SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Der Weg nach Kufra

Nach der Küste beginnt der Sand. An einem gewissen Punkt kann man der Sahara nicht mehr ausweichen. Sie zieht sich über den ganzen Kontinent von Marokko im Westen bis zu den Küsten des Roten Meeres im Osten. Sie ist kein Meer, sondern ein riesiger Ozean, der ganze Welten verschlungen hat. Nach Süden reicht sie bis zur Sahelzone, wobei sie mehrere Staaten umfasst, deren Gebeine aufnimmt, Mensch, Tier und Stein in Staub verwandelt.

Sie fuhren bei Nacht und orientierten sich mit dem GPS. Die Scheinwerfer ihrer Fahrzeuge tanzten auf und ab, wenn sie hohe Dünen erklommen und sich an der anderen Seite hinabrollen ließen. Wenn sie den Kamm einer Düne fast erreicht hatten, zeigten die Lichtstrahlen gen Himmel, als suchten sie ihn nach lange verschwundenen Flugzeugen ab. Ethan fragte sich, ob sein Großvater wohl so gereist war, stets auf das Brummen deutscher Flugzeuge lauschend und sein Funkgerät justierend, um den Kontakt zu seiner Ausgangsbasis nicht zu verlieren.

Wenn sie tagsüber ihr Lager aufschlugen und alle Motoren abschalteten, dann sank eine Stille auf sie herab, die sie noch nie erlebt hatten. Man glaubte zu hören, wie die Erde sich drehte. Dieses Schweigen war wie der Sand ein Stück Ewigkeit. Sarah hätte ihr ganzes Leben darin verbringen können. Sie glaubte, von ihm gehe eine reinigende Wirkung aus. Von dieser Stille, dieser gewaltigen Leere und von der reinen Luft. Wenn sie atmete, konnte sie spüren, wie die Luft in ihre Lungen drang. Sie wollte darin versinken, die vollkommene Wüstenluft tief in sich spüren, damit sie all den Schmutz und all das Gift beseitigte, das Egon Aehrenthal und seine Männer in ihr zurückgelassen hatten.

Wenn sie lauschte, dann glaubte sie eine überirdische Musik zu hören, einen Sänger mit perfekter Intonation, ein Lied mit vollkommener Harmonie. Das Schweigen wurde für sie ein Code der Wüste selbst, in der ganze Armeen und Heere von Sklaven spurlos verschwinden konnten.

Manchmal schwebte ein einsamer Vogel am Himmel und ließ sich von der warmen Luft treiben. Einmal sah sie einen Turmfalken, dann einen Schwarm Wildenten. An diese Vögel musste sie oft denken, an ihre Freiheit und Beherrschung der Lüfte. Sie sah ihnen zu, wie sie über den Himmel segelten, und fragte sich, woher sie wohl kamen.

Sie fuhren nach Süden bis nach Jalu, einer von Palmen umstandenen Oase, wo sie sich mit Datteln eindeckten. Dann folgten sie der Palificata, der alten italienischen Trasse nach Kufra. Hier und da waren am Wegesrand noch Zeichen des Zweiten Weltkrieges zu erkennen – weggeworfene deutsche Benzinkanister, ein verrosteter Panzer, Stacheldrahthindernisse, ein Telegrafenmast – die Trümmer eines Konflikts um einen Landstrich, wo niemand je einen Obstbaum oder Blumen pflanzen würde.

Eines späten Nachmittags begleitete Ethan, nachdem sie erwacht waren, Sarah auf einem Spaziergang. Sie gingen einen langen flachen Graben zwischen zwei hohen Dünen entlang. Im Winter war die Wüste kalt und blasser als sonst, aber je weiter sie nach Süden kamen, desto wärmer wurde es.

Sie hatten nicht viel Gelegenheit, allein miteinander zu sprechen. Wenn sie nicht in den Jeeps fuhren, dann saßen sie an einem Lagerplatz zwischen Mönchen in Lederjacken, während ein Wachposten stets nach Banditen oder Aehrenthal Ausschau hielt. Jetzt sprachen die Mönche hinter ihnen im Lager gerade ihr Gebet.

Er blickte sie an. Die Zeit übte ihre heilende Wirkung aus. Aber nach dem, was in dem Haus in Sighisoara geschehen war, konnte er nicht sicher sein, ob sie nicht wieder von Schrecken und Ekel vor sich selbst heimgesucht wurde. Als sie seinen Blick spürte, nahm sie seine Hand.

»Mir geht es gut«, sagte sie. »Was passiert ist …, tut mir leid. Ich habe nicht an dir gezweifelt, das darfst du nicht denken. Ich wollte dich. Ich habe niemals einen Mann so begehrt. Das musst du verstehen.«

»Es ging alles zu schnell. Du musst erst wirklich zu dir kommen. Aehrenthal und diese ganze Horde Männer hast du noch nicht wirklich hinter dir gelassen. Wer weiß, wie lange das dauert, vielleicht Jahre, vielleicht auch dein ganzes Leben.«

»Sag nicht so was«, antwortete sie im Weitergehen. »Du vergisst, dass ich dich liebe. Und dass du mich liebst. Das hat schon viel verändert. Manchmal habe ich Alpträume, in denen sie mich wieder vergewaltigen. Das macht mir Angst, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr. Aber ich habe auch schöne Träume. Die handeln meistens von dir, und manchmal träume ich, dass wir zusammen im Bett liegen.« Sie lächelte.

Er lächelte zurück und nahm sie in den Arm. Sie ließ es geschehen, sank gegen ihn, mit dem Kopf auf seiner Schulter. So standen sie lange, alles vergessend, während sich um sie herum die Nacht über die Wüste senkte, der Mond und strahlende Sterne am wolkenlosen Himmel aufzogen.

Da erklang ein Horn, das sie zurückrief. Es war Zeit, wieder aufzubrechen.

 

In Kufra hielten sie nur, um ihre Lebensmittel- und Wasservorräte aufzufüllen. Außer dem italienischen Fort, das über der Oase thronte, und dem scharfen Kontrast zwischen den grünen Feldern und dem ockerfarbenen Sand gab es nichts, was sie dort länger gehalten hätte. Gavril wollte nicht, dass man auf die Expedition aufmerksam wurde. Deshalb gingen nur er, Ethan und ihr Führer in den Ort.

Gavril wollte herausfinden, ob Aehrenthal Kufra bereits passiert hatte. Leider hatte er kein Foto des Österreichers und wusste auch nicht, wie groß seine Begleitung war. Er beauftragte den Führer, nur jene Leute in der Oase zu fragen, die eine Gruppe ausgestattet haben konnten, die weiter westlich nach Rebiana und zum Großen Sand dahinter ziehen wollte. Niemand wusste etwas, zumindest wurde das behauptet. Ethan stieß auf ein paar Touristen, die Englisch sprachen. Einer konnte ein Deutscher, der andere ein Schotte sein. Er trat zu ihnen, als sie um einen Kanister Benzin feilschten.

»Ich habe Sie Englisch sprechen hören«, sagte Ethan. Sie hatten ein hübsches Mädchen dabei. Sie lächelte ihm zu und wandte dann den Blick ab.

Der Schotte in Thermoweste und fleckiger blauer Latzhose, den Ethan auf etwa fünfundzwanzig Jahre schätzte, antwortete.

»Verpiss dich. Wir brauchen dein verdammtes Hasch nicht. Wir haben mehr, als wir selber rauchen können.«

»Wie ihr meint«, gab Ethan zurück. »Aber im Ernst, wie lange seid ihr schon in Kufra?«

»Was bist denn du für einer? Wenn du ein Bulle bist – das hier ist nicht dein Land.«

»Deins auch nicht, Kumpel.« Ethan trat dicht an ihn heran. Solche Typen kannte er zur Genüge, seit dem ersten Tag, da er Polizist wurde.

»Hör mal zu, Kleiner«, sagte er. »Hör sehr genau zu. Wenn du höflich mit mir redest und mir die Wahrheit sagst, dann kommst du auf deinen beiden verdammten Beinen ungeschoren aus Kufra raus. Das Gleiche gilt für alle von euch. Ich habe ein paar Jeeps da draußen stehen, da sitzen Männer mit Waffen drin. Glaub mir, die fackeln nicht lange, wenn ihr mir hier auf der Nase rumtanzt.«

Der »Kleine« lief vor Wut rot an, aber das dauerte nur einige Sekunden. Dann schmolz er wie Butter in der Sonne. Ohne ein Wort schlurfte er zu dem Mädchen. Das wandte sich von ihm ab und redete mit einem anderen aus der Gruppe. Nun sprach Ethan den Mann an, den er für einen Deutschen hielt.

»Ich möchte wissen, ob Sie eine ähnliche Truppe wie unsere gesehen haben. Eine Expedition, die tiefer in die Wüste zieht. Alles Männer. Harte Kerle. Ihr Anführer ist ein hochgewachsener Mann mit einer Narbe auf der Wange.«

»So einen habe ich gesehen. Er sprach Deutsch, deshalb ist er mir aufgefallen. Ist Ihr Mann Deutscher?«

»Österreicher.«

»Genau. Das war der Akzent.«

»Wohin sind sie gezogen?«

Der Deutsche machte eine ausladende Geste nach Westen.

»Irgendwo dorthin«, sagte er.

»Wie lange ist das her?«

»Vielleicht zwei Tage. Ja, zwei Tage, ganz sicher. Und Sie haben recht, das waren wirklich harte Kerle.«