Aehrenthals Hauptvorteil, von dem er nichts ahnte, war sein Führer Mohamed. Anders als Ayyub, der die Wüste nur so weit kannte, wie die ihm anvertrauten Touristen sich bisher vorgewagt hatten, was nicht viel bedeutete, war Mohamed ein echter Tuareg. Die Wüste mit ihren Strukturen, ihren Labyrinthen, ihren Zeichen und Entdeckungen, ihren Mysterien und dunklen Geheimnissen lag ihm im Blut. Die Tuareg wussten alles und sagten wenig. Mohameds Kenntnis der Wüste war nicht nur das Ergebnis seines eigenen Lebens oder das Erbe seines Vaters und Großvaters, sondern jenes von Generationen verhüllter Männer, die stets am Rande des Überlebens existiert hatten, die mit diesem Sandmeer so vertraut waren wie Seeleute mit dem Ozean, Bauern mit dem Boden oder Soldaten mit Blut.
Zwar hatte Mohamed bereits mit vielen Ausländern zu tun gehabt, im Grunde kannte er sie aber nicht. Als Aehrenthal ihm erklärte, die Frau, die sie gefesselt und in ihrem Jeep mitgenommen hatten, sei eine seiner Ehefrauen, die eine andere Expedition geraubt habe, glaubte ihm Mohamed und billigte sein hartes Durchgreifen gegen sie, bis er sich von ihrer Verworfenheit überzeugt hatte. Wenn Aehrenthal sie töten wollte, würde ihm Mohamed einen Kopfschuss empfehlen, denn Steine waren in diesem Teil der Wüste selten und Kugeln eine teure Sache. Ein Schnitt durch ihre Kehle würde es auch tun, wäre aber eine wesentlich schmutzigere Angelegenheit.
Auf ihren eigenen Spuren fanden sie bald wieder zum Rest ihrer Gruppe zurück. Auf Aehrenthals Befehl waren sie in Funkverbindung geblieben und konnten so einander die jeweilige Position über die Dünen hinweg mitteilen.
Aehrenthal hatte Hunger und Durst. Er zerrte Sarah aus seinem Jeep und stieß sie in den langen Schatten einer Düne. Die anderen folgten ihm. Jemand brachte Wasser. Jetzt, da sie wussten, dass die Oase nicht mehr weit war, konnten sie etwas großzügiger mit ihren Vorräten umgehen. Aehrenthals Koch stellte einen großen Campingherd auf, auf dem er für alle Eier und Schinken briet. Sie aßen eine Weile schweigend, dann schaltete jemand ein Radio ein. Er drehte eine Weile am Knopf, bis er auf das libysche Radio Benghazi stieß, das auf Arabisch sendete. Dort lief eine kurze Diskussion. Mohamed erklärte ihnen, es gehe um den Zweiten Weltkrieg, um den Kampf zwischen Italienern und Deutschen.
»Jetzt bringen sie Musik von damals«, sagte Mohamed. Da plärrte es auch schon aus dem Lautsprecher. Sarah erkannte das Lied sofort. Lale Andersen sang »Lili Marlen«.
»Vor der Kaserne
Vor dem großen Tor
Stand eine Laterne
Und steht sie noch davor …
Wie einst Lili Marlen.«
Obwohl von Aehrenthals Männern keiner alt genug war, um die Kriegsjahre erlebt zu haben, kannten alle diesen Schlager der deutschen Truppen und pfiffen mit.
Einer der Männer, in dem Sarah einen ihrer Vergewaltiger vom Schloss erkannte, leckte sich die Lippen und stellte den Teller ab.
»Ich nehme an«, sagte er zu Aehrenthal, »Sie haben nichts dagegen, wenn wir der jungen Frau eine Lehre erteilen. Nicht wieder wegzulaufen, wie sie es getan hat. Mich juckt es schon die ganze Zeit, seit wir von zu Hause fort sind, wenn Sie wissen, was ich meine. Erlauben Sie mir bitte, mit ihr hinter eine Düne zu gehen und es ihr zu besorgen. Vielleicht können wir uns ja auch alle etwas erleichtern, bevor wir zu dieser Oase fahren.«
Aehrenthal warf dem Mann, einem Sergeanten seiner persönlichen Schutztruppe, einen scharfen Blick zu. Serghei Comeaga war nicht dumm, und wenn es ihn nach einer Frau gelüstete, dann hatte er es sich bisher nicht anmerken lassen.
»Die Frau ist tabu, Serghei«, sagte Aehrenthal. »Wenn jemand sie anfasst, dann ich. Sie ist mein Eigentum. Das wirst du mir nicht nehmen. Vielleicht überlasse ich sie dir später, aber im Augenblick gehört sie mir. Sie wird mir helfen, die Inschriften zu entziffern und unsere Funde zu prüfen. Eines Tages wird sie mit Museumskuratoren sprechen und sie davon überzeugen, dass echt ist, was wir ihnen vorlegen. Wenn die genug dafür zahlen, werden wir die Mittel haben, um unser Projekt zu starten. Dann wird sie nicht mehr so wichtig sein. Dann könnt ihr sie alle haben, sie ficken bis zum Wahnsinn. Das ist mir dann egal.«
Serghei war unzufrieden. Er erinnerte sich nur zu gut an die Engländerin. Als sie ihren Widerstand aufgegeben hatte und mit geöffneten Beinen dalag, war sie köstlicher gewesen als jede Frau, die er je gehabt hatte. Er war mehrere Male bei ihr gewesen, und sie hatte ihn mit ihrem matten Stöhnen und Schreien erregt. Er wusste, dass sie ihn wollte. Und wenn sie sich krümmte, dann nicht, weil sie ihm zu entgehen versuchte, sondern weil sie kam, obwohl sie genau das Gegenteil vortäuschte.
»Jetzt hören Sie mir mal zu«, sagte er zu Aehrenthal, ohne zu bemerken, dass es unter dessen rechtem Auge leicht zuckte, dass sein Chef sehr still geworden war.
»Sie schleppen uns hierher in diese verdammte Wildnis, wo wir fast verhungern, ersaufen und uns verirren, und jetzt wollen Sie uns erzählen, dass wir nicht mal ein bisschen körperliche Erleichterung verdienen, um uns abzulenken. Vielleicht sind Sie ja erhaben über einen süßen kleinen Fick, oder Sie mögen gar diese kleine Lady. Aber Sie sind nicht Gott, nicht Jesus Christus und erst recht nicht Adolf Hitler. Ich mach das nicht mehr mit, wie Sie uns hier rumkommandieren. Die Frau gehört mir, bis ich mit ihr fertig bin, und dann könnt auch ihr anderen sie haben.«
Aehrenthal hatte seine Pistole in der Hand und entsichert, bevor Serghei es überhaupt bemerkte.
»Diese Expedition führe ich«, sagte Aehrenthal. »Und ich bin der Kommandeur der Longinus-Legion. Du bist ein ungehorsames Stück Scheiße. Auf die Knie!«
Er machte eine Geste mit der Waffe. Serghei rührte sich nicht.
»Ich habe gesagt, auf die Knie!«
Unerwartet bewies Serghei eine Sturheit, die stärker war als der Gehorsam gegenüber diesem Befehl, seiner Einheit und seinem Führer. Sein Mund war trocken und fast ohne Speichel, aber den Rest spie er vor sich in den Sand, der ihn rasch aufsog.
Aehrenthal hob die Waffe und schoss Serghei in den Unterleib. Der Mann stand einen Moment still, als müsse er herausfinden, wo er getroffen war und wie er sich fühlte. Es schmerzte sehr, aber er war nicht tot oder auf dem Wege dorthin. Dann stieg der Schmerz heftig auf, er sackte zusammen und sank in die Knie.
»Auf geht’s!«, sagte Aehrenthal, packte Sarah beim Arm und schob sie wieder in seinen Jeep.
Keiner murrte gegen den Schuss. Keiner deutete an, man sollte Serghei mitnehmen oder Essen und Wasser für ihn zurücklassen. Keiner wagte daran zu denken, wie lange er noch überleben konnte. Die Motoren heulten auf. Sekunden später lag Serghei allein und verlassen in der Wüste und sah zu, wie das Blut aus seinem Bauch rann und im Sand versickerte.