NEUNZEHNTES KAPITEL

Fallender Schnee und schimmernde Sonne

Putna

Bukowina

 

Sie erreichten das Kloster zwischen Nachtgebet und Mitternachtsvesper in einer Zeit des Schweigens. Die Mönche waren in ihren Zellen, und die Priester bereiteten die Artoklasia, das Brotbrechen, am Ende der Vesper vor. Ilona führte sie durch die Dunkelheit zu der von Kerzen erleuchteten Kirche, die hinter hohen Klostermauern mitten in einem großen Ensemble von Türmen gekrönter Gebäude stand. Das war Putna, das Kronjuwel der Klostergründungen in Rumänien. Seit Jahrhunderten intonierten die Stimmen der Mönche hier von Stunde zu Stunde die Liturgie, jeden Tag, ob Sommer oder Winter, bei fallendem Schnee und schimmernder Sonne.

Der Priestermönch erwartete sie in einem Bogengang dicht bei dem großen Ikonostas. Die meisten Kerzen waren bereits gelöscht, und der Priester, von Kopf bis Fuß in Schwarz, war im Dunkel kaum zu erkennen. Wolken von Weihrauch umschwebten ihn wie der heiße Atem von Drachen. Er sah sie auf sich zugehen, und obwohl er sie erwartete, erbebte sein Herz. Er wusste, woher sie kamen. Jahrelang hatte er auf diesen Augenblick gewartet und ihn gefürchtet. So viel hing davon ab, was jetzt geschah. Mehr Menschenleben, als er zu denken wagte, schuldige und unschuldige, christliche Kirchen überall in der Welt, vielleicht gar alle Religionen. Woher sollte er es genau wissen? Er trat aus dem Schatten heraus.

Der Priester streckte ihnen die Hand entgegen. Ilona trat auf ihn zu und neigte den Kopf, um sie zu küssen. Als sie aufschaute, sah sie wieder in die freundlichen Gesichtszüge, die sie bei ihrer ersten Begegnung eine Woche zuvor so beeindruckt hatten. Mit dem langen weißen Bart wäre er im Westen als Weihnachtsmann durchgegangen, aber da war etwas in seinem Blick, das empfindsame Kinder erschrecken konnte.

»Ethan«, sagte sie, »ich möchte Ihnen Archimandrit Iustin Dumitreasa vorstellen. Pater Iustin ist ein Priestermönch. Das bedeutet, er wurde zum Priester geweiht. Aber als seine Frau starb, ist er in dieses Kloster eingetreten, wo er jetzt zugleich als Mönch lebt.«

»Seine Frau?« Ethan glaubte sich verhört zu haben.

Ilona wollte antworten, aber da trat der Priester vor und nahm Ethans Hand.

»Ihre anglikanischen Priester heiraten doch, oder?«, sagte er. »Das tun orthodoxe Geistliche auch. Wir sind ein Teil dieser Welt. Wie soll ein Mann ohne Frau und Familie die Sorgen seiner Gemeindemitglieder verstehen? Ilona hat mir gesagt, Ihr Name sei Ethan.«

Ethan nickte. Dieser merkwürdige Priester flößte ihm Ehrfurcht ein. Als er ihm die Hand schüttelte, blickte er ihm in die Augen, die aus eingefallenen Wangen glühten. Das war kein gewöhnlicher Mann. Er wirkte getrieben, ja, beinahe prophetisch, ein moderner Jesaja, ein Seher, der Wunder vollbringen oder die Zukunft voraussagen konnte.

Ethan löste sich von ihm und schob Sarah nach vorn. Die begriff später selbst nicht, was sie tat, aber als sie vor ihm stand, kniete sie nieder. Vater Iustin legte ihr seine knochigen, faltigen Hände auf den Kopf und murmelte ein kurzes Gebet.

Es war das Jesusgebet, das orthodoxe Christen ständig auf den Lippen haben: »Herr Jesus Christus, Sohn Gottes, hab Erbarmen mit mir Sünder.« Sarah wusste nicht, was der Geistliche betete oder was es bedeutete, aber etwas an seiner Berührung oder seiner Stimme strahlte Frieden aus. Diese Riten waren ihr fremd. Sie war keine gläubige Frau und hatte auch als Kind nicht viel für Religion übriggehabt. Aber ob es nun der Kniefall war oder das Handauflegen, das sie damit auslöste – sie spürte, wie ein Schauer sie überlief, dem eine große Ruhe folgte. Sie erhob sich wieder, noch ein wenig unsicher wie jemand, der gerade vom Krankenbett aufgestanden ist und die ersten Schritte gehen will. Die Schatten ringsum bewegten sich, und das strahlende Licht der Kerzen erleuchtete die satten Farben des Ikonostas mit den Bildern von Jesus, Maria und zahllosen Heiligen.

»Folgen Sie mir an einen Ort, wo wir ungestört reden können.«

Der Archimandrit führte sie aus der Kirche. Das Gebäude, das an ein französisches Schloss erinnerte, stand mitten auf einem Platz, der ganz von den äußeren Schutzmauern des Klosters umgeben war. Sie traten durch eine Tür in der Südmauer. Der Halbmond, der mildes Licht aussandte, sah aus, als sei er direkt über dem Kloster aufgehängt. Vater Iustin zog einen großen Schlüssel aus seiner Tasche. Er passte zu einem Schloss, das seit dem 17. Jahrhundert nie gewechselt worden war.

Drinnen betätigte der Priester einen Schalter, und elektrische Lampen flammten auf.

»Tut mir leid«, sagte er, »die Beleuchtung ist ein bisschen grell. Dies ist unser Beratungsraum. Putna ist eines der Hauptklöster des Landes, daher finden hier häufig Konferenzen statt. Nehmen Sie bitte dort drüben Platz.«

Sie folgten ihm zu einem großen achteckigen Tisch und ließen sich rund herum nieder. Der Priester blickte Sarah sorgenvoll an.

»Wenn wir hier fertig sind«, sagte er, »bekommen Sie im Refektorium etwas zu essen. Dort steht immer ein Tisch für Gäste bereit. Zunächst möchte ich Ihnen gern etwas mitteilen. Später können Sie mich fragen, was Sie wollen. Wenn andere Mönche dabei sind, dann schweigen Sie bitte über das, was ich Ihnen jetzt sage. Kein Wort darüber, das ist sehr wichtig.«

»Sie sprechen ausgezeichnet Englisch«, sagte Ethan. »Wo haben Sie …?«

»Von meiner Frau«, sagte er. »Sie stammte aus Canterbury. Wir haben viele Jahre in London gelebt.«

Ethan blickte ihn verwundert an.

»Sie waren in London?«

Vater Iustin schüttelte lächelnd den Kopf.

»Rumänien mag ja nicht gerade der Mittelpunkt der Zivilisation sein«, sagte er, »aber viele von uns sind weit gereist. Ich habe die rumänisch-orthodoxe Kirche St Dunstan-in-the-West in der Fleet Street betreut.«

Er blickte Ethan an, als müsste der die Kirche kennen.

»Tut mir leid«, sagte Ethan. »Ich … ich kenne London nicht so gut. Ich glaube nicht, …«

»St Dunstan ist die merkwürdigste Kirche von ganz London. Eine Hälfte benutzten die Anglikaner, die andere die Rumänisch-Orthodoxen. Vorn steht ein anglikanischer Altar mit Heiligenbildern und rechts davon ein großer Ikonostas. Ein Ort mit einer ganz eigenen Aura. Ich erinnere mich sehr gern daran. Meine Frau war Engländerin, wie ich schon sagte. Sie hieß Jacqueline. Sie hat den größten Teil ihres Lebens mit mir in Rumänien verbracht. Als sie fünfzig wurde, wollte sie nach Hause zurück. Unser Metropolit hat mich freundlicherweise nach St Dunstan versetzt. Jetzt aber bin ich ein alter Mann und Witwer. Meine Frau ist in London begraben, und ich verbringe meine letzten Jahre hier in Putna, halte jeden Morgen und Abend Gottesdienste, bete um eine Vision, lausche auf die Stimme Gottes und warte darauf, mit der Seele meiner lieben Frau vereinigt zu werden. Doch nun sind Sie hier, Sie und Ihre Schwester. Sie besuchen mich an meinem letzten Zufluchtsort.«

»Das klingt, als hätten Sie auf uns gewartet«, sagte Ethan. Er war leicht verwirrt von dem Kloster und dem alten Mann.

»Ich warte in der Tat seit vielen Jahren auf Sie. Nicht auf Sie persönlich. Aber ich wusste, dass am Ende jemand zu mir kommen wird. Der mir etwas über Egon Aehrenthal berichtet.«

»Woher wissen Sie …?«

»Ilona hat es mir gesagt.«

Die beugte sich nach vorn.

»Ich habe mit dem Pfarrer in meiner Kirche gesprochen. Wie viele meiner Landsleute gehöre ich der Reformierten Kirche an. Mein Gemeindepfarrer kennt viele Orthodoxe, denn er ist sehr ökumenisch eingestellt. Ich habe ihm von den Reliquien erzählt. Er hat mir Vater Iustins Namen genannt und mich hierhergeschickt. Ich habe dem Vater dann die Sache erklärt, so gut ich konnte. Er hat mich angehört und gebeten, euch beide so rasch wie möglich hierher zu bringen. Nun ist es noch eher passiert, als wir alle dachten.«

Jetzt wandte sich der Priester ihnen zu. Ethan fiel auf, dass seine Augenlider gerötet waren, als litte er an einer Lid- oder Bindehautentzündung.

»Ethan«, sagte er, »für mich ist alles wichtig, was Sie mir sagen können. Ich werde Ihnen dann einiges mitteilen, das Sie wissen sollten. Ilona hat mir erzählt, Sie hätten einige Altertümer gesehen, die Egon Aehrenthal geraubt hat. Können Sie sie mir beschreiben?«

Ethan begann, zögernd zunächst, seinen Bericht. Zuerst erzählte er, wie sie die Leiche seines Großvaters entdeckt hatten, und zitierte, so gut es sein Gedächtnis erlaubte, aus Geralds Brief an Sarah. Er sprach eine Stunde lang, dann eine zweite. Der alte Priester ließ ihn dabei nicht aus den Augen. Obwohl der Raum hell erleuchtet war, vergaßen die vier bald alles ringsum. Von den Wänden blickten die Bilder längst verstorbener Priester und Mönche auf sie nieder, als lauschten auch sie Ethans Bericht.

Als er geendet hatte, fügte Sarah hinzu, was sie wusste und was sie sich zusammenreimen konnte. Die Geschichte ihres Urgroßvaters erhielt so ein fachmännisches Fundament.

Als sie endete, war es bereits tiefe Nacht. Pater Iustin sagte lange nichts. Er rieb nur seine Augen mit den Fingerknöcheln und legte dann einige Augenblicke die Handflächen darauf.

»Entschuldigen Sie«, sagte er. »Meine Augen brennen sehr. Seit Ilona hier war, habe ich nächtelang gebetet. Jedes Ding hat seine Zeit. Jetzt ist unsere Zeit gekommen. Ich bete dafür, dass alles gutgeht. Wenn nicht, dann wird auf diesen Anfang ein böses Ende folgen.«

Er holte einige Male tief Luft und murmelte das Jesusgebet immer wieder vor sich hin.

»Sie müssen alle sehr hungrig sein«, sagte er dann. »Sie haben eine weite Reise hinter sich. Tut mir leid, ich hätte Ihnen gleich etwas zu essen geben sollen, als Sie ankamen. Aber es hat mich so sehr gedrängt, zu erfahren, was Sie mir zu sagen haben. Nach dem Essen teile ich Ihnen mit, was mir auf der Seele brennt.«

Sie aßen miteinander beim Kerzenschein in einem leeren Refektorium. Es waren einfache Speisen – eine Pilzsuppe und Kohlrouladen, zu denen sie einen dünnen Rotwein tranken. Zum Dessert gab es Aprikosenknödel. Hungrig wie sie waren, fühlten sie sich wie auf einem Festbankett. Sarah mied den Wein, und als sie geendet hatten, war sie todmüde. Ilona brachte sie in ein kleines Haus außerhalb der Mauern, wo Nonnen sich um weibliche Gäste kümmerten. Auch Ilona war nach dem langen Weg am Ende ihrer Kräfte. Sie hatte die ganze Zeit bei schlechtem Wetter und sehr schwierigen Straßen am Steuer gesessen. Hinter Bistrit‚a hatten die Karpaten begonnen, wo sie auf eisigen Straßen hohe Bergpässe zu überqueren hatten. Sie wollte jetzt nur noch schlafen. Eine lächelnde Nonne brachte sie in ein Zimmer und gab ihr Nachtwäsche. Bevor sie sich ausziehen konnte, fiel sie, so wie sie war, auf das Bett.