ZWEITES KAPITEL

Ain Suleiman

Westliche Wüste

18. Mai 1942

 

Als sie sich der Oase näherten, erwachte der verschlafene Ort durch das Heulen der Motoren zu hektischem Leben. Hunde bellten. Männer stürzten aus den niedrigen Zaribas hervor und zogen blaue Tücher über die Gesichter. Andere kamen von weiter weg herbeigelaufen, wo sie die Kamele versorgt hatten. Ihnen folgten Frauen in schwarzen Tüchern und Kinder jeden Alters, einige bekleidet, die jüngsten nackt.

Gerald schoss plötzlich durch den Kopf, dass er und seine Männer die ersten fremden Wesen sein könnten, die diese Menschen je gesehen hatten. Dann mussten die LKWs, mit denen sie von der Düne herab auf sie zurollten, ihnen wie schreckliche Monster aus den Tiefen der Hölle vorkommen. Er befahl Leary anzuhalten und gab auch Bill Donaldson im zweiten Chevvy das Zeichen, auf die Bremse zu treten. Bei diesem Manöver versanken die Räder fast bis zu den Achsen im weichen Sand.

»Motor abschalten!«, befahl Gerald. Beide Maschinen verstummten. Schweigen breitete sich aus, so tief und weit wie der Ozean, nur unterbrochen von den Schreien der Kamele und dem Gebell der Hunde. Über der Oase kreisten Hunderte kleiner Vögel. Im Westen färbte sich die Sonne rotgolden und sank langsam in den heißen Dunstschleier herab, der über dem ganzen Horizont lag.

Gerald stieg aus und befahl den anderen, es ihm gleichzutun, aber die Waffen an Bord zu lassen.

»Tut nichts, um die Leute zu erschrecken«, ordnete er an. »Das Reden überlasst mir. Clark, Sie bleiben hier und sichern uns mit dem Maschinengewehr.«

Sie setzten sich in Bewegung. Gerald schritt als Erster selbstsicher auf die Gruppe von Tuareg-Männern zu, die sich vor den Frauen und Kindern zu deren Schutz aufgebaut hatten. Sie alle waren in den Tagelmoust gehüllt, die indigofarbene aufwendige Kopfbedeckung, die nur die Augen frei lässt.

Gerald wandte sich um und rief Max Chippendale zu sich.

»Max, sehen Sie den Kerl ganz vorn? Er gehört den Imashaghen, der herrschenden Klasse, an. Der Kleinere zu seiner Rechten ist der Anislem, der Priester. Auf den müssen wir aufpassen. Wenn es Ärger gibt, dann steckt er dahinter.«

Die Tuareg warteten geduldig, bis die fünf Soldaten näher kamen. Es waren sämtlich schlanke, hochgewachsene Gestalten mit den scharfen grauen Augen der Wüstenbewohner. Hinter den Imashaghen standen ihre Gefolgsleute, während sich ein paar schwarze Sklaven zusammen mit den Frauen und Kindern furchtsam bei den Hütten drängten. Wenn Geralds Schätzung zutraf, lebten in der Ansiedlung etwa einhundert Seelen und vielleicht dreißig Kamele.

Als die Soldaten auf die Oase zuschritten, spürten sie nach dem langen Aufenthalt in der Wüste sofort, wie die Luft sich veränderte. Zuvor ätzend und trocken, wurde sie nun feucht und sanft, schmeichelte ihren Lungen wie Balsam oder Öl von den Olivenbäumen, die am jenseitigen Ufer des kleinen Sees wuchsen. Gerald atmete tief durch. Er hatte nur wenige Augenblicke, um den Anführer der Tuareg zu überzeugen, dass sie in guter Absicht kamen. Kurz überschlug er, welchen Teil ihrer Rationen sie als Geschenk zum Zeichen ihres guten Willens entbehren konnten. Jeder der Tuareg-Männer trug ein kurzes Schwert an seinem linken Schenkel, und Gerald wusste, dass sie hervorragende Kämpfer waren, die auch mit dieser einfachen Waffe schreckliche Wirkungen erzielten. Außerdem notierte er bei sich, dass bei zwei der Imashaghen Gewehre, italienische Karabiner Carcano M91/38, hinter der Schulter hervorlugten.

Wenn es Ärger geben sollte, hatten er und seine Männer ihre Dienstpistolen und Teddy Clark, der das Browning-MG mit fester Hand zu führen verstand. Ein Massaker war das Letzte, was er sich wünschte. Wenn er die Wahl zwischen dem Leben eines seiner Soldaten und eines Angreifers hatte, dann wusste er, wofür er sich entschied. Aber er war sich nicht sicher, wie er weiter damit leben würde.

»Al-salam alaykum«, rief er den überall gültigen muslimischen Gruß und fügte auf Tamasheq hinzu: »Ma toulid?«

Der Mann in der Mitte, der seine Brüder weit überragte, musterte ihn unverwandt hinter seinem blauen Tuch. Er durchbohrte ihn förmlich mit seinen Augen, die weder nach links noch nach rechts abschweiften. Gerald stand stocksteif da und wartete auf eine Antwort.

Der Anislem, einen Koran demonstrativ in der rechten Hand, reckte sich zur Seite und flüsterte kurz etwas ins Ohr seines Herrn. Hinter Gerald waren die Soldaten zum Stehen gekommen. Er glaubte ihre Nervosität körperlich zu spüren, vielleicht war es aber auch nur seine eigene. Mit diesen Männern hatte er die aufregendsten Tage seines jungen Lebens verbracht. Sie hatten gemeinsam gekämpft, in denselben Sand gepisst, sich gegenseitig vor Fliegen geschützt und von Läusen gereinigt, waren gemeinsam auf der Suche nach Frauen ins Bordell gegangen. Wieder und wieder hatten sie zusammen die Wüste durchstreift und waren stets lebend zurückgekehrt.

Gerald wartete geduldig auf eine Antwort. Die Menschen in der Wüste lebten in einem fast zeitlosen Raum, wo sich von einem Jahr zum anderen, von einem Jahrhundert zum anderen kaum etwas veränderte. Kein Tuareg ließ sich von Fremden drängen. Schließlich aber fasste der Anführer einen Entschluss.

»Alaykum al-salam«, antwortete er. »Al-khayr ras, al-hamdu li’llah

Langsam und mit Unterbrechungen erklärte Gerald nun, wer er sei und woher er mit seinen Männern komme. »Min al-Qahira«, sagte er, »von Kairo.« Selbst hier, tief in der Wüste, war Kairo ein Begriff. Der Tuareg hörte gleichmütig zu. Sein Blick verriet weder Kälte noch Wärme. Die übrigen Imashaghen warteten ab. Keiner rührte sich vom Fleck oder hob auch nur die Hand, um die Fliegen zu verscheuchen, die sie umschwärmten. Das waren Kel Tamasheq, sie standen stramm wie Gardesoldaten und blickten ohne erkennbare Regung starr vor sich hin.

»Menschen haben dieses Land erreicht, die keine Freunde der Muslime sind«, erklärte Gerald. »Sie verachten die Araber, weil sie angeblich einer minderwertigen Rasse angehören, sie hassen die Schwarzen, weil sie keine weiße Haut haben, sie schauen auf die Berber, die Tibu und die Kel Tamasheq herab, weil sie auf Kamelen reiten. In meiner Sprache nennt man diese Leute die Deutschen. Mein Volk ist hierhergekommen, um Krieg gegen sie zu führen. Wenn sie den Krieg gewinnen, dann werden sie die Moscheen zerstören, die Gebildeten töten und alle Muslime zu Sklaven machen. Sie werden Soldaten in die Wüste schicken, eure Frauen und Kinder als Sklaven in ihr Land verschleppen, wo es immer dunkel und kalt ist.

Meine Landsleute sind keine Muslime, aber wir sind das größte Volk der Erde und waren immer Freunde der Muslime, wohin wir auch gingen. Wir sind gekommen, um mit euch zu sprechen. Wir brauchen eure Hilfe, um diesen Krieg zu führen, und wir bringen Geschenke zum Zeichen unserer Freundschaft.«

So redete er etwa zehn Minuten lang. Die Tuareg ließen nicht erkennen, was sie dachten. Vielleicht machten sie sich innerlich über ihn lustig. Oder überlegten, wie sie ihn töten könnten.

Der Anislem, ein gebildeter Mann, der den Koran und die Traditionen des Propheten in den Schulen von Timbuktu studiert hatte, musterte die Ungläubigen eingehend. Sein Rang war an den Ledertäschchen mit dem Koran und anderen heiligen Schriften zu erkennen, die er über seine Schultern geschlungen trug. In der linken Hand hielt er einen Rosenkranz aus Bernstein, dessen Kugeln er in seinen knorrigen Fingern drehte. Sein Name war Scheich Harun agg Da’ud. Er hatte viele Jahre unter den Kel Adrar in Ghadames weiter im Norden gelebt. Seit langem diente er den Menschen von Ain Suleiman, zelebrierte Hochzeiten, begrub die Toten, schrieb Koranverse, die als Amulette getragen wurden, und führte die alten Tifinagh-Schriften fort, die die Geheimnisse der Oase enthielten. In diesen Fremden sah er wie in den Italienern, denen er in Ghadames, und den Franzosen, denen er in Timbuktu begegnet war, eine Bedrohung seines Ansehens und seiner Autorität.

Als Gerald geendet hatte, bewahrte der Anführer eine Weile Schweigen. Gerüchte von dem Krieg im Norden waren bereits zu ihm gedrungen, aber er wusste nicht, wer dort gegen wen kämpfte, und das Ergebnis war ihm gleichgültig. Vielleicht sagte der Fremde die Wahrheit, vielleicht auch nicht. Immerhin war er ein Ungläubiger, der Erste, den er in seinem Leben sah.

Gerald flüsterte Leary zu, er möge mit Bill Donaldson zu den LKWs zurückgehen und ein paar Dinge als Geschenke bringen. Das Schweigen hielt an.

Die Männer waren mit einem Armvoll einfacher Dinge bald zurück. Die legten sie vor dem Anführer nieder. Gerald präsentierte die krude Mischung militärischer Habseligkeiten eine nach der anderen: zwei Paar Wüstensandalen indischen Ursprungs, die jeder Soldat trug, einen von den Deutschen erbeuteten Kanister, eine Sandbrille für den Anführer, den kleinen Wüstenherd aus Donaldsons Wagen, ein Zelt und ein paar von ihren Verpflegungsrationen.

Am Ende nahm Gerald seine eigene 38er Smith & Wesson ab und hielt sie dem Anführer samt Tasche und Halfter hin.

»Ich zeige dir, wie man sie lädt und damit schießt«, sagte er dabei.

Sein Gegenüber bewegte sich immer noch nicht. Selbst der ärmste Tuareg hatte seinen Stolz. Gerald musste warten. Auf den Dünen tanzten Sandschleier in einer leichten Brise. Die Palmen raschelten mit ihren Wedeln. Irgendwo schrie ein Baby. Es dürfte nicht schwer sein, den Ort mit Gewalt zu erobern, dachte Gerald. Auf jeden Chevvy waren zwei luftgekühlte 30er Browning-MGs montiert. Ein Kommandeur der Waffen-SS hätte sie sicher eingesetzt. Gerald betete inbrünstig, das nicht tun zu müssen.

Dann streckte der Anführer der Tuareg die Hand aus und nahm die Waffe entgegen.

»Danke«, sagte er. »Ich schätze das sehr. Wie auch alle anderen Geschenke.«

»Es wird mehr und bessere geben, wenn du uns hilfst.«

»Mein Name ist Si Musa agg Isa Iskakkghan. Ich herrsche über diese Oase. Du und deine Männer sind uns willkommen. Über die anderen Dinge reden wir später.«

In diesem Augenblick kam eine junge Frau, die sich bisher mit den anderen im Hintergrund gehalten hatte, nach vorn gelaufen. Sie war sichtlich erregt, und als Gerald genauer hinsah, bemerkte er, dass dies auch auf die anderen Frauen zutraf.

»Si Musa!«, rief sie. »Frag die Fremden, ob sie Medizin bei sich haben. Vielleicht wissen sie, wie man unseren Sohn retten kann.«

Musa wandte sich nicht nach ihr um. Die Frau war dunkelhäutig und schön, hatte blendend weiße Zähne und große Augen, die vom Weinen gerötet waren.

»Geh zu den Frauen zurück, A’isha«, sagte ihr Ehemann. »Scheich Harun hat für unser Kind gebetet. Er wird es später wieder tun. Wenn Gott will, wird Yaqub am Leben bleiben. Wenn nicht, wird er sterben.«

Aber A’isha rührte sich nicht vom Fleck.

»Lass die Fremden ihre Macht ausprobieren, Si Musa. Wenn unser Kind überlebt, dann zeigt uns Gott damit, dass man ihnen trauen kann. Wenn es stirbt …«, sagte sie mit einem Seufzer, »dann müssen sie wieder gehen.«

In einer der Hütten schrie das Kind noch lauter. Das schwindende Licht legte einen purpurroten Schleier über die Oase. In der Ferne schimmerte der Sand und malte Trugbilder von Schlössern mit Zinnen und Türmen an den Horizont.

Si Musa, der wie seine Frau innerlich um seinen Sohn und Erben bangte, gab schließlich nach. Er drehte sich auf dem Absatz um und ging, gefolgt von seiner Frau, in die Oase hinein. Gerald gab Donaldson ein Zeichen. Der war nicht nur der Navigator und einer der Fahrer der Truppe, sondern auch ihr Arzt. Der Schotte studierte gerade in Edinburgh Medizin, als der Krieg ausbrach.

»Was ist, Chef?«, fragte er.

»Holen Sie die Erste-Hilfe-Tasche, Bill. Machen Sie schnell. Ihr Kind ist krank.«

In der Hütte des Anführers brauchte Donaldson nur Sekunden, um seine Diagnose zu stellen. Mit dem Einbruch der Dunkelheit kühlte die Luft ab, aber ihm stand der Schweiß auf der Stirn.

»Tetanus«, verkündete er. »Ziemlich fortgeschritten, wie es aussieht. Verkrampfte Kiefer, und das Kind ist abgemagert. Fragen Sie die Mutter, wie lange es diese Wunde schon hat.«

Er wies auf einen langen, nicht verheilten Schnitt am Unterarm des Jungen. Er war rot und geschwollen. Das Kind, das zwischen eineinhalb und zwei Jahre alt zu sein schien, hatte daran gekratzt und damit die Sache noch verschlimmert.

Gerald fragte, aber keiner konnte die Zeit exakt bestimmen. In der Wüste zählte man die Jahreszeiten und die Jahre, vielleicht noch die Monate. Tage und Wochen interessierten niemanden.

Der heilige Mann hatte sich hereingeschlichen und beobachtete aus einer Ecke des Raumes die Szene. Vor allem ließ er das sterbende Kind nicht aus den Augen. Er murmelte etwas vor sich hin. Ob es ein Gebet oder ein Fluch war, konnte Gerald nicht ausmachen.

Donaldson packte ein Fläschchen mit Gegengift aus und gab dem Kind eine Spritze in den Arm. Die Mutter, die schon alle Hoffnung verloren hatte, protestierte nicht. Si Musa agg Isa beobachtete den Priester, als suchte er herauszufinden, was im Kopf des alten Mannes vorging.

 

Als sie die Behausung verließen, ging die Sonne gerade als flüssiger Feuerball unter. Ihre Strahlen von Purpurrot über Rosa bis Gold und Türkis fielen durch Myriaden von Sandkörnern, und diese erstrahlten in Grün, Ocker, Purpur und Rostbraun. Feuer aus getrocknetem Kameldung wurden entzündet. Der Wüstenherd wurde herbeigerollt, und Skinner entfachte ein Feuer darin, umringt von einer Schar kichernder Tuareg-Frauen, die noch nie gesehen hatten, dass sich ein Mann die Hände bei der Hausarbeit schmutzig machte.

Ein Kamel wurde zum Schlachten ausgewählt und getötet, das Fell abgezogen und sorgfältig beiseitegelegt, das Fleisch in sechs gleich große Portionen geschnitten und alles, was nicht essbar war, zur weiteren Verwertung aufgehoben. Auf kleinen Feuerchen in Sandkuhlen wurde Brot gebacken. Bald stieg ein Duft von gebratenem Fleisch in die kalte Nacht. Leary demonstrierte seinen Gastgebern, wie man das Fleisch auf dem mit Benzin geheizten Herd grillte. Gerald ließ weitere Verpflegungsrationen holen und für das Gastmahl vorbereiten. Die Büchsen mit Rinderpastete, Erbsen, Reis, Kartoffeln und gebackenen Bohnen stellten ein großes Opfer dar, das sie in den kommenden Tagen noch bereuen sollten, das wussten sie bereits.

Das Kind in der Hütte war eingeschlafen. Donaldson schaute besorgt drein. Die Sache stand auf des Messers Schneide. Es tat ihm schon leid, dass er sich überhaupt bereitgefunden hatte, das Kind zu behandeln.

Anderenorts in der Oase nahmen die Familien ein weniger üppiges Mahl ein. Zu dem Bankett waren nur die Imashaghen und ihre Gäste zugelassen. Der Anislem beschloss, nichts von den Speisen der Ungläubigen zu essen. Er erklärte sie für haram und damit für Muslime verboten, aber Si Musa setzte sich darüber hinweg. Er erklärte, das Essen komme aus Ägypten, wo ebenfalls Muslime lebten. Scheich Harun verschwand zunächst, um Nahrung zu suchen, die besser zu seinem Status passte, aber Gerald bemerkte, dass er im Dunkel der Nacht zurückkehrte, sich am Rande niederließ und zweifellos scharf auf jedes Wort achtete, das gesprochen wurde.

Das Essen schmeckte vorzüglich. Was sich unter anderen Umständen bescheiden ausgenommen hätte, erlebten die armen Wüstenbewohner und die Soldaten als großen Festschmaus. Das Kamel war zäh, das Fleisch nicht völlig durchgegart, und beim Essen knirschten Sandkörner zwischen den Zähnen. Aber keiner beklagte sich. Sie spülten die rustikalen Speisen mit dreimal gebrühtem grünem Tee hinunter, der von Mal zu Mal schwächer wurde. Angesichts der Sprachbarriere, die Soldaten und Tuareg trennte, quälte sich die Konversation nur mühsam voran. Fragen gelangten über Gerald zu Si Musa und die Antworten auf demselben Wege wieder zurück. Nach und nach kamen sich beide Seiten etwas näher. Dabei spürten alle die dumpfe Spannung, die Stille, die von der Hütte des Anführers ausging, wo das Kind keinen Ton von sich gab und jeden Augenblick für tot erklärt werden konnte. Die Tuareg ließen Prisen von Schnupftabak herumgehen, die sie in kleinen Behältnissen um den Hals trugen. Donaldson plünderte ihre Zigarettenration und reichte Päckchen von Sargnägeln des höheren Dienstes in die Runde, als seien es Süßigkeiten. Einige Tuareg hatten bereits einmal geraucht, andere mussten fürchterlich husten.

Dann gab es Musik und Tanz. Männer und Frauen tanzten in getrennten Gruppen – schwingende Bewegungen beim Schein der Flammen, die von dem Gemisch aus Kameldung und Benzin aufstiegen. Der Himmel über allem, an dem Myriaden von Sternen leuchteten, schien eine Kuppel aus Silber und Ebenholz zu sein. Die harten Trommelschläge des tindi kamen von den Dünen zurück wie Gewehrschüsse, gemildert nur durch die feinen Töne zweier imzads, einsaitiger arabischer Geigen. Wie aus dem Nichts erschien ein Mann im weißen Umhang mit einer Flöte. Die Tänzer blieben einer nach dem andern stehen, und die Instrumente schwiegen. Die Flöte, die sanft und leise begann, schickte allmählich immer lautere und schnellere Rhythmen zu den Sternen empor. Dabei schob sich der Mond über den Horizont und stieg langsam an dem strahlenden Firmament auf. Während er sein ockerfarbenes Licht über die Erde goss, erglänzte er bald selbst in hellem Silber wie die Sterne.

Dann endete die Musik, Beifall erklang, und es war Zeit, schlafen zu gehen. Der Flötenspieler trat an Gerald heran und sagte, er freue sich darauf, am nächsten Morgen länger mit ihm zu sprechen. Es war Si Musa. Gerald wünschte ihm eine gute Nacht und erklärte ihm, er werde mit seinen Männern wie stets bei den Autos schlafen.

 

Sie fuhren die Chevvys auf ebenes Gelände an der gegenüberliegenden Seite der Oase.

»Zeit für eine Besprechung, Gentlemen«, sagte Gerald, als sie sich überzeugt hatten, dass ringsum alles ruhig war, und ihre Schlafsäcke im Sand ausrollten. Inzwischen war es bitterkalt geworden. Die Hitze des Tages war nur noch eine ferne Erinnerung. Das Mondlicht versilberte die Dünen, als seien sie aus Eis. Die Männer hüllten sich in ihre Tropenmäntel, fröstelten aber trotzdem, waren müde und sehnten sich nach Kairo zurück. Bei Geralds Worten stöhnten sie auf. Jetzt würde es spät werden.

»Wir müssen heute Nacht Funkkontakt zum Basislager herstellen. Für den Fall, es passiert etwas, kann uns keiner helfen, wenn wir nicht unsere Koordinaten durchgeben. Die bestimmen wir jetzt mit dem Theodoliten. Ihr Übrigen stellt inzwischen die Antenne auf.«

Skinner, Clark, Donaldson und Leary machten sich beim Funkwagen zu schaffen, rammten zwei hohe Stangen vorn und hinten in den Sand, fixierten sie mit Spannleinen und befestigten die Dipol-Antenne zwischen ihnen. Während sie sich damit abplagten, holten Gerald und Max Chippendale den Theodoliten hervor und schraubten ihn auf den Dreifuß.

Max stellte die Beine des Dreifußes auf ein großes Holzbrett und verbrachte die nächsten fünf Minuten damit, das Gerät mit einem Richtblei in eine waagerechte Position zu bringen.

»Wer, verdammt noch mal, hat sich nur ausgedacht, so ein Ding in der Sandwüste einzusetzen?«, fluchte er, wie er es immer tat, wenn er das Gerät justieren musste. Er quälte sich lange mit den drei Beinen herum, während Gerald ihm mit einer starken Taschenlampe leuchtete, die er bei einer Patrouille Australier »organisiert« hatte.

»Okay, Chef. Besser krieg ich es nicht hin.« Er presste sein Auge an den Sucher des Theodoliten und wählte einen Stern aus.

»Jetzt!«, stieß er hervor, als der Stern die Linse passierte. Gerald las an seinem Chronometer die Zeit ab und notierte sie.

Im Funkwagen hatte Leary inzwischen das Gerät eingeschaltet. Er drehte so lange an den Knöpfen, bis das Zeitzeichen von Big Ben ertönte. Gerald teilte ihm die Koordinaten mit. Er diktierte ihm eine kurze Nachricht, die Leary verschlüsselte und dann nach Kufra funkte.

»Hol uns ein bisschen Swing rein, Weary«, sagte einer. Die anderen stimmten ihm zu. Etwas Musik vor dem Schlafen war in der Wüste fester Brauch. Mit seinem Gerät von 4,2 bis 7,5 MHz konnte Leary die meisten Kurzwellensender empfangen. Nach ein wenig Suchen stieß er auf Glenn Millers Band, die gerade »In the Mood« spielte. Clark holte den Rumtopf heraus und bot jedem einen Schluck gegen die Kälte an. Den lehnte keiner ab.

Dann sang Peggy Lee, begleitet vom Benny-Goodman-Sextett ihren neuesten Hit »Full Moon«. Über ihnen zog die Silberscheibe majestätisch durch das Sternenmeer, durch die 28 Mondhäuser, durch al-Hak’a, al-Han’a und al-Dhira, ferne Sterne und Planeten, denen die Araber vor Jahrhunderten diese Namen gegeben hatten. Als der Song zu Ende war, suchte Leary weiter und stieß auf Radio Belgrad. Ohne ein Wort zu verstehen, ließen sie einen Schwall deutscher Propaganda über sich ergehen. Dabei wusste jeder, worauf sie warteten. Und sie wurden nicht enttäuscht. Plötzlich knackte und rauschte eine Schallplatte, dann ertönte auf den Radiowellen die volle Stimme von Lale Andersen, dem deutschen Soldatenengel:

Vor der Kaserne

Vor dem großen Tor

Stand eine Laterne

Und steht sie noch davor …

Wie einst Lili Marlen.

Obwohl es die verschiedensten englischen Versionen dieses Liedes gab, war das deutsche Original die Hymne aller britischen Truppen in der Wüste. Manch einer summte mit, die anderen hörten schweigend zu. Die Wüste schluckte Musik und Stille gleichermaßen. Das war an jedem Tag der Augenblick, da sie an zu Hause denken mussten, und daran, wie nahe der Tod war. Als die Sängerin geendet hatte, schaltete Leary das Funkgerät ab.

Gerald kippte den letzten Schluck Rum hinunter und stellte seinen Becher in den Wagen zurück. Da erblickte er plötzlich eine dunkle Gestalt, die sich von der Oase her näherte. Als er nach seiner Pistole greifen wollte, fiel ihm ein, was er damit getan hatte.

»Chips!«, zischte er. »Da kommt jemand. Vielleicht mehrere. Sag den anderen Bescheid.«

Er sprang auf den Wagen und kroch hinter das Maschinengewehr. Die Gestalt bewegte sich rasch über den Sand – halb Schatten, halb reflektiertes Mondlicht. Ihr schien nichts daran zu liegen, ungesehen zu bleiben.

Als der Schatten nur noch wenige Meter von den Fahrzeugen entfernt war, rief Gerald auf Tamasheq »Halt!« Die Gestalt blieb sofort stehen.

»Ich muss euren Anführer sprechen«, sagte eine Frauenstimme. Gerald atmete erleichtert auf und bat sie, näher zu treten.

»Was gibt’s?«, fragte er. Donaldson hatte nach dem Tanz noch einmal nach dem schlafenden Kind gesehen und gemeint, er könne nichts mehr tun. Entweder wirke das Medikament, oder das Kind müsse sterben. War die Frau gekommen, um ihnen mitzuteilen, dass es tot sei?

»Ich bin A’isha«, sagte sie, »Musa agg Isas Frau. Ist der Doktor hier?«

»Donaldson«, rief Gerald, »komm mal her. Es ist die Frau des Chefs. Sie will mit dir reden.«

Donaldson fuhr erschrocken zusammen. Er wusste, wie viel am Leben dieses kleinen Wesens hing. Als er aus dem Schatten des zweiten Fahrzeugs trat, lief die Frau auf ihn zu, warf sich vor ihm zu Boden, umklammerte seine Beine, weinte und lachte in einem fort. Dazwischen entströmten Wortfetzen ihrem Mund.

»Zum Teufel, Bill, ich glaube, der Kleine kommt durch. Sie denkt, Sie seien ein Wundertäter. Fast ein Gott.«

Er hatte mit seiner Vermutung recht. Als A’isha sich wieder etwas beruhigt hatte, berichtete sie Gerald, ihr Sohn sei aufgewacht und habe nach Essen verlangt. Die Reste des Gastmahls, die sie ihm gab, habe er bei sich behalten. Der Arzt hieß sie aufstehen und zeigte seinerseits, wie froh er war.

»Es weiß noch niemand davon«, sagte sie. »Nur meine Schwestern. Ich wollte es Ihnen zuerst sagen und Ihnen dafür danken, dass Sie sein Leben gerettet haben. Ich stehe tief in Ihrer Schuld. Mein Mann, mein Sohn und ich selbst werden immer in Ihrer Schuld sein.«

Donaldson, ganz aus der Fassung gebracht, wollte sofort nach dem Jungen schauen. Aber A’isha hob die Hand und schüttelte den Kopf.

»Er schläft jetzt wieder«, sagte sie. »Bevor Sie nach ihm schauen, folgen Sie mir bitte. Sie alle. Das ist Ihre Belohnung.«

Die Männer wechselten peinlich berührte Blicke. Sie glaubten, die Frau biete ihnen sich selbst zur Belohung an. Gerald erklärte, sie wollten keinen Dank, dass das Kind überlebe sei ihnen Lohn genug.

A’isha schüttelte wieder den Kopf.

»Ich weiß, warum Sie nach Ain Suleiman gekommen sind. Jeder weiß das. Scheich Harun sagt, Sie müssten getötet werden, bevor Sie finden können, was Sie suchen. Aber Sie haben meinem Sohn das Leben geschenkt. Deshalb werde ich Sie dorthin führen. Jetzt gleich. Es ist nicht weit.« Gerald schaute sie verständnislos an.

»Wir wollten Ain Suleiman finden. Das ist alles, wonach wir gesucht haben.«

»Ich weiß, was Sie wirklich suchen«, sagte sie. »Ich zeige es Ihnen. Der Sand ist im Sturm gewandert. Es gibt viel zu sehen.«

»Was für ein Ding ist es denn?«, fragte Gerald.

»Es ist kein Ding«, antwortete sie. »Es ist eine Stadt. Die Stadt Wardabaha. Dorthin führe ich Sie jetzt. Bevor der Mond untergeht. Ich zeige Ihnen die Halle der Schläfer, wo die Alten ruhen. Ich kann nicht hineingehen. Das darf keiner von uns. Aber Sie sind Engel. Kommen Sie. Kommen Sie mit nach Wardabaha.«