ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Die Straße ins Nirgendwo

Am nächsten Morgen, lange bevor es Tag wurde, verließen sie das Kloster. Ethan fuhr in der Dunkelheit, während die anderen schliefen. Man hatte ihm eine Karte, eine Adresse und bestimmte Instruktionen gegeben. Die Adresse hatte er im Kopf, aber von Zeit zu Zeit musste er halten, um beim Licht der Taschenlampe auf der Karte nachzuschauen. Beim Fahren starrte er in den Tunnel, den die Scheinwerfer in die Dunkelheit bohrten, als sei es harter Stein. Mitunter regnete es, dann fielen Eisklumpen vom Himmel oder auch Schnee.

Eine kurze Zeit fuhren sie nach Osten, nahmen dann aber eine Straße nach Süden, die durch Radaut‚i führte. So kamen sie auf die Hauptstraße zwischen Siret und Suceava. Als sie den Stadtrand von Suceava erreichten, dämmerte das erste Frühlicht. In der Stadt schwamm der hohe Glockenturm von St Demetrius wie ein Geist im Morgendunst an ihnen vorbei. Ethan trieb es weiter vorwärts nach Fălticeni.

Ilona wurde langsam munter.

»Gott, ist das kalt. Wo sind wir?«

»Wir haben gerade Suceava hinter uns gelassen und fahren jetzt in Richtung Fălticeni.«

»Falti-tscheni.« Sie korrigierte seine Aussprache. »Und wo ist Pater Iustin?«

Ethan schaltete einen Gang zurück, um auf der glatten, abschüssigen Straße Halt zu finden. Immer öfter kamen ihnen jetzt die Lichter anderer Fahrzeuge entgegen.

»Er wollte nicht mitkommen. Er hat mir den Namen eines Mannes in einem anderen Kloster gegeben. Es liegt am Rande von … Das kann ich wirklich nicht aussprechen! Pi-at-ra Niimt?«

»Das machst du gar nicht schlecht. Piatra Neamt‚.« Sie wiederholte langsam den Namen der Stadt. »Haben wir so viel Zeit, um in Fălticeni zu halten?«

»Danach müssen wir diese gute Straße verlassen. Höchstens für eine kurze Pause.«

»Fălticeni macht nicht viel her, aber viele Schriftsteller und Künstler haben dort gelebt. Da gibt es ein Museum voller Arbeiten von Ion Irimescu.«

»Nie gehört.«

»Ihr Engländer wisst aber auch gar nichts. Irimescu war ein großer Bildhauer. Er ist 102 Jahre alt geworden. Hier in Rumänien ist man sehr stolz auf ihn.«

Ilona weckte Sarah, als Ethan abseits der Hauptstraße einen Parkplatz fand. Sie waren nun schon weit von Sâncraiu fort, aber Ethan wusste, dass Aehrenthals Orden überall im Lande seine Augen und Ohren hatte. Bis sie ihr Ziel erreicht hatten, mussten sie auf jeden ihrer Schritte achten.

 

In Putna ließ inzwischen die toaca ihre Stimme erschallen. Im Glockenturm rief ein junger Mönch die Brüder zum Gottesdienst. Ein langes Holzbrett, die toaca, hing vor ihm von den Dachsparren herab. Langsam begann er es mit zwei eisernen Hämmern zu bearbeiten. Aus einzelnen Schlägen formte sich ein Rhythmus, der langsam schneller wurde. Die einfachen Bewegungen der tanzenden und sich drehenden Hände des Bruders erweckten das tote Holz zum Leben und sandten erstaunlich volle Klänge in die frostige Luft. Kein Schlag ging daneben, kein Misston unterbrach den Rhythmus.

Überall im Kloster erhoben sich Mönche und Nonnen vom Frühstückstisch oder anderen morgendlichen Beschäftigungen und strömten zur Kirche, um zu beten. Der Klang der toaca stieg laut und eindringlich zum Himmel auf, vertrieb den Schlaf, brachte Herz und Hirn in Bewegung. Immer schneller fielen die Hämmer, als wollten sie Nieten in den stahlharten Winter treiben.

Marku Dobrogan stolperte in die kalte Luft hinaus, die ihm sofort Tränen in die Augen trieb, ihm scharf in Nase und Mund fuhr. Jeden Morgen musste er die Versuchung unterdrücken, umzukehren und im Speiseraum noch ein paar Minuten Wärme zu genießen. Aber er wusste, sollte einer der älteren Mönche solche Schwäche bei ihm bemerken, dann hatte er den Rest des Tages draußen zu verbringen und den ganzen Abend ohne Essen beim Gottesdienst zu verweilen. Als er Novize wurde, hatte er gewusst, dass ihn im Kloster ein hartes Leben erwartete. In einem Monat stand seine Aufnahme in den Orden bevor, und so kurz vorher zu straucheln wäre ihm gar nicht recht gewesen.

Jeden Morgen war es seine Aufgabe, nach den Nachtgebeten Kerzenständer und Lampen in der Kirche wieder aufzufüllen. Dafür trug er einen Krug Olivenöl und einen Beutel mit Kerzen bei sich. Die Lichter in der Kirche durften nie verlöschen.

Von außen drang nur wenig Helligkeit herein. Etwas kam von der Turmlaterne, aber das Gebäude hatte keine hohen Fenster mit bunten Glasscheiben, die Licht und Farbe hätten hereinbringen können. Dafür waren Kerzen und Öllampen da. Überall im Kirchenschiff und an den Pfeilern waren große Ständer mit dicken Opferkerzen aufgereiht. Eine Aura der Frömmigkeit umwehte sie, die in die Lungen des jungen Mönchs eindrang wie ein tröstender Hauch. Weihrauch wandelte die Aura in Duft, es roch nach Speik und Ysop, Räucherharz und Sandelholz, Onycha und Myrrhe. Die Kirche war noch ganz darin eingehüllt, das hohe Dach und die Heiligen sah er nur durch einen dünnen, schwebenden Schleier.

Geschäftig lief Marku hin und her und erledigte seine morgendliche Pflicht. Dabei spulte er schweigend ein Gebet nach dem anderen ab, um die trüben Gedanken zu vertreiben, die ihn permanent bedrängten. Als er mitten im Kirchenschiff eine der größeren Lampen auffüllte, fiel ihm etwas auf. Zuerst wusste er nicht genau, was er da sah, aber er spürte, etwas war anders als sonst. Jemand hatte einen großen Gegenstand vor dem Ikonostas liegenlassen, der jetzt das Gold der Ikonen verdeckte.

Damit nicht einer seiner Novizenbrüder Ärger bekam, der etwas an den falschen Platz gestellt hatte, lief er herzu, um den Fehler zu korrigieren, bevor ihn jemand anderer bemerkte.

Um besser sehen zu können, rieb er sich die Morgentränen aus den Augen. Nun sah er klar. Nur allzu klar.

Die Schreie des jungen Mannes übertönten das Hämmern der toaca, den Wind, der um die Kirche strich, und die Morgenrufe der Vögel. Er schrie so lange, bis endlich jemand kam. Sanfte Hände legten sich um seine Schultern, und man führte ihn fort.

Man hatte Pater Iustins Mönchsgewand über dem Rücken aufgerissen und ihn geknebelt. Jemand hatte ihn mit Seilen an den Ikonostas gebunden, und ein weiterer, es musste ein starker Mann gewesen sein, hatte ihn ausgepeitscht, während ein dritter ganz nahe bei ihm gestanden hatte, um die Worte zu verstehen, falls er etwas sagen sollte.

»Wohin sind sie gefahren?«, fragte dieser Dritte. »Du weißt, wer ich bin. Du weißt auch, dass du oder deine Freunde mich nicht aufhalten können. Ich habe, was ich wollte. Ich brauche deine Freunde nur, damit sie mir den Ort zeigen, wo die Reliquien gefunden wurden. Ich will die Gebeine, wie du sicher längst erraten hast. Sag nur das eine Wort, alter Mann, und ich lasse dich in Ruhe. Ich will dir nichts Böses, aber ich werde bekommen, wonach ich suche. Es liegt an dir, ob du leiden musst. Nur ein Wort, nur ein Hinweis. Mein Freund führt die Peitsche gut, und er wird sie dich spüren lassen, bis du nicht mehr weißt, ob du tot oder lebendig bist. Bis du mir sagst, wohin sie gefahren sind.«

Von Pater Iustin kam kein Laut. Sie rissen ihm die Kleider auf und banden ihn an den Ikonostas zwischen einem Bild der Jungfrau und einem von Johannes dem Täufer. Sie stopften ihm einen Lappen in den Mund, damit er nicht schrie, und der Mann mit der Peitsche spuckte ihm auf den nackten Rücken. Das alles geschah ganz unaufgeregt ohne alle moralischen Gewissensbisse oder Furcht vor den Folgen. Egon Aehrenthal hatte kein Gewissen, nicht eine Spur davon, und er hatte den anderen beigebracht, dass Gewissen eine Schwäche sei, die man in sich unterdrücken müsse, so wie die Mönche von Putna gegen Wollust und Gier ankämpften.

Der erste Schlag, von beherrschtem Zorn getrieben, fiel heftig aus. Iustins Haut sprang auf, und Blut spritzte in die kalte Luft. Fasziniert sah Aehrenthal zu, wie die Peitsche stieg und fiel, wie der Leib des Mönchs vor Schmerz wie von Feuer zusammenzuckte, wie sein Rücken immer mehr von offenen Wunden überzogen wurde, aus denen das Blut strömte.

»Stopp«, sagte Aehrenthal und hob den Arm. Die Peitsche blieb mitten in der Luft hängen. Aehrenthal zog den feuchten Lappen aus Vater Iustins Mund.

»Ich höre sofort damit auf«, sagte er, »wenn du nur ein Wort sagst. Ich brauche einen Namen, einen Ort oder einen anderen Hinweis. Du hast genug gelitten. Auch Jesus hat nur 39 Peitschenhiebe ausgehalten. Du hast jetzt ein Dutzend bekommen.«

Die Lippen des Priesters bewegten sich, aber heraus kamen immer nur die ersten Worte des Ave Maria.

Wieder stopfte Aehrenthal dem alten Mann den Lappen in den Mund. Der ist wohl bald erledigt, dachte er bei sich, denn er sah nicht so aus, als könnte er die biblische Auspeitschung in voller Länge ertragen. Er nickte, und die Schläge gingen weiter.

Als sie bei 70 angelangt waren, wusste Aehrenthal, dass er von dem Priester nichts erfahren würde. Immerhin sah er diese Folter auch als symbolische Handlung für dieses oder jenes, was genau, wusste er selber nicht. Pater Iustin starb zwischen zwei Schlägen. Sein Rücken war völlig zerfetzt und der Mann nur noch eine einzige blutende Masse. Sie ließen ihn liegen, wie er war, und gingen aus der Kirche, als hätten sie gerade das Mitternachtsgebet verrichtet.

So fand ihn der junge Mönch am Morgen – wie ein Stück Fleisch in einem Metzgerladen. Ein Zeichen, aber niemand konnte genau sagen, wofür.

 

Sie fuhren weiter nach Süden in Richtung Piatra Neamt‚, der wichtigsten Stadt der Ostkarpaten im nördlichen Teil der Bukowina. Von dort ging es sieben Kilometer nach Nordwesten und dann auf die Hauptstraße von Piatra Neamt‚ nach Bicaz. Wenige Minuten später hatten sie ihr Ziel, das Kloster Bistrit‚, erreicht.

Drinnen fragten sie nach Vater Gavril Comaneci. Man führte sie in einen düsteren, ungeheizten Raum und hieß sie warten. Nach zehn Minuten trat ein Mönch ein, der einen langen weißen Bart hatte und dem Haar aus Ohren und Nase wuchs. Er erkundigte sich, was sie von Vater Gavril wollten, und Ilona erklärte lang und eindringlich ihr Anliegen. Der Mönch runzelte mehrmals die Brauen, nickte dann und verschwand.

Wieder vergingen ein paar Minuten. Ein anderer Mönch erschien. Er trug einen schwarzen Bart und mochte etwa vierzig Jahre alt sein. Seine kleine runde Kopfbedeckung roch nach Leim, und er hatte Farbflecke an den Händen. Comaneci war Künstler und gegenwärtig mit der Restauration der Fresken im Kloster beschäftigt. Aus seiner Arbeit gerissen, schaute er etwas irritiert drein. Er hatte tiefblaue Augen und einen Blick, der einem durch und durch ging. Ilona kam ins Stottern, als sie zu erklären suchte, wer sie waren und was sie zu ihm geführt hatte.

Aber Pater Iustins Name änderte alles. Comaneci hieß Ilona schweigen und bat die Reisenden auf Englisch, ihm zu folgen.

Als sie den unwirtlichen Warteraum verlassen hatten, fiel Ilona ein, dass sie sich noch nicht bei ihrer Familie gemeldet hatte. Der Akku ihres Handys war leer, und sie hatte das Ladegerät vergessen. Vater Gavril führte sie ins Klosterbüro, wo das einzige Telefon stand. Sie rief zu Hause an. Sie wusste, dass sich ihre Eltern um sie Sorgen machen würden. Sie dachten sicher, sie sei einfach verschwunden oder ihr sei etwas zugestoßen, als sie das letzte Mal in die Berge ging. Man wusste, dass sich in Aehrenthals Schloss unheimliche Typen herumtrieben, und Gerüchte über Vergewaltigungen liefen um, die aber nie bewiesen wurden.

Das Telefon klingelte und klingelte. Das kam ihr merkwürdig vor. Um Weihnachten musste jemand zu Hause sein. Ihre Mutter ging ohnehin kaum aus dem Haus. Minuten verstrichen. Ilona legte auf. Verwundert entschloss sie sich, ihre Großmutter anzurufen, die zwei Straßen weiter wohnte. Sie nahm den Hörer wieder auf und gab die Vorwahl ein, dann die Nummer des Apparates. Die alte Frau (eigentlich war sie erst Ende fünfzig) lebte allein, seit ihr Mann Petrica vor fünf Jahren verstorben war.

Diesmal wurde schon Sekunden später abgenommen. Aber es war nicht ihre Großmutter.

»Hallo?«, sagte Ilona. »Wer ist dort?«

»Ilona? Bist du das?«

»Ja, wer …?«

»Hier ist Cosmina Brat‚ianu, meine Liebe. Die Nachbarin deiner Großmutter. Willst du sie sprechen?«

»Was ist mit ihr? Sag bloß nicht, sie ist krank. Ihr ging es doch gut, als ich sie das letzte Mal gesehen habe …«

»Das ist es nicht. Sie ist nicht krank, sie … ist jetzt bei deinen anderen Großeltern. Ich kümmere mich um das Haus. Ilona …«

Ihr fiel auf, dass die Stimme der Frau zitterte. Sie kannte sie, seit sie denken konnte, nicht besonders gut, aber gut genug. Sie hörte sich nicht an wie gewöhnlich.

»Was ist denn los?«, fragte sie.

»Ilona … Du musst jetzt stark sein. Ich habe schlimme Nachrichten für dich …«

 

Als Ilona später in der Krankenstation des Klosters zu Bett gebracht war, um sich von dem Schock zu erholen, und die Mönche jemanden nach Piatra Neamt‚ geschickt hatten, um einen Arzt zu holen, bat Gavril Ethan und Sarah in sein Arbeitszimmer, wo er sein Material aufbewahrte und an den verschiedensten Dingen gleichzeitig arbeitete. Er schaffte ein paar Sitzgelegenheiten herbei und hieß sie um einen Tapeziertisch Platz nehmen, der mit einer farbbeklecksten Plane bedeckt war.

Ein Novize brachte Gläser und eine Flasche Vinars, einen Weinbrand des Klosters, der in der ganzen Bukowina berühmt war. Sarah und Ethan standen noch unter dem Eindruck der Nachrichten über Ilonas Familie. Ebenso bestürzend wie die Morde war die Rundfunkmeldung, dass in Sâncraiu niemand der Polizei sagen wollte, wer dafür verantwortlich war. Aehrenthal hatte wieder einmal getötet und war davongegangen wie ein Mann, der auf einem Feld den ganzen Tag Vögel geschossen hat.

»Lassen Sie sich Zeit«, sagte Gavril. »Auch mir hat dieser Mann gute Freunde geraubt. Ich kann mir vorstellen, was Sie durchmachen. Beginnen Sie ganz von vorn. Im Moment sind wir nicht in Eile.«

Mitten in ihrem Bericht kamen sechs Zuhörer hinzu, die Vater Gavril herbeigerufen hatte. Zwei waren Mönche aus Bistrit‚a, die anderen vier kamen aus den Nachbarklöstern von Agapia und Secu bei Târgu-Neamt‚ im Norden sowie von Pâugárati und Horaita in der Nähe. Gavril stellte sie vor, so wie sie eintrafen, aber Ethan hatte die Namen Minuten später wieder vergessen. Er fuhr in seinem Bericht fort.

Kurz vor Mittag gab es eine Unterbrechung. Vater Gavril wurde nach draußen gerufen und kehrte erst zwanzig Minuten später wieder zurück. Er war aschfahl im Gesicht, setzte sich und brauchte eine Weile, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte. Ihm schien kaum bewusst zu sein, wer mit ihm im Raum war, denn er sprach zunächst Rumänisch. Was er mitzuteilen hatte, schien die anderen Mönche ebenso zu erschüttern wie ihn selbst.

Als er aufblickte, sah er Ethan und Sarah an, als seien sie Geister, die er erst jetzt bemerkte.

»Sie können sich sicher denken, dass auch ich schlechte Nachrichten erhalten habe«, sagte er dann. »Das ist ein schwerer Schlag für uns alle. Pater Iustin in Putna ist umgebracht worden. Sie haben ihn zu Tode gepeitscht. Wenn Sie das können, dann möchte ich Sie bitten, gemeinsam mit uns für seine Seele zu beten. Wenn sie auch nur ein Wort aus ihm herausgeprügelt haben, wohin Sie gegangen sind, ist unser aller Leben keinen Pfifferling mehr wert.«

Sie blieben über eine Stunde in der Kirche. Ethan und Sarah standen im Hintergrund und sahen zu, wie die Mönche und Priester sich zum Gebet versammelten. Dicke Wolken von Weihrauch zogen durch das Kirchenschiff, und hinter dem Ikonostas schwangen die Stimmen der Betenden auf und ab.

Sie brachten die geweihte Ikone der Heiligen Anna herbei, die der aufgeklärte Herrscher des Byzantinischen Reiches dem Kloster vor vielen Jahren zum Geschenk gemacht hatte, als sein Sohn Konstantin XI. den Thron bestieg, nachdem Konstantinopel 1453 an die Türken gefallen war. Dem Heiligenbild wurden wundertätige Kräfte zugesprochen. Während ein Mönch es dem anderen reichte, wollte Ethan beinahe selbst an seine erlösende Wirkung glauben. Er hielt Sarahs Hand, zunächst, um ihr etwas Trost zu spenden, dann aber mit größerer Wärme, als sie beide erwartet hatten.

Als die Stunde vorüber war, rief Vater Gavril seine sechs Begleiter zusammen und winkte auch Ethan und Sarah zu, ihm zu folgen.

»Wir müssen diesen Ort verlassen«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass Pater Iustin etwas gesagt hat. Aber nicht jeder von uns ist so stark. Unsere junge Freundin ist nicht reisefähig. Ich habe vorhin den Arzt gefragt, und er hat kategorisch angeordnet, dass sie hierbleibt. Wir haben ein kleines Nonnenkloster in der Nähe, wo sie in guten Händen ist. Man wird sie dorthin bringen.«

Sie konnten sich nur kurz von Ilona verabschieden, weil die anderen zum Aufbruch drängten. Sie schien ihnen wie tot. Sie hatte alles verloren, was ihr etwas bedeutete. Es war nicht Trauer, die sie empfand, denn sie hatte etwas verloren, das mit Trauer über die Vergänglichkeit der Welt nicht zu bewältigen war. Ihr Gesicht war rot und verschwollen, sie brachte kein Wort Englisch heraus. Ethan fühlte sich schrecklich schuldig, dass er sie, ohne nachzudenken, in diese Gewaltorgie hineingezogen hatte. Ihre Bereitschaft, zu helfen, hatte ihr Leben zerstört und das ihrer Angehörigen vernichtet. Sarah setzte sich zu ihr ans Bett und sprach von ewiger Dankbarkeit. Sie versuchte ihr zu erklären, wie viel sie geleistet habe, um Aehrenthal und dessen wahnsinnige Pläne zu durchkreuzen.

»Ich werde ihn für dich töten«, sagte Sarah, ohne zu wissen, ob sie dazu in der Lage war. Ilona antwortete nicht, drückte aber Sarahs Hand. Dann mussten sie fort.

 

Sie hatten genügend Fahrzeuge, dass alle Platz fanden. Das Kloster gab ihnen warme Kleidung und Proviant mit.

»Wohin fahren wir?«, fragte Ethan.

»Zurück nach Transsilvanien. Keine Sorge, ich werde Sie nicht nach Sâncraiu oder auch nur in die Nähe bringen. Wir fahren nach Sighişoara. Sie werden es mögen, die Stadt wirkt sehr mittelalterlich, und viele Touristen kommen dorthin. Sie können sich frei bewegen, und die Leute werden denken, Sie seien nur Reisende, die sich den berühmten Stadtturm anschauen wollen. Sarah und Sie können dort Hand in Hand auf dem Festungsplatz spazieren gehen wie ein verliebtes Paar.«

»Warum nennen Sie uns so?«

»Als ich Sie beide vorhin in der Kirche gesehen habe, spürte ich, dass da etwas zwischen Ihnen ist. Glauben Sie nicht, nur weil ich ein Mönch bin, hätte ich keinen Sinn für solche Dinge. Unsere Priester dürfen heiraten wie Ihre anglikanischen. Aber vielleicht irre ich mich ja.«

»Und weshalb Sighişoara?«

»Die Kirche besitzt dort ein Exerzitienhaus weit außerhalb der Stadt. Die letzte Gruppe ist vor einer Woche abgereist, und bis Ende Januar wird dort niemand erwartet. Bei schlechtem Wetter auch dann noch nicht. Ich brauche eine Basis, von der aus ich arbeiten kann. Dort werden andere zu uns stoßen, die wir benachrichtigen. Wir müssen wissen, was Aehrenthal unternimmt. Wenn er Sie nicht findet, dann kommt er auch nicht an den Ort der verschwundenen Stadt heran. Dadurch gewinnen wir Zeit.«

Ethan schüttelte den Kopf.

»In der Jagdhütte bei Sâncraiu hat Sarah angefangen, ein Tagebuch zu führen. Es ist dort zurückgeblieben, als wir überstürzt aufbrechen mussten. Mit dem Tagebuch wollte sie wieder zu sich selbst finden und aufarbeiten, was sie erlebt hat. Heute Morgen ist ihr etwas eingefallen. Sie hat dort den Brief meines Großvaters erwähnt und die Tatsache, dass die Ortsangaben darin stehen. Sie glaubte, der Brief liege noch in England in der Bibliothek von Woodmancote Hall, wo wir ihn gefunden hatten. Aber ich habe ihn bei mir. Wir sind im Besitz der Koordinaten von Ain Suleiman.«