ZWÖLFTES KAPITEL

Die blaue Donau

Als die Maschine der Austrian Airlines um 19.30 Uhr in Heathrow von der Startbahn abhob, entspannte sich Ethan zum ersten Mal, seit er die beiden Toten im Arbeitszimmer seines Großvaters gefunden hatte. In der Innentasche seines Jacketts steckte das gefälschte Reisedokument, mit dem er durch die Passkontrolle gegangen war und nach Österreich und, wenn nötig, in weitere Länder reisen würde.

Lindita hatte 3 000 Pfund dafür erhalten. Pässe waren ihre Spezialität. Sie hatte einen biometrischen Pass für ihn geklont, indem sie mit RFdump Software die Daten von einem Original auslas, die sie dann auf einem Blankochip speicherte. Danach hatte sie ein paar Visastempel aus ihrem Vorrat hinzugefügt und Ethan eine falsche Unterschrift leisten lassen. Sie hatte ihm eine neue Frisur verpasst, einen falschen Schnurrbart angeklebt, wovon sie eine ganze Sammlung verschiedener Größen, Formen und Farben in einer Schachtel aufbewahrte, ihn farbige Kontaktlinsen einsetzen lassen, das Ganze digital fotografiert, in den Klon eingetippt und die Datenseite mit einem Hologramm-Film bedeckt.

Und das Original des Passes? Das lag sicher verwahrt in der Tasche seines Eigentümers oder einem Hotelsafe. Zehn Tage zuvor war sein RFID-Chip bereits einmal aus kurzer Entfernung von einem Mitglied der Solejmani-Bande in London ausgelesen worden – mit einem Gerät, das der Mann zuvor für 200 Euro bei eBay ersteigert hatte.

Ethan reiste nun als Dafydd Williams, Lehrer aus Swansea. Außer ihrem Alter hatten die beiden Männer nichts gemein. Die Passkontrolle hatte keine Möglichkeit, Ethans neues Foto mit dem in Williams’ Original abzugleichen.

In Wien passierte er problemlos Pass- und Zollkontrolle und trat dann in die Haupthalle hinaus. Dabei überfiel ihn bleierne Müdigkeit, die übermächtige Sehnsucht nach tiefem, besinnungslosem Schlaf. Er hatte sich eigentlich einen Mietwagen nehmen und sofort nach Bad Vöslau fahren wollen, denn er konnte es nicht erwarten, Aehrenthals Spur aufzunehmen. Aber der Mangel an Schlaf in den letzten Tagen hatte ihn schlapp und unkonzentriert gemacht. Er durfte sich jetzt keinen Fehler leisten, das wusste er.

Als er sich zum Ausschlafen durchgerungen hatte, ging er zum Flughafenhotel und nahm sich ein Einzelzimmer. Auch hier sandte er wieder ein Dankgebet an Lindita. Sie hatte ein Netzkonto auf den Namen Dafydd Williams fabriziert, auf das Ethan eine große Summe überwies. Danach war es für sie die einfachste Sache der Welt, die notwendigen Daten auf dem Magnetstreifen der Rückseite einer frischen Black Card von Amex Centurion zu speichern.

»Die ist jetzt echt«, hatte sie dazu gesagt.

»Echt?«, fragte er zurück, als er sie entgegennahm. Die Karte steckte in seiner Brieftasche. Sie fühlte sich merkwürdig an. Irgendwie schwer, obwohl sie federleicht war.

»Es ist Titan«, hatte sie gesagt, »nicht Plastik. Davon gibt es höchstens 10 000 auf der ganzen Welt. Gebühr zweieinhalbtausend Dollar im Jahr. Bekommst nur auf Empfehlung. Für sehr reiche Leute.«

»Falle ich damit nicht auf?«

Sie hatte den Kopf geschüttelt.

»Du das in der Hand, kaufst fast alles, was du willst. Kein Limit.«

Er hatte genickt. Er wusste nicht, wie viel Geld er am Ende für die ganze Aktion brauchen würde. Er wollte alles, was er besaß, und noch mehr daransetzen, um Sarah zu retten, um sie heil und gesund wiederzusehen.

Als er eingecheckt hatte, wobei ihm die wahre Bedeutung des Wortes »speichellecken« klar wurde, ging er sofort auf sein Zimmer und wählte eine Telefonnummer. Er hatte noch eine wichtige Sache zu erledigen, bevor er riskieren konnte, sein müdes Haupt auf ein Kissen zu betten. Die Nummer hatte er von Lindita. Eine halbe Stunde später klopfte es leise an seiner Tür. Ethan kannte den Namen des Mannes, der eintrat, nicht, wie jener auch nicht den seinen. Geld wechselte den Besitzer, und Ethan hielt ein kleines Päckchen in der Hand. Bei der kurzen Transaktion fiel kein einziges Wort.

 

Er schlief schlecht in dieser Nacht. Nicht einmal die Erschöpfung bescherte ihm schöne Träume. Die Orte, an die er geriet, gehörten dem unheimlichen Reich der Alpträume an, wo Worte und Bilder miteinander verschmolzen, um seine Seele zu quälen. Mehrmals fuhr er hoch – den Geschmack von Asche im Mund oder eine Todesvision vor den schlafblinden Augen. Immer wieder musste er in das Mausoleum mit seinem feuchten, muffigen Brodem zurückkehren, seinen an die Wand genagelten Großvater erblicken und zusehen, wie Sarah nackt ausgezogen und bedroht wurde.

Als er schließlich ganz erwachte, lagen die Alpträume noch lange über ihm wie dichter Nebel. Schreckliche Angst und Schuldgefühle marterten ihn. Er war auf der Flucht vor einer Mordanklage. Wenn er Sarah nicht finden und retten konnte, würde er seine Unschuld nie beweisen können. Seine größte Angst galt jedoch nicht dem Gefängnis oder was er dort als Ex-Polizist zu erwarten hatte. Er fürchtete um Sarah, deren Gesicht er so klar vor sich sah wie sein eigenes im Spiegel, während er sich rasierte.

Er mietete ein Allradfahrzeug, einen Mercedes ML, und fuhr damit nach Süden. Nach dem Wiener Vorort Neudorf öffnete sich die ländliche Gegend weit nach Osten. Auf der Südautobahn, die wie ein Schwert zwischen Feldern zu seiner Linken und verschlafenen Städtchen zu seiner Rechten fuhr, die eine fast ununterbrochene Kette zwischen Wien und Wiener Neustadt bildeten, nahm er Tempo auf. Als der Verkehr dünner wurde, trat er aufs Gaspedal, womit er den Wagen knapp an die erlaubte Geschwindigkeitsgrenze von 130 km/h brachte.

Wenn die Bebauung zurückwich, sah man bewaldete Berge, die nach Westen in Richtung der Alpen anstiegen. Schnee, weiß wie Lilien, bedeckte die Felder, lag wie Mehlstaub auf den Bäumen, bedeckte die Dächer der vorüberfliegenden Häuser, als sollte er ihre Wärme schützen. Draußen waren drei Grad Frost. Die Luft war frisch und rein, der Himmel strahlend blau. Beim Fahren hatte er die Augen auf der Straße. Dabei gingen ihm düstere, bittere Gedanken durch den Kopf. Die Träume der Nacht hatte er immer noch nicht ganz abschütteln können, und obwohl die weißen Felder und die durchsichtige Luft ihn hätten aufmuntern sollen, blieb er finster und bedrückt. Furcht nagte an ihm wie eine Ratte, die Furcht, vielleicht einen Fehler gemacht zu haben, in der falschen Richtung zu suchen. Sarah konnte immer noch in England sein, ohne dass er es wusste. Aehrenthal konnte sie längst umgebracht, ihre Leiche beseitigt und sich in einen Schlupfwinkel in Österreich geflüchtet haben.

In einem versteckten Halfter an der Hüfte trug er die Pistole, die Linditas Mann ihm vor dem Schlafengehen gebracht hatte, eine Beretta 93R. Diese hatte zwei ungewöhnliche Besonderheiten für eine Handfeuerwaffe – einen Frontgriff, den man unterhalb des Laufes ausklappen konnte, um die Waffe mit beiden Händen zu halten, und eine Schulterstütze, die jetzt in Ethans Reisetasche lag. Der Mann hatte ihm eine Schachtel voller 20-Schuss-Magazine mit 9 mm Parabellum Patronen mitgebracht und Ethan gezeigt, wie man die Waffe auf Einzel-, Dauerfeuer oder halbautomatisches Schießen einstellte. Die Waffe gab Ethan etwas mehr Gelassenheit, aber in eine Schießerei verwickelt zu werden war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte.

Hinter Baden wechselte er von der Autobahn auf die ER 59 und erreichte nach kurzer Fahrt über Nebenstraßen den Flugplatz von Bad Vöslau.

Aehrenthal war mit seiner Beechcraft dort am Tag zuvor um 9.30 Uhr gelandet. Er war mit einem Kopiloten angekommen. Die Beechcraft war als Ambulanzflugzeug ausgelegt und brachte eine Passagierin namens Ileana Paulescu.

Als Ethan das hörte, runzelte er die Brauen.

»Haben Sie die Frau gesehen?«

Er sprach mit einem Vertreter des Flugplatzbetreibers, der Flughafen Wien AG. Der Mann war sich nicht sicher, ob er einem Fremden Auskunft über Einzelheiten von Herrn Aehrenthals Flug erteilen sollte. Aber Ethan hatte seinen Polizeiausweis bei sich, den er zuvor beim Verhör als gestohlen angegeben hatte. Er knallte ihn auf den Tisch und war sich sicher, dass man ihn nicht nach seinem Pass fragen würde.

»Kriminaloberkommissar?«

Ethan nickte.

»Können Sie mir sagen, Herr … Kriminaloberkommissar Ushingwood …«

»Usherwood.«

»Natürlich, Entschuldigung. Warum suchen Sie diesen Mann?«

»Das darf ich Ihnen nicht sagen. Aber es ist dringend.« Ethan betete bei sich, dass der Mann nicht die Ortspolizei konsultierte.

»Verstehe.«

Hier wurde Ethan klar, dass die österreichischen Kollegen aus dem Spiel bleiben würden. Die sah der Mann auf seinem Flugplatz offenbar gar nicht gern.

Der Repräsentant, Herr Veit Schiegl, nickte wissend.

»Sie haben darüber noch nicht mit unserer Kriminalpolizei gesprochen?«

»Die ist natürlich informiert, aber sie will nicht in die Sache hineingezogen werden. Das ist eine rein britische Angelegenheit. Ich möchte hier so wenig Staub wie möglich aufwirbeln. Aus Rücksicht auf Sie und den Flugplatz.«

Herr Schiegl nickte erneut.

»Die Frau trug einen Verband«, sagte er. »Sie wollten sie in ein Bad nach Rumänien bringen. Sie leidet an einer Hautkrankheit.«

»Nach Rumänien? Wohin dort?«

»Herr Aehrenthal hat nur aufgetankt und dann mit der Flugsicherung abgesprochen, nach Oradea zu fliegen. Den Namen des Bades hat er nicht genannt. In Transsilvanien gibt es davon viele. Meine Frau möchte auch dorthin fahren. Sie liegt mir schon lange damit in den Ohren. Sie will einmal Draculas Schloss sehen und in der Gegend eine Badekur machen. Sie leidet an Rheumatismus. Ziemlich unangenehm.«

Bei einer der privaten Fluggesellschaften, die von Bad Vöslau starten, buchte Ethan binnen einer halben Stunde einen Flug. Es war eine Cessna 208 Caravan. Für die etwa 900 Kilometer bis Oradea würde sie etwa zwei Stunden brauchen. Ethan hatte keine Vorstellung, wie es dort weitergehen sollte.