Woodemancote Hall
bei Bishops Cleeve
Gloucestershire
England
Dezember 2008
Die Polizei war dagewesen und wieder weggefahren. Zwei Kleinbusse ohne Kennzeichen hatten die Leichen abgeholt. Den Gästen stellte man viele Fragen, nahm ihre Fingerabdrücke, dann schickte man sie nach Hause. Den ganzen Tag lang blieben drei Teams vor Ort, die in der Bibliothek sowie an Türen und Fenstern in der Nähe weitere Spuren sicherten. Polizisten in Uniform, Kriminalbeamte in Zivil, Leute von der Gerichtsmedizin und der Pathologie waren in endloser Folge ein- und ausgegangen. Von allen Gästen wurden DNA-Proben eingesammelt, alles in Sichtweite war fotografiert und nummeriert worden, Plastiktüten hatte man mit Beweismitteln aller Art gefüllt und jede Person von drei Jahren aufwärts in die Bibliothek beordert, damit sie erzählte, wie sie die vergangene Nacht erlebt hatte.
Um nicht untätig herumzusitzen und zu warten, bis sie an die Reihe kamen, hatten einige Gäste sich an die traurige Arbeit gemacht, den Weihnachtsschmuck abzunehmen. Die Polizei ließ sie gewähren. Der festlich geschmückte Baum, die Geschenke, die unter ihm lagen, die für das Festessen gedeckte Tafel, die Lampenketten und Kerzen oder die Krippe waren nun die traurigsten Dinge der Welt, die niemand mehr ertragen konnte, nicht einmal die Kinder. Man hatte die Eltern zuerst befragt, so dass sie ihre Kleinen samt der Geschenke fortbringen konnten, um woanders den Versuch zu machen, für sie noch ein wenig Festtagsstimmung zu zaubern. Vielleicht hatte sich ja der Weihnachtsmann irgendwo versteckt und konnte sie die Schreie vergessen machen, die sie am glücklichsten Morgen des Jahres aus ihren Betten gerissen hatten zu Erwachsenen, die weinten und denen trotz all der Choräle, Engel und Lichter der blanke Horror ins Gesicht geschrieben stand.
Das Haus war verschlossen und mit einem Polizeisiegel versehen. Der Gemeindepfarrer hatte noch einmal an der Tür gebetet, als ob seine Worte und das Siegel ein gewisses Abschlussritual darstellten. Auch er war bedrückt seiner Wege gegangen, grübelnd, was er wohl seiner Gemeinde beim Abendgottesdienst sagen sollte. Ethan und Sarah, nun aus dem Haupthaus verbannt, hatten sich in das Gartenhäuschen, ein paar hundert Meter entfernt, zurückgezogen.
Draußen schneite es noch immer. In dem Kirchlein senkte eine Gemeinde, deren Reihen sich gelichtet hatten, die Köpfe und kniete nieder, um Gott für die Geburt des Jesuskindes zu danken. In den Wäldern, auf die sich die Dunkelheit senkte, zitterten Vögel in ihren Nestern, duckten sich Füchse, Dachse und Eichhörnchen in ihre Höhlen, standen die Bäume in tiefem Schweigen. Über dem Dorf stieg Rauch auf, wo Truthähne über Holzfeuern brutzelten, Gänse in heißen Ofenröhren brieten, Puddings kochten, Kinder ihre neuen Spielzeuge ausprobierten, dümmliche Shows über Fernsehschirme flimmerten, von einem Schwarm Satelliten zu den Menschen gebracht, die fern und ungerührt die Welt der Weihnacht umkreisten.
Senhora Salgueiro hatte Ethan zu Verwandten geschickt. Sie hatte einen schweren Nervenschock erlitten, und der Landarzt, den man übellaunig von der Weihnachtsfeier geholt hatte, gab ihr ein Fläschchen Beruhigungsmittel, damit sie wieder zu sich kam. Sie war nicht die Einzige, der er an diesem Morgen etwas verschrieben hatte. Sie war zwanzig Jahre lang Geralds Haushälterin gewesen, manche glaubten, eine Zeitlang auch mehr, und sein Tod, besonders, was er hatte erleiden müssen, war ihr sehr zu Herzen gegangen.
Ethan drehte eine letzte Runde über das ganze Gelände. An den Ermittlungen durfte er sich nicht beteiligen, aber Bob Forbes, der sie leitete, hatte ihn gebeten, die Augen offenzuhalten. Er ging in das Gartenhäuschen zurück und wollte sich in die kleine Bibliothek im Erdgeschoss setzen, wo er früher gern gewesen war. Zu seiner Überraschung fand er dort Sarah, die sich mit einem Buch in einem Sessel niedergelassen hatte. In dem kleinen Kamin brannte ein helles Feuer, die Flammen tanzten wie Kobolde und ließen Licht und Schatten über das Gesicht der jungen Frau huschen.
»Ist das Buch gut?«
Sie blickte auf.
»Nicht besonders«, meinte sie. »Ich hab mir einfach eins genommen. Ich wollte irgendetwas lesen. Nach alledem. Ich dachte, ich könnte davon einen klaren Kopf bekommen.«
»Und hat es geholfen?«, fragte er.
Sie schüttelte den Kopf. Ihm fiel auf, dass sie seit dem Morgen weder ihr Haar gerichtet noch Make-up aufgelegt hatte. Das Lächeln, das ihm so gefiel, war völlig verschwunden.
»Es wird bald dunkel«, setzte er von neuem an. »Wie lange wirst du bis Oxford brauchen? Ehrlich gesagt, ich dachte, du wärst schon weg. Tagsüber hat es eine Menge geschneit. Es wird schwer durchzukommen sein.«
Für einen kurzen Augenblick kehrte das Lächeln zurück.
»Ich fahre noch nicht ab. Ich habe ein bisschen freie Zeit und dachte, ich bleibe hier, solange es nötig ist.«
»Nötig?« Er ließ sich in dem Sessel auf der anderen Seite des Kamins sinken.
»Ethan, bist du vielleicht ein bisschen begriffsstutzig? Du hast beschlossen, in diesem Häuschen zu bleiben, weil du Polizist bist und man dir befehlen kann, hier aufzupassen, dass kein Unbefugter eindringt. Hast du dabei auch einmal an dich gedacht?«
»An mich? Ich habe Urlaub bis …«
»Typisch Mann. ›Ich habe Urlaub.‹ Ich habe dich nicht nach deinem Dienstplan gefragt, sondern nach dir selbst.«
Er griff sich den Schürhaken, stocherte etwas in dem Feuer herum und legte ein paar Scheite nach. Sie zischten und jagten helle Funken in den Schornstein hinauf.
»Mir geht’s gut«, sagte er. »Ich kann mich um das Anwesen kümmern, bis Senhora Salgueiro zurückkommt.«
»Du hast immer noch nicht auf meine Frage geantwortet.« Sie schlug das Buch zu und ließ es zu Boden fallen. »Ohne Senhora Salgueiro bist du hier ganz allein. Du schläfst kaum einen Steinwurf von dem Ort entfernt, wo dein Großvater und sein Freund bestialisch ermordet wurden. Sicher hast du im Leben schon Dutzende Leichen gesehen und bist an solche Dinge gewöhnt, aber du wirktest ziemlich mitgenommen, als du heute Morgen aus jenem Zimmer herauskamst. Meinst du, ich glaube dir, dass es dir nichts ausmacht, allein hierzubleiben, dass du nicht herumsitzen und von früh bis abends über die Sache nachgrübeln wirst?«
»Sarah, ich …«
»Ob du dich dem nun aussetzen willst oder nicht, ich werde das nicht zulassen. Für diese Zeit leiste ich dir Gesellschaft. Ich werde deine Haushälterin sein. Ich koche für dich und esse mit dir. Ich rede mit dir, wenn dir danach ist, ich begleite dich beim Spaziergang in der Kälte, lese dir vor, spiele Scrabble mit dir, schaue mir alte Filme im Fernsehen an oder höre Musik mit dir. Die einzigen Dinge, die du nicht von mir erwarten kannst, sind, deine Socken und deine Unterwäsche zu waschen, dir jeden Abend ein Stückchen Schokolade aufs Kissen zu legen oder mit dir zu schlafen. Wir könnten uns ja nach all den Jahren ein bisschen besser kennenlernen. Na, ist das ein Deal?«
Einen Moment schaute er sie verdattert an. Als er sich wieder in der Gewalt hatte, wagte er ein kleines Lächeln.
»Aber ich selber«, sagte er, »bin auch kein schlechter Koch.«
Sie musste grinsen.
»Tatsächlich?«
Ihr skeptischer Ton weckte in ihm Erinnerungen an verbrannten Toast und versalzenes Rührei. Er schüttelte den Kopf.
»Wenn ich mir Mühe gebe, bringe ich mit Ach und Krach gebackene Bohnen auf Toast zustande.«
Allein bei der Vorstellung verzog sie das Gesicht.
»Wenn das so ist, solltest du ein Dankgebet zum Himmel schicken, denn ich bin eine gute Köchin. Cordon bleu mache ich mit links. Zweifellos würde es bei dir gebackene Bohnen auf Toast zum Frühstück, Mittag, Abendessen und als spätes Nachtmahl geben. Dass du nicht kochen kannst, ist sehr beruhigend für mich. Ich mag keine Männer, die etwas besser können als ich. Am Ende tust du mir noch leid, und ich heirate dich. Wieso hast du nie gelernt …«
Sie stockte, als ihr bewusst wurde, was sie da gerade geplappert hatte.
»Tut mir leid«, sagte sie. »Das war dumm von mir. Ich hätte erst nachdenken sollen, bevor ich meine große Klappe aufmache.«
»Schon gut. Das ist jetzt acht Jahre her. Da warst du noch ein Teenager.«
»Aber ich kann mich gut an Abi erinnern. Sie war so schön. Es hat uns alle sehr mitgenommen, als …«
»Es war für viele ein Schock. Für die Familie, für ihre Freunde.«
»Stimmt es, dass du sie gefunden hast?«
»Nicht direkt. Aber mehr oder weniger. Ich musste sie identifizieren.«
Abi war an einem Sommerabend, als sie in einem Park in der Nähe ihrer Wohnung joggte, vergewaltigt und ermordet worden. Ethan war als erster Kriminalbeamter am Tatort gewesen. Ein Streifenwagen, der an dem abgeschiedenen Ort vorbeifuhr und sie fand, hatte ihn gerufen. Er war auf eine Fremde eingestellt gewesen und blickte nun in das Gesicht seiner toten Frau, von der er sich erst vor zwei Stunden zum Dienst verabschiedet hatte. Als er jetzt den Großvater ermordet in seinem Arbeitszimmer gefunden hatte, war alles wieder hochgekommen.
Obwohl er zunächst so ablehnend reagiert hatte, war er froh, dass Sarah bei ihm bleiben wollte. Die Ermittlungen in dem Mordfall liefen bereits auf vollen Touren, was Scharen von Polizistinnen und Polizisten im ganzen Kreis um das Weihnachtsfest brachte. Er wünschte sich nichts sehnlicher, als einer von ihnen zu sein. Aber bei einem Fall in der eigenen Familie zu ermitteln stand außer Frage. Seine Erfahrung sagte ihm, dass er zum engsten Kreis der Verdächtigen gehörte.
»Wann willst du essen?«, fragte Sarah.
»Warum nicht gleich? Ich habe Hunger. Den ganzen Tag habe ich so gut wie nichts zu mir genommen. In diesem Häuschen waren drei Familien mit Kindern untergebracht, in der Küche müssten also genügend Vorräte sein.«
»Daran habe ich noch gar nicht gedacht.« Sie runzelte die Brauen. »Das können wir doch nicht einfach verderben lassen, besonders an solchen Feiertagen. Meinst du nicht, dass eine Wohltätigkeitsorganisation es gebrauchen kann? Und was ist mit der Küche im großen Haus?«
Der Sessel war so tief und weich, dass Ethan Mühe hatte, auf die Beine zu kommen.
»Mit der großen Küche wird es schwieriger, ich müsste mit einem von der Polizei reden. Hier ist es einfacher. Die Sachen können alle noch einem guten Zweck dienen. Wenn nur jemand sie bei diesem Schnee abholt.«
Nach ein paar Telefonaten versprach ein Obdachlosenheim in Cheltenham, noch am Abend einen Wagen zu schicken. Die Vorräte in der großen Küche wollte die Polizei zur Heilsarmee transportieren. Ethan und Sarah gingen in die Küche, wo sie beiseitelegten, was sie selber brauchten, und den größten Teil in Kartons verpackten.
Dann suchte Sarah etwas für das gemeinsame Essen zusammen. Sie fand eine Schachtel Reis, große Garnelen, Käse und eine Flasche Pino Grigio.
»Wie wär’s mit einem Risotto?«, fragte sie. »Hier sind zwar nur Brühwürfel, aber ansonsten ist alles da, um einen halbwegs anständigen zu machen.«
Er nickte und bot seine Hilfe an.
»Ethan«, sagte sie mit Nachdruck, »in jeder guten Familienküche gilt eine eiserne Regel: Ein Koch ist genug. Setz dich dort drüben hin und unterhalte mich.«
Sie nahm eine Zwiebel und begann die Haut abzuziehen. Er setzte sich an den Küchentisch und schaute ihr zu. Er konnte immer noch nicht fassen, dass diese Familie, die nicht gerade für die Schönheit ihrer Mitglieder berühmt war, ein so hübsches Wesen hervorgebracht hatte.
»Erzähl mir von dir«, sagte er dann. »Ich weiß nicht einmal genau, womit du dich beschäftigst. Du bist Lehrkraft an der Uni, das weiß ich, und da du in Oxford lebst, nehme ich an, dass du dort lehrst.«
»Ich mache mehr Forschungsarbeit«, antwortete sie, und ihre Augen begannen von den Zwiebeln zu tränen. »Aber von Zeit zu Zeit habe ich auch Lehrveranstaltungen.«
»Du Ärmste. Zu welchem Thema?«
»Ethan, kannst du mal nachschauen, ob es hier irgendwo eine Risottopfanne gibt? Etwas Schweres aus Gusseisen wäre gut.«
Er stand auf und begann in den Schränken zu wühlen. Mit tränenden Augen sah sie ihm zu. Seine Bewegungen beruhigten sie. Sie waren sicher, langsam, aber gründlich bei dem, was er tat. Zugleich schien er ihr interessiert zuzuhören.
»Biblisches Hebräisch und Aramäisch«, sagte sie. »Ich bin im Zentrum für hebräische und jüdische Studien in Yarnton angestellt. Mein engeres Gebiet ist die Dokumentation und epigraphische Betreuung von Archäologen im Heiligen Land. Ich werde zu Ausgrabungen gerufen, und wenn sie etwas finden, das entziffert werden muss, dann pfeifen sie, und ich bin da. Ich bin auf die römische Zeit spezialisiert. Meine Dissertation habe ich über die Zerstörung des Tempels geschrieben. Das muss stinklangweilig für dich sein. Ich kann eine ziemlich öde Person sein, weißt du?«
Triumphierend zog er eine schwere Le-Creuset-Pfanne von genau der richtigen Größe hervor.
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte er. »Aber dass du so etwas tust, überrascht mich schon. Wie um alles in der Welt bist du darauf gekommen?«
»Kannst du irgendwo ein Streichholz oder etwas anderes finden, um das Gas anzuzünden?«
Ihm fiel ein, wo er Streichhölzer gesehen hatte. Auf einer Keksdose gegenüber dem Herd lag eine Schachtel. Er holte eines heraus und steckte eine Gasflamme an. Dann ließ er die Schachtel in seine Hosentasche gleiten und ging hinaus, um sich nach Kerzen umzuschauen.
Sarah nahm die Pfanne in Empfang und füllte dann einen Topf mit Wasser. Ethan kehrte mit zwei Tafelkerzen und zwei kleinen gläsernen Kerzenständern zurück. Während das Wasser zum Sieden kam, hackte Sarah die Zwiebel. Das tat sie sehr gekonnt und blitzschnell. Als das Wasser gekocht hatte, goss sie es in einen großen Glaskrug, krümelte Hühnerbrühwürfel hinein und stellte das Ganze beiseite. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, schnitt eine Knolle Fenchel in Scheiben und hackte ein paar Knoblauchzehen. Ihm fiel auf, wie geschickt ihre Bewegungen waren, wie rasch und mühelos das scharfe Messer durch das Gemüse fuhr.
»Du meinst, was ein nettes Mädchen wie ich an einem so öden Ort tut? Es hat alles mit Urgroßvater angefangen. Er war sehr interessiert an diesen Dingen. Das weißt du doch, oder?«
»Ja, schon. Er hat immer mal etwas von der Bibel, dem alten Israel und Jesus’ Leben erwähnt. An Genaueres kann ich mich nicht erinnern. Und er ist mehrmals in Israel gewesen, das weiß ich. Meist in Jerusalem. Aber ich habe nicht gewusst, dass er das so wichtig genommen hat.«
»Hast du dich denn niemals in seiner Bibliothek umgesehen?«
»Na, reingeschaut habe ich schon manchmal.«
Sie warf ihm einen leicht abschätzigen Blick zu.
Sie nahm die Bratpfanne und erhitzte darin Olivenöl auf dem Gas.
»Willst du mir weismachen, dir wären nie die vielen Bücher über biblische Archäologie aufgefallen?«
»Vielleicht, aber ich kann mich nicht erinnern. Mich hat immer nur die Belletristik interessiert. Ich wollte in meinen Ferien was Spannendes lesen, das war alles. Und als Teenager habe ich mich natürlich auch gefragt, ob der alte Kerl … äh … auch noch was anderes hat.«
Wieder dieser Blick.
»Sprich nicht weiter. Dein Geschmack bei Pornos interessiert mich nicht.«
»Na, hör mal, ich war damals ein pickliger Halbstarker. Und ich habe nie etwas gefunden.«
»Auf dich sollte man ein strenges Auge haben, Ethan. Vielleicht heirate ich dich doch nicht. Also, was ich sagen wollte, Urgroßvater hat eine ganz bemerkenswerte Sammlung von Büchern zu diesem Thema. Er hat sich selbst etwas Hebräisch und Griechisch beigebracht und sich auch in Latein versucht. Seine Literatur ist nicht sehr systematisch, aber er besaß eine Menge guter Sachen. Als Studentin bin ich viel hier gewesen.«
Jetzt kam der Reis zusammen mit den Zwiebeln in die Pfanne. Ein würziger Duft stieg auf.
»Ich bin dir nie begegnet.«
»Ich habe mich von dir ferngehalten. Ich habe mir immer gedacht, dass du ein lüsterner alter Knabe bist. Jetzt sehe ich, dass ich recht hatte. So, lass mich mal einen Moment in Ruhe, damit ich hier weiterkomme.« Sie schwieg eine Weile. »Wo war ich stehengeblieben? Ja, schon als ich ein Teenager war, hat er angefangen, mir von seinen Interessen zu erzählen. Er hat angedeutet, ich könnte ja später vielleicht Sprachen studieren, zum Beispiel Hebräisch, und mich auch mit Archäologie befassen. Er hat mir sogar Reisen ins Heilige Land finanziert. Und einmal hat er mich mitgenommen.«
»Das habe ich nicht gewusst. Darüber hat er nie mit mir gesprochen.«
Sie gab etwas Wein in die Pfanne und dann zwei Kellen von der Hühnerbrühe. Der Reis saugte die Flüssigkeit auf und begann nach einem Risotto auszusehen.
Mit nachdenklichem Gesicht wandte sie sich ihm zu.
»Nie?«
»Nicht mit mir. Vielleicht mit meinem Vater oder anderen Leuten. Aber ich höre das jetzt zum ersten Mal. Ich wusste, dass du Oxford absolviert und dann promoviert hast, aber nicht genau, worum es da ging. Tut mir leid, dass ich nicht neugieriger war. Du musst mich für ziemlich ignorant halten.«
Sie schüttelte den Kopf, und ihre Miene änderte sich, denn ihre Belustigung, ihn etwas begriffsstutzig zu finden, war verflogen, und damit auch jede Spur von Ungeduld, die sie empfunden hatte. Ihr Studium hatte genau vor acht Jahren begonnen. Ein oder zwei Monte zuvor war ihre Tante Abi ermordet worden. Wie hätte er da Zeit oder Interesse finden sollen, sich darum zu kümmern, was eine Nichte tat, die ihm nicht besonders nahestand? Ihre Familien redeten seit Jahren kaum noch miteinander. Ethans Vater hatte sich mit Ethans Bruder James, Sarahs Vater, heftig gestritten, und der Zwist war nie beigelegt worden.
»Du kannst nichts dafür«, sagte sie. »Da war der Familienstreit und dann … was mit Tante Abi passiert ist. Wenn ich ehrlich sein soll, muss ich zugeben, dass ich damals gar nicht versucht habe, dich zu treffen. Ich war gerade neunzehn und hatte ein bisschen Angst vor dir. Wegen der Sache, die Abi zugestoßen war. Das hat mich tief geängstigt. Ich dachte, da du so darunter zu leiden hattest, wäre ich nicht die richtige Gesellschaft für dich. Von Zeit zu Zeit habe ich von dir gehört und mir gedacht, du müsstest sehr verbittert sein. Ich habe viel Zeit verstreichen lassen. Die sollten wir jetzt nachholen.«
Er nickte, sagte aber nichts. Sarah hatte zweifellos recht. Er war mit der Sache immer noch nicht fertig. Seit Abis Ermordung war sein Leben wie hinter einem Nebelschleier verlaufen. Ein richtiges Leben konnte man es eigentlich nicht nennen. Er hatte die Grundlagen des Umgangs und der Zusammenarbeit mit Menschen neu erlernt, blieb aber die meiste Zeit für sich. Von der Arbeit zog er sich mit etwas Essbarem in seine leere Wohnung zurück, schlief abends meist vor dem Fernseher ein und kämpfte verzweifelt gegen die ständige Versuchung an, seinen Kummer im Schnaps zu ertränken. Für seine Kollegen war er ein Einzelgänger, der zwar etwas von seinem Job verstand, aber für ein Bier am Abend im Pub nicht taugte. Selbst nach acht Jahren konnte ihn ohne sichtbaren Anlass eine tiefe Depression befallen und tagelang handlungsunfähig machen. Hier in Woodmancote hatte er zum ersten Mal während all dieser Jahre mit einem anderen Menschen ausführlich gesprochen. Plötzlich und erstaunlicherweise graute ihm vor dem Gedanken, Sarah könnte wieder aus seinem Leben verschwinden.
»Gibt es außer diesen hochgeistigen Dingen«, fuhr er fort, »noch etwas anderes in deinem Leben? Bücher, Musik, Männer?«
»Willst du mich jetzt aushorchen? Das gibt es alles, wenn du es unbedingt wissen willst. Männer – vielleicht nicht allzu viele, wie das so ist …«
»Du müsstest doch an jedem Finger zehn haben.«
Sie runzelte die Brauen.
»Meinst du? Vielleicht. Wahrscheinlich weise ich zu viele ab.«
»Du wirst mir doch nicht erzählen …«
Sie blickte ihn finster an, schüttelte aber den Kopf.
»Nein, nicht, was du denkst. Ich mag Männer. Ich würde schon gerne heiraten und eines Tages Kinder haben. Es ist nur …«
Sie zögerte. Er spürte, dass man sie nicht drängen durfte, dass er warten musste, bis sie von selbst aussprach, was ihr so schwerfiel.
»Als ich mit dem Studium fertig war, hat einer meiner Dozenten mich manchmal ausgeführt. Doktor Gardner, Jeremy Gardner. Wir … kamen uns näher. Zuerst war es nur Sex, aber mit der Zeit wurde eine echte Liebesbeziehung daraus. Er war zehn Jahre älter als ich und verheiratet, allerdings unglücklich. Das ging über zwei Jahre so, und er sprach ernsthaft davon, sich scheiden zu lassen und mich zu heiraten. Er hatte sogar bereits die Scheidung eingereicht, aber …«
Sie stockte und holte tief Luft.
»Ist schon in Ordnung«, sagte Ethan, »du musst es mir nicht erzählen.«
Sie schaute ihm direkt ins Gesicht, und er glaubte in ihrem Blick Trauer zu sehen. Als ob sie von Geistern verfolgt würde.
»Ich will es dir ja erzählen. Aber behalte es bitte für dich. In meiner Familie weiß niemand, dass ich überhaupt einen Geliebten hatte, und schon gar nicht … Es ist etwas passiert. Jeremy war Bergsteiger. Ab und an verschwand er für einen Monat oder länger, um Gipfel zu erklimmen, einer höher und schwieriger als der andere. In jenem Jahr nahm sich das Team, dem er angehörte, den Nanga Parbat in Kaschmir vor. Sie hatten den Berg schon zur Hälfte erstiegen, da versagte ein Haken, er stürzte auf einen Felsen und brach sich das Rückgrat. Eine Zeitlang wusste ich gar nichts davon. Er hatte unsere Beziehung streng geheim gehalten. Ich hatte nicht einmal Gelegenheit, an seinem Begräbnis teilzunehmen.«
Sie hielt inne. Während sie sprach, hatte sie die ganze Zeit in dem Reis gerührt. Jetzt gab sie die Garnelen, große rosafarbene Exemplare, hinzu. Der Käse rundete das Gericht ab. Sie rieb ihn in dicke, gelbe Streifen, die sie über den Risotto streute. Als er schmolz, rührte sie ihn sacht unter.
Der Risotto musste noch ziehen. Inzwischen deckte Ethan den Tisch. Er benutzte die Teller, die man für das nicht stattgefundene Festmahl bereitgestellt hatte. Er holte die Flasche Pino Grigio und zwei passende Gläser. Dann zündete er die Kerzen an.
Während er den Tisch vorbereitete, hatte Sarah einen Salatkopf aus dem Kühlschrank geholt und mit italienischem Dressing angerichtet. Sie stellte die große Schüssel mitten auf den Tisch, und Ethan suchte nach einem Salatbesteck. Als der Risotto neben der Salatschüssel stand, war alles fertig.
Beim ersten Löffel war er überwältigt.
»Das schmeckt ja fantastisch. So ein Pech, dass ich dein Onkel bin und du meine Nichte.«
Sie blickte ihn merkwürdig an, als hätte er etwas Unpassendes gesagt. Dann lächelte sie.
»Damit wirst du wohl leben müssen«, ließ sie fallen und ließ sich den Risotto schmecken.
Dabei fragte sie sich, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte. Immerhin waren sie beide erwachsene Menschen. Ihn würde die Nachricht nicht schmerzen, aber ihren Verwandten würde sie sehr peinlich sein, das wusste sie. Ethan war nicht ihr Onkel und sie nicht seine Nichte. Sie waren überhaupt nicht miteinander verwandt. Das wussten nur sie und ihre Mutter. Die hatte ihr auf dem Sterbebett das streng gehütete Geheimnis eröffnet. Sie beschloss, ihm vorerst nichts zu verraten. Was machte es schon, wenn er weiterhin glaubte, sie seien Blutsverwandte? Das dachte schließlich die ganze Familie, und der Gedanke, ihr diese Illusion zu rauben, behagte ihr gar nicht.
Nachdem Sarah beide Teller bereits zum zweiten Mal gefüllt hatte, legte sie plötzlich Gabel und Löffel nieder und schaute Ethan unverwandt an.
»Was passiert eigentlich mit Urgroßvaters Testament? Ich meine jetzt, da die Ermittlungen in diesem Mordfall laufen.«
Er blickte düster drein und legte ebenfalls das Besteck auf den Teller.
»Das weiß ich auch nicht so genau«, sagte er dann. »Das Arbeitszimmer war durchwühlt. Jemand hat beträchtliche Zeit darauf verwendet, nach etwas zu suchen, vielleicht nach Geld, vielleicht nach etwas anderem. Wonach genau, weiß man noch nicht. Wenn das Testament noch dort war, dann ist es jetzt wahrscheinlich in den Händen der Polizei. Wenn nicht, kann es auch der Eindringling mitgenommen haben. Oder die Eindringlinge. Es ist nicht weiter von Bedeutung, zumindest solange die Ermittlungen im Gange sind. Ich glaube nicht, dass sich im Moment jemand sehr dafür interessiert, was er erben wird.«
Sie nahm die Gabel wieder auf und stocherte damit im Essen herum.
»Es war nur …« Sie stockte, als wollte sie ihre Gedanken ordnen. »Ethan, hat er dir gegenüber das Testament jemals erwähnt?«
Er schüttelte den Kopf.
»Ich erinnere mich nicht daran. Es hätte mich sicher nicht besonders interessiert. Gerald war in solchen Dingen sehr korrekt. Er hatte gute Anwälte, ich glaube von einer Kanzlei drüben in Gloucester.«
»Markham und Pritchett. Sie haben sich auch um die Angelegenheiten meines Vaters gekümmert.«
Er lächelte.
»Sie sind auch meine Anwälte. Ich denke, sie arbeiten seit ewigen Zeiten für die ganze Sippe. Nach dem Urlaub melde ich mich bei ihnen. Sie müssten zumindest ein Exemplar des Testaments in ihren Akten haben.«
»Ich habe davon angefangen, Ethan, weil Urgroßvater vor drei Jahren einmal mit mir darüber gesprochen hat. Da habe ich noch an meiner Dissertation gearbeitet. Er meinte, wenn ihm einmal etwas zustoßen sollte, dann sollte ich nach seinem Testament suchen und nach einem weiteren Dokument, das dabei liege, einem Brief an mich. Er hat ihn mir einmal gezeigt, aber das Blatt war zusammengefaltet. Er sagte mir nicht, was in dem Brief steht, aber ich vermute, es hatte nichts mit einem Erbteil zu tun. Es sei sehr wichtig, hat er ausdrücklich betont. Er erklärte, ich solle den Brief an mich nehmen, wenn etwas passiert. Er enthalte gewisse Anweisungen.«
»Anweisungen? Worüber?«
»Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich komme ich nicht einmal in dem Testament vor. Und wenn, dann sicher ziemlich weit unten in der Hackordnung. Aber ich habe so ein merkwürdiges Gefühl dabei.«
»Ein merkwürdiges Gefühl?«
»Genau. Damals habe ich die Sache nicht allzu ernst genommen. Doch wenn ich es mir jetzt überlege, bin ich mir ziemlich sicher, dass er damals nicht seinen natürlichen Tod gemeint hat. Da war etwas in seinem Verhalten und in seiner Stimme … Als fürchtete er, es könnte ihm etwas Unerwartetes zustoßen. Und … nun ist es ja passiert, nicht wahr? Ich denke, wir sollten nach dem Papier suchen. Und zwar sofort.«