam die Hand auf den Arm. »Ihr seid wieder zu Hause, Mylady, unversehrt und gesund.«

Raina nickte geistesabwesend, während sie auf die Burg blickte, die ihr ganzes Leben lang ein sicherer Hafen für sie gewesen war. Seltsam, dass die hohen Türme und die eindrucksvolle Fassade ihr nicht länger ein Heim bedeuteten. Ihr Herz hatte seine Heimat in den Ruinen einer Burg im Norden gefunden, bei einem rebellischen Ritter.

Sie wandte sich an Wesley und Cedric und war fast entschlossen, die beiden zu überreden, sie wieder mit zurückzunehmen. Aber da erklang in der Ferne das Signal des Trompeters und verkündete, dass Besucher sich der Burg näherten, fast so, als wollte er ihr sagen, dass es für eine Umkehr zu spät sei.

»Lord Gunnar hat mich gebeten, Euch das hier zu geben, nachdem ich Euch nach Hause gebracht habe, Mylady.« Wesley zog ein kleines Stück zusammengefalteten Stoff unter seinem Umhang hervor. Eine dünne Lederschnur war um das Päckchen gewickelt. »Er bittet Euch, es sicher für ihn zu verwahren.«

Raina nahm das kleine Geschenk mit bittersüßer Dankbarkeit entgegen und hätte am liebsten sofort nachgesehen, was darinnen war. Aber sie wollte diesen Moment mit niemandem teilen. Was Gunnar ihr auch gegeben hatte, sie würde es für immer in Ehren halten.

»Reitet jetzt weiter«, sagte Cedric, als Raina Wesley rasch umarmte. »Euer Vater wartet gewiss schon auf Euch.«

Raina nickte widerstrebend und ritt bis zu der Lichtung am Fuß der Burg. Dort wandte sie sich um und hob die Hand, um den beiden Männern ein letztes Lebewohl zuzuwinken. Sie sah ihnen nach, bis ihre Silhouetten mit dem Grün des Waldes verschmolzen waren, und dachte verzweifelt an alles, was sie verlassen hatte. Erst als sie die beiden Ritter nicht mehr sehen konnte, wandte Raina ihre Aufmerksamkeit Norworth zu.

Der Wehrgang schien vor Geschäftigkeit zu wimmeln, während Wachen sich hinter den Brustwehren sammelten, um ihr Näherkommen zu bejubeln. Eine Stimme erhob sich über die anderen, und Raina entdeckte ihren Vater, der sich seinen Weg durch die Menge bahnte, die sich auf dem Turm versammelt hatte.

»Raina!«, rief er und stützte sich zwischen zwei Zinnen auf die Mauerbrüstung und spähte zu ihr herunter. »Oh, gepriesen sei Gott, es ist meine Raina!«

Ihr gebrochenes Herz machte einen kleinen Sprung, als sie das Gesicht ihres Vaters sah, seine Stimme hörte trotz allem, was sie über ihn erfahren hatte. Trotz allem, was er getan hatte, war er alles, was sie hatte. Und sie brauchte seinen Trost heute mehr denn je.

»Vater!«, rief sie und drängte ihr Pferd zum Galopp, während er sich von der Brustwehr abwandte und zum Turm eilte.

Kurz darauf durchritt Raina den Schatten des Tores und überquerte die Zugbrücke, die zum inneren Burghof führte. Ihr Vater, der hager und ausgezehrt aussah, erschien in der Tür des Turmeingangs. Sein spärliches Haar bildete einen wirren Kranz um seinen Schädel, seine Kleider waren zerknittert und schlimmer verschmutzt als ihre. Er stolperte die breite Steintreppe hinunter, dann betrat er schwerfällig den Hof, während Raina ihr Pferd zum Stehen brachte und aus dem Sattel glitt. Sie warf sich in seine ausgebreiteten Arme.

Die Tränen ihres Vaters flossen so reichlich wie ihre und netzten ihre Schulter, als er das Gesicht an ihrem Hals verbarg und wie ein kleines Kind weinte. Raina hielt ihn fest, beruhigte sein heftiges Schluchzen mit den trostreichen Worten, dass sie unbeschadet zurück sei.

Als er sich an sie klammerte und an ihrer Schulter unzusammenhängende Worte murmelte, bemerkte Raina mit einem Gefühl der Überraschung, dass er sich in den letzten Tagen nicht gewaschen hatte und, vielleicht noch beunruhigender, stark nach Wein roch. Wäre er jemand anders gewesen, hätte diese Feststellung sie nicht sonderlich beunruhigt, aber er war ihr Vater, ein Mann, der niemals trank. Sie fühlte sich plötzlich schrecklich schuldig, denn vermutlich hatte die Angst, sie verloren zu haben, ihn dazu getrieben während sie sich in den Armen seines Feindes vergnügt hatte.

Sie erflehte den Beistand des Himmels, als sie den Beschluss fasste, es ihm zu sagen. Sie musste ihm alles sagen. Sie schob ihren Vater ein Stück von sich weg, strich ihm über die Stirn und streichelte seine faltige Wange. »Ach Vater, es gibt so vieles, das Ihr erfahren müsst.«

Er nickte geistesabwesend, seine Miene war ausdruckslos, blicklos. »Aye, natürlich, natürlich.«

Die Menschen, die Rainas Ankunft vom Turm aus verfolgt hatten, versammelten sich jetzt auf dem Burghof, umringten sie und ihren Vater und stellten aufgeregt Fragen, um alle Einzelheiten über die Entführung zu erfahren und wie es ihr gelungen war, ihrem Entführer zu entkommen. Raina beantwortete keine dieser Fragen, sie beobachtete nur das sonderbare Verhalten ihres Vaters mit großer Sorge.

»Vater, bitte«, sagte sie leise, »was ich zu sagen habe, muss ohne Zeugen gesagt werden.«

Bei ihrer drängenden Bitte wurde ihr Vater plötzlich aufmerksam. Er legte beschützend den Arm um ihre Schultern, führte sie durch die aufgeregte Menge und gebot allen, ihnen aus dem Weg zu gehen, als sie auf den Turm zugingen. »Aus dem Weg!«, bellte er. »Seht ihr nicht, dass meine Tochter müde ist? Fort, fort! Ich will mit ihr allein sein!«

Er führte sie in den Turm, vorbei an der großen Halle und in sein Zimmer. Raina blieb mitten im Raum stehen, als er sich umwandte und die Tür hinter sich schloss. Sie war bestürzt, als sie sah, was in der Zeit ihrer Abwesenheit aus seinem stillen Hafen geworden war.

Ein Tablett mit Essensresten stand in der Ecke neben einer verschütteten Flasche Wein. Es schien, dass nahezu jeder Becher der Burg seinen Weg in dieses Gemach gefunden hatte, einige von ihnen standen in einer sorgsam ausgerichteten Reihe auf dem Fenstersims, andere lagen unbeachtet dort, wo sie umgekippt waren. Ein Frösteln überlief Raina, als sie sich umwandte und ihren Vater ansah, der nur noch wie der Schatten des Mannes aussah, den sie vor gerade einmal einer Woche hier zurückgelassen hatte. Sie schlang die Arme um sich, obwohl sie wusste, dass sie nichts Tröstendes in dieser Geste finden würde.

»Dir ist kalt«, verkündete er und kniete sich vor den Kamin. Er keuchte plötzlich, dann streckte er die Hand aus und griff nach einem angekohlten Gegenstand. Er drückte ihn fest gegen seine Brust, als wollte er ihn verbergen, dann wandte er sich Raina zu und sah sie schuldbewusst an. »Ich wollte sie nicht verbrennen«, flüsterte er heftig und schüttelte den Kopf wie ein reumütiges Kind. »Wirklich, ich wollte es nicht!«

Raina trat näher, um zu sehen, was er in der Hand hielt, und wäre fast in Tränen ausgebrochen. Er hatte die Bibel ihrer Mutter ins Feuer geworfen.

Sein Kinn zitterte, als er sie ihr hinstreckte, als gäbe er ihr einen kleinen Vogel, der aufgepäppelt werden musste. Ruß bedeckte die Vorderfront seiner Tunika und hatte dort Flecken auf seinem Kinn hinterlassen, wo das Buch es berührt hatte. »Es tut mir leid, Margareth«, murmelte er und blinzelte Raina an. »Es tut mir so leid.«

Die Bibel entglitt seinen zitternden Händen und öffnete sich, als sie auf dem Boden aufschlug. Die herrlich illuminierten Seiten, die Raina in ihrer Kindheit so viel Freude gemacht hatten und die ihr jetzt so sehr viel mehr bedeutet hätten , waren nicht mehr voneinander zu unterscheidende Fetzen aus Farbe inmitten einem Meer aus Schwarz, die Ränder weggefressen vom Feuer. Die letzte Erinnerung an ihre Mutter war für immer zerstört.

»Ich habe alles kaputt gemacht«, murmelte ihr Vater. Er kauerte vor dem Kamin und hatte die Hände an die Schläfen gepresst. Er schüttelte wehmütig den Kopf. »Kannst du mir je verzeihen?«

Raina kniete sich neben ihn und nahm seine schmutzige runzlige Hand in die ihre. »Lieber Vater, was ist hier geschehen? Was ist mit Euch geschehen?«

»Nichts, Kind«, murmelte er undeutlich. »Nichts von Bedeutung, jetzt, da du wieder daheim bist.«

Er wollte sie umarmen, doch Raina entzog sich ihm, fasste ihn an den Schultern. »Ihr müsst aufhören, mich vor der Wahrheit zu beschützen«, sagte sie. »Seht mich an, bitte, und seht mich so, wie ich bin. Ich bin kein Kind mehr, das Euren Schutz braucht.«

Er runzelte die Stirn, dann stand er auf. Er richtete eine umgefallene Weinflasche auf und sah Raina bedeutungsvoll an. »Ich hatte niemals vor, in meine alten Gewohnheiten zu verfallen, aber der Gedanke, dich zu verlieren « Seine Stimme brach, und er holte zittrig Atem. »Ich bin ein schwacher Mann, Tochter. Ich konnte es allein nicht ertragen.«

Raina spürte Tränen in sich aufsteigen. »Es tut mir leid, dass Ihr Euch meinetwegen Sorgen gemacht habt. Es tut mir sehr leid, dass Ihr so viel Leid ertragen musstet.«

Er lachte bitter und schüttelte den Kopf. »Du beschämst mich, wenn du dich für das entschuldigst, was ich über dich gebracht habe, Raina. Es bricht mir das Herz, mir vorzustellen, was du erduldet haben musst « Ein Schluchzen erschütterte seine gebeugten Schultern.

Raina dachte an die Zeit, die sie fern von Norworth verbracht hatte, und daran, was sie ihr jetzt bedeutete. »Ich habe nichts erdulden müssen, Vater. Gunnar ist ein guter Mann; er war sehr freundlich zu mir.«

Der Baron hob langsam den Kopf. Er sah sie aufmerksam an, als seine Augenbrauen sich in dämmerndem Begreifen zusammenzogen. »Er, Gunnar, hat dich freundlich behandelt «

»Ja«, erwiderte sie leise und vertraute darauf, dass er die Wahrheit erkannte.

Er schien lange über ihre Worte nachzudenken, dann fragte er schlicht: »Hat er dir von mir erzählt? Ich kann mir vorstellen, dass du schreckliche Dinge zu hören bekommen hast.«

»Ja, Vater, ich habe schreckliche Dinge gehört. Ich weiß, was zwischen Euch und den Rutledges geschehen ist, aber ich möchte, dass Ihr mir sagt, warum es dazu gekommen ist.« Als er sie nicht ansah, drängte sie ihn: »Was geschehen ist, ist geschehen. Ihr könnt es nicht ändern, aber Ihr könnt Euch auch nicht länger davor verstecken. Ich bin Eure Tochter, und ich liebe Euch. Ich verdiene es, die Wahrheit zu erfahren.«

Er lächelte reumütig und legte für einen Moment die Hand an ihre Wange. »Du bist der einzige Teil von ihr, den ich je festhalten konnte, der einzige Teil von ihr, der mich je geliebt hat.«

Bei der Erwähnung ihrer Mutter begann sich etwas Beunruhigendes in Rainas Magen bemerkbar zu machen. »In welchem Zusammenhang steht meine Mutter mit dem, was zwischen dir und den Rutledges geschehen ist? Was hat sie mit alledem zu tun?«

»Sie hat alles damit zu tun und auch gar nichts.« Seine Stimme wurde zu einem Flüstern. »Ich wünschte, sie hätte mich geliebt, ein wenig nur. Ich hätte mich damit zufriedengegeben.«

Raina schloss die Augen, als sie dieses Eingeständnis hörte, eine weitere Unwahrheit. Ihr Vater hatte ihr immer erzählt, seine Ehe sei eine Liebesheirat gewesen und es wert, von Barden besungen zu werden. War überhaupt irgendetwas, das sie geglaubt hatte, wahr?

»Ich habe dich in vielen Dingen belogen, weil ich mich geschämt habe, Tochter. Erst jetzt begreife ich die wahre Bedeutung dieses Wortes.« Er entfernte sich einige Schritte von ihr, als könnte er nicht sagen, was gesagt werden musste, wenn er ihr dabei in die Augen sah.

»Entgegen dem, was ich dir erzählt habe, hat deine Mutter mich nicht aus freiem Willen geheiratet. Sie war mit einem anderen verlobt, als ich ihr das erste Mal begegnete. Die liebreizende Margareth das schönste Geschöpf, das ich je gesehen habe. Schon im allerersten Augenblick hatte ich beschlossen, dass sie mir gehören sollte. Sie liebte einen der Ritter ihres Vaters, aber er besaß weder Land noch hatte er Aussichten auf Ruhm oder Wohlstand. Zu meinem Vorteil war ihr Vater ein verschrobener Mann, dem Ehrgeiz viel bedeutete. Was mir an Reichtum fehlte, machte ich durch Tatendrang und Strebsamkeit wett. Er versprach mir ihre Hand, und in den darauffolgenden Wochen wurden wir getraut.

Unsere Heirat war der Anfang meines Abstiegs. Sie war so edel, ging all ihren Pflichten mit Anmut nach. Für jeden, der uns sah, waren wir das Bild ehelicher Harmonie. Niemand außer uns beiden wusste, welche Farce es war. Wir sprachen kaum miteinander, abgesehen von Dingen des Haushalts. Nach einigen Jahren erreichte uns die Kunde, dass der Ritter, den sie geliebt hatte, in einer Schlacht gefallen war. Während sie weinte, freute ich mich darüber, weil ich hoffte, dass ich sie jetzt endlich für mich gewinnen konnte.«

Raina litt aufgrund des Verlustes ihrer Mutter, aber sie streckte die Hand nach ihrem Vater aus, um ihn zu trösten. Sie hatte nicht gewusst, was für ein schwacher Mensch er war. »Ach Vater, wie muss es Euch geschmerzt haben, mit diesen Gefühlen zu leben.«

»Weine nicht meinetwegen«, sagte er schroff. »Das Schlimmste hast du noch nicht gehört. Nach dem Tod dieses Mannes wollte sie eigentlich nicht mehr leben. Sie zog sich von allem zurück, was ihr Freude gemacht zu haben schien. Ihr Lächeln, das ohnehin nur selten zu sehen war, verschwand ganz, ebenso ihr Weinen. Sie war nur noch die Hülle der Frau, die mich so gefangen genommen hatte. Aber ihre Schönheit blieb unverändert, und andere Männer warben um ihre Gunst.«

Er sah Raina an und seufzte traurig. »Als sie mit dir schwanger wurde, sah ich das als Hoffnung für etwas, das wahr werden könnte. Der Gedanke an ein Kind brachte Freude in ihr Leben und in meines. Aber unser Glück sollte nicht lange währen. Ich will verflucht sein, aber ich habe es nicht zugelassen; ich konnte einfach nicht glauben, dass es dieses Glück wirklich gab. Nach deiner Geburt immer wenn ich dich angesehen habe habe ich in dir jeden Bauernburschen gesehen, der es gewagt hatte, sie in unseren gemeinsamen Jahren anzusehen. Eifersüchtige Verdächtigungen verschlangen mich. Ich konnte meine Zweifel nicht abschütteln, und deshalb habe ich sie dafür bestraft.«

Raina schloss die Augen, als die Bedeutung seines Geständnisses ihr bewusst wurde. Hier war sie, die Antwort auf das Rätsel, auf die Verzweiflung ihrer Mutter, die Erklärung für ihre selbstauferlegte Einsamkeit. Jetzt ergab alles einen Sinn: die endlosen Tage, in denen ihre Mutter sich in ihrem Zimmer eingeschlossen hatte, das ständige Abbrennen von Kräutern, die Hausmädchen und ihre durchdringend riechenden Salben. Die vielen Male, in denen ihre Mutter sie ausgeschlossen, sie fortgeschickt hatte. Es war nicht geschehen, weil sie Raina nicht geliebt hatte. Sie hatte nur nicht gewollt, dass ihre Tochter sah, was sie erleiden musste. »Ihr habt sie geschlagen. Wie konntet Ihr das nur tun?«, fragte Raina wie betäubt.

»Ich wollte ihr wehtun, so, wie der Gedanke, dass sie mit anderen zusammenkam, mir wehtat. Ich wusste, dass es falsch war, aber ich konnte mich nicht beherrschen. Sie schwor stets, unschuldig zu sein, aber in jedem Mann, der sie auch nur ansah, vermutete ich einen Liebhaber. Niemand hat mich damals vom Gegenteil überzeugen können, obwohl viele es versucht haben.«

»Und die Rutledges?«

»Ich bestand darauf, dass deine Mutter mich nach Wixley zu einem Turnier begleitete. Bald nach unserer Ankunft entdeckte sie ihren Cousin und verließ unsere Loge, um sich mit ihm zu unterhalten. Als ich sie das nächste Mal sah, stand sie neben William Rutledge. Sie hatte sich den Schuh beschmutzt, und er war stehen geblieben, um ihn mit dem Saum seines Umhangs zu reinigen. Sie schenkte ihm ein Lächeln, für das ich mit Freuden ein ganzes Dutzend Männer getötet hätte wenn sie mich nur ein einziges Mal so angelächelt hätte.« Sein leises Lachen klang spröde und bitter. »Ganz gleichgültig, was ich für sie tat, ich traf stets auf Gleichgültigkeit, und nun veranlasste die simple Geste eines relativ Fremden sie zu einer solchen Gunstbezeugung.«

Er schwieg, und ein schmerzlicher Ausdruck trat auf sein Gesicht. »Ich war verrückt vor Wut. Rutledge und ich traten beim Turnier gegeneinander an; er ahnte nichts von meinen mörderischen Absichten. Als die Gelegenheit kam, seinen Stoß entweder abzuwehren oder meinen todbringenden zu führen, habe ich mich für Letzteres entschieden. Deine Mutter war entsetzt über mein Handeln, denn sie kannte den Grund. Sie hat es mir zurückgezahlt indem sie sich an demselben Abend das Leben nahm.«

Der Streit, den Raina als Kind mit angehört hatte, stand mit verstörender Klarheit wieder vor ihr: die frühe Rückkehr ihrer Eltern vom Turnier, die Anschuldigungen, das Schreien

»Es war, als müsste ich ihr etwas beweisen, als müsste ich ihr sagen, dass sie ganz und gar mein war, auch wenn ich sie nicht dazu bringen konnte, mich zu lieben. Sie hat mir das Gegenteil bewiesen und mich mit einem kleinen Kind zurückgelassen und mit einer Lücke in meinem Herzen, die schmerzhaft danach verlangte, geschlossen zu werden. Ich wandte mich an den anderen Menschen, der durch mich einen Verlust erlitten hatte Rutledges Witwe. Ich war nicht überrascht, als sie mich abwies, aber mein Zorn darüber war stärker als meine Vernunft, und ich belagerte Wynbrooke, um ihren Willen zu brechen. Sie wollte sich nicht ergeben, deshalb zerstörte ich sie auf die Weise, wie ich deine Mutter nicht hatte zerstören können. Sie verlor ihr Leben. Ihr Sohn war dabei und wurde Zeuge meines Verbrechens gegen sie «

»Gunnar«, flüsterte Raina und fühlte eine Träne über ihre Wange laufen.

»Meine Ritter sagten mir, er sei tot, gefallen durch einen Schwerthieb.« Der Baron wurde sehr still, nachdenklich. »Als ich auf das Gemetzel schaute, für das ich die Verantwortung trug, konnte ich überhaupt nicht fassen, was ich getan hatte. Ich war entsetzt. Als ich nach Norworth zurückkam, schwor ich mir, mich zu ändern. Ich schwor mir, ein besserer Mensch zu werden für dich. Alles, was ich wollte, war, deiner Liebe würdig zu sein.«

»Eure Vergangenheit zu leugnen und Lügen unter noch mehr Lügen zu begraben, ist keine Art zu leben, Vater. Ich kann Euch nicht sagen, dass ich es damals verstanden hätte ich weiß nicht einmal, ob ich es jetzt begreifen kann, aber ich hätte es sehr zu schätzen gewusst, wenn Ihr mir die Wahrheit gesagt hättet. Ihr habt mir nie eine Chance gegeben, zu einem eigenen Urteil zu kommen.«

»Oh Raina! Was kann ich tun, um es wiedergutzumachen?«

»Ihr könnt Euch morgen mit Gunnar treffen«, erklärte sie frei heraus. »Ihr könnt ihm sagen, was Ihr eben mir gesagt habt. Und Ihr könnt ihn um Vergebung bitten.«

Ihr Vater runzelte die Stirn. »Hat er dich deswegen zu mir geschickt, damit du mich bittest, ihn zu treffen?«

Sie hörte den Argwohn und das Misstrauen in seiner Stimme und fühlte einen Stich von Mitleid. Hier war ein Mann, der sein Leben in der ständigen Furcht vor Entdeckung gelebt hatte, der nie sicher sein konnte, wo seine Feinde lauerten und wann sie auftauchen würden. Jetzt schien er sich sogar über ihre Beweggründe unsicher zu sein. »Er hat mich heimgeschickt, um Euch zu zeigen, dass er bereit ist, Euch Gehör zu schenken. Er hat gesagt, wenn Ihr Ehre im Leib hättet, würdet Ihr morgen nach Wynbrooke kommen, ob ich seine Geisel sei oder nicht. Er vertraut darauf, dass Ihr das Richtige tut und ich vertraue auch darauf.«

Raina ließ ihren Vater in der Mitte seines Zimmers stehen und stieg die Treppe hinauf, die zu ihrem Zimmer führte. Sie ließ sich ein Bad bereiten und frische Kleider herauslegen, dann wartete sie, bis die Mädchen gegangen waren. Erst dann holte sie das kleine Geschenk Gunnars hervor. Sie setzte sich in das warme, nach Rosen duftende Wasser und hielt das Päckchen in ihrer Hand, dann löste sie die Lederschnur und öffnete vorsichtig den gefalteten Stoff.

Ihr stockte der Atem Liebe und Freude und Kummer verbanden sich miteinander , als sie Gunnars kostbares Geschenk betrachtete. Die beiden Rubinringe funkelten in einem Lichtstrahl, der durch das Fenster hereinfiel. Sie erinnerten sie an alles, was sie mit ihm geteilt hatte. An alles, was sie verloren hatte.

Verwahrt sie sicher für ihn, hatte Wesley gesagt. Aber was bedeutete das? War es Gunnars Art, für immer Lebewohl zu sagen, oder das Versprechen, dass er eines Tages zu ihr zurückkehren wollte?

Raina konnte den Gedanken nicht ertragen, ihn nie wiederzusehen. Und sie würde es auch nicht ertragen, sich den kleineren Ring anzustecken, bevor Gunnar nicht das Gegenstück trug. Sie weigerte sich, ihre Hoffnungen aufzugeben, wehrte sich gegen die Tränen, die sie zu überwältigen drohten. Sie würde sich nicht der Verzweiflung hingeben, und sie würde Gunnar niemals aufgeben.

Sie zog die Lederschnur durch die beiden Ringe, legte sie sich um den Hals und verknotete die Enden miteinander. Die kühlen Goldreifen ruhten zwischen ihren Brüsten, nahe an ihrem Herzen, und dort, so schwor Raina es sich, würden sie bleiben, bis sie Gunnar wiedersah. Und sollte es ein Leben lang dauern.