SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL

Das Meer aus Sand

Es war noch nicht alles verloren. Nur weil Aehrenthal bereits in der Wüste nach Wardabaha suchte, bestand kein Grund anzunehmen, dass er es unbedingt vor ihnen finden musste. Dort, wohin er zog, gab es keine Wege, nur endlosen Sand, der vom Wind zu hohen Dünen aufgetürmt wurde. Ein Navigationsfehler, eine falsche Intuition konnten einen Wagen weit vom Ziel abbringen, wenn er einen Dünenkamm nicht bewältigte und gezwungen war, so lange zwischen diesen Sandbergen vorwärtszurollen, bis sich eine Lücke fand, durch die er zu schlüpfen vermochte. Und auch dann waren unter Umständen noch viele Umwege notwendig, bis man die ursprüngliche Richtung wiedergefunden hatte.

Ethan unterhielt sich mit ihrem Führer, einem jungen Araber aus Tripoli, der in Kufra geboren und aufgewachsen war und die Wüste gut kannte. Er hieß Ayyub. Er war groß, sah gut aus und betrachtete alles Neue mit weit aufgerissenen grünen Augen. Er sprach gut Englisch, wenn auch mit einem starken Akzent. Ethan fragte ihn, ob es eine besondere Trasse gebe, die andere Führer vielleicht kennen könnten. Ayyub schüttelte den Kopf.

»Hier gibt es keine Trassen«, sagte er. »Die Wüste ist ein Meer, ein Meer aus Sand, bahr ramal

Ethan ließ sich nicht beirren.

»Selbst auf dem Meer gibt es Fahrtrouten. Sie umgehen starke Strömungen oder Untiefen. Hier sind das die Dünen, manche hoch wie Berge.«

»Die Dünen wandern. Wenn der Wind bläst, dann setzt er sie in Bewegung. Er bläst so lange, bis nichts mehr ist, wo noch eben etwas war, und etwas ist, wo vorher nichts war.«

Er schaute in die Richtung, wo die Sonne gerade hinter den Dünen im Westen unterging, um später in den Wellen des Atlantik zu versinken.

»Eines Tages wird selbst diese Wüste verschwunden sein, die Sonne wird austrocknen, schrumpeln und ganz schwarz werden.«

Ethan wusste nicht, ob er darüber lächeln sollte.

»Wir müssen wieder los«, sagte er.

 

Bald kamen sie immer schwerer voran. Es war fast Vollmond, und Galaxien von Sternen wie Zuckerwatte verstärkten das silberne Licht, das sich wie ein Tuch über die endlosen Sandwellen breitete. Das Licht half ihnen, aber die scharfen Schatten, die es warf, machten es auch schwer, zwischen den Dünen zu navigieren oder abzuschätzen, welche man sicher hinauffahren konnte und welche in sich zusammenfiel, sobald die Räder des ersten Jeeps sie berührten.

Ethan fuhr im ersten Wagen zusammen mit Gavril und dem Führer, Sarah saß im zweiten zusammen mit den Mönchen Claudiu und Flaviu, die beide kein Wort Englisch sprachen.

Draußen zauberten Licht und Schatten etwas wie eine Mondlandschaft in die Wüste. Sarah kam es vor, als krabbele sie darin herum – eine Fremde in einer Welt ohne Fixpunkte. Der Wechsel von Licht und Schatten, die Bewegungen der Sterne und das langsame Ziehen des Mondes ließen ihre Lider schwer werden. Sie nickte ein und schlief bald ganz fest.

Als sie wieder erwachte, hielten sie gerade in einem breiten Wadi. Die Mönche luden die Zelte aus, stellten sie auf und schleppten Schlafsäcke und anderes Notwendige hinein. Als alles getan war, versammelten sie sich wie stets zur Morgenandacht. Ayyub beäugte sie skeptisch aus sicherer Entfernung.

Am hellen Horizont verblassten die letzten Sterne. Campingtische wurden aufgestellt, und bald zog der Duft des Abendessens durch die Dünen. So wie es den Mönchen immer noch merkwürdig vorkam, die Morgenandacht vor dem Schlafengehen zu halten, so wollte auch der Magen sich gar nicht mit den Veränderungen abfinden, die das Vertauschen von Tag und Nacht ihnen aufzwang.

Keiner schlief an diesem Tag gut. Die Sonne brannte bald unerträglich heiß, in den Zelten sammelte sich ungewöhnliche Hitze, Sand setzte sich in jedes Hautfältchen, schien gar in alle Poren und hinter die Augenlider zu dringen.

Bis Mittag quälten sie sich mit all dem herum, dann erhoben sie sich nach und nach. Lieber wollten sie weiterfahren, als diese Tortur aushalten. Ayyub stimmte zu, dass es jetzt nicht mehr viel nützte, nur nachts zu fahren. Tagsüber waren die Chancen wesentlich besser, den Weg zu finden oder Aehrenthal zu entdecken. Sie beschlossen, von nun an tagsüber zu wachen und nach Sonnenuntergang zu schlafen. Nachdem alles verpackt war, brach die kleine Karawane wieder auf.

Am nächsten Tag erreichten sie ein weiteres Wadi, das sich zwischen 150 Meter hohen Dünen dahinschlängelte. Der Sonnenuntergang färbte den Himmel bereits rot und rosa, golden und grün. Sie waren total erschöpft. Als sie aussteigen wollten, fühlten sie sich völlig steif. Die Fahrt dieses Tages hatte sie so durchgerüttelt, dass sie jeden ihrer Knochen einzeln spürten. Es bestand die Chance, dass sie nach einer weiteren Tagesetappe auf die verschwundene Stadt stießen.

Sie schlangen ihr Mahl hinunter und kontrollierten dann ihre Waffen. Wenn sie Wardabaha erreichten, war die Wahrscheinlichkeit groß, das sie dort Aehrenthal und dessen Männern über den Weg liefen. Bald standen die Zelte verstreut auf dem Grund des trockenen Flussbettes. Die Mönche sangen unter Gavrils Leitung noch die Abendvesper und legten sich danach schlafen.

Sarahs Verdauung war inzwischen so in Unordnung geraten, dass es ihr schwerfiel, das Essen bei sich zu behalten. Sie hatte den Schock ihrer Entführung immer noch nicht ganz überwunden und das Gefühl, dass Aehrenthal in der Nähe sein könnte, ließ alte Ängste wieder aufleben.

Sie blieb noch eine Weile wach und sprach mit Ethan. Dies war die einzige Zeit, da sie miteinander allein waren, und von Tag zu Tag wurde sie immer wichtiger für sie. Sie sprachen über Hoffnungen und Ängste, über gute und schlechte Erinnerungen, über Verwandte, über alles, was ihnen gerade in den Sinn kam, nur nicht über Sarahs Schmerzen. Jeden Tag redeten sie länger über ihre Liebe zueinander, wie gefährdet sie noch war, aber wie sehr sie sie brauchten. Sie tauschten keine süßen Nichtigkeiten aus, suchten einander auch nicht zu verführen oder das Begehren im anderen zu wecken. Sie hätten beide gern mehr Zeit füreinander gehabt, aber sie wussten auch, dass ihre Liebe und deren Erfüllung sehr davon abhing, ob diese Expedition Erfolg hatte, ob es gelang, Aehrenthal zu stoppen und dessen Pläne zu durchkreuzen.

Als sie sich trennten, bemerkte Ethan, dass es für diese Tageszeit dunkler als gewöhnlich war. Er hatte sich dem Rhythmus der Wüste noch nicht angepasst und wusste, dass er sich auf sein eigenes Urteil nicht verlassen konnte. Nur Ayyub kannte sich damit aus, aber Ethan vertraute ihm nicht.

Als er aufschaute, sah er, dass sich der Himmel mit Wolken bezog. Sie schienen ihm allesamt grau, nur hier und da zeigte sich ein schwärzerer Fleck, der langsamer dahinzog. Eine leichte Brise erhob sich und wirbelte den feineren Sand auf.

Sarah trat in ihr Zelt. Im zunehmenden Wind straffte sich die Leinwand wie ein Trommelfell. Sie musste an Oxford denken. Die Türme, der Fluss, die Schulgebäude – all das sah sie deutlich vor sich, aber doch wie im Traum. Die Stadt erschien ihr wie die Kulisse für einen alten Film. Die Bilder, die in ihrem Kopf kreisten, waren mit klassischer Musik unterlegt. Dabei schwärmte sie eigentlich für den Soul von Amy Winehouse und den Rock von Joy Division. Hier in der Wüste zerfielen ihre schönsten Erinnerungen zu Sand. Wenn sie sich je nach einer dramatischen Situation gesehnt hatte, dann gab es hier davon im Überfluss.

Lange lag sie in der Dunkelheit wach, geplagt von Gedanken, was der nächste Tag wohl bringen mochte. Sie konnte nicht einschlafen. Da half nichts, als aufzustehen und sich ein wenig die Beine zu vertreten. Sie zog einen Beutel mit Sachen hervor, die sie in Tripoli für die kalten Nächte in der Wüste erstanden hatte – Wollsocken, einen dicken Benneton-Pullover aus dem Suk und darüber eine Männer-Jelabia, die Ethan für sie in dem Teil des Marktes besorgt hatte, wo es nur Männerkleidung gab.

Es war kälter als gewöhnlich und auch wesentlich dunkler. Sie ging noch einmal zurück, um ihre Taschenlampe zu holen, und schritt dann ein Stück den Wadi hinunter. Minuten später hatte sie sich vom Grund des Wadis in einen Seitenkanal zwischen zwei Dünen locken lassen, deren Höhe sie nur vermuten konnte. In dem losen Sand zu gehen war gar nicht leicht, aber etwas – das Bedürfnis, sich zu bewegen – zog sie nach oben und fort von den Zelten. Bald taten ihr die Beine weh. Nach all dem Erlebten hatte sie ihre volle Kraft noch nicht wiedergefunden. Zwar glaubte sie, sie könne sich einen Marsch durch die Dünen bereits zumuten, aber in Wirklichkeit waren ihre Muskeln noch nicht so elastisch wie zuvor.

Sie setzte sich nieder, um ein wenig auszuruhen. Niemand vermisste sie, und auf dem Sand zu sitzen war leichter, als darüber zu gehen. Sie gähnte und blickte in den schwarzen Himmel. Dort wirbelten die Wolken durcheinander wie die Wäsche in einem Trockner. Sie musste ihre Augen abwenden, weil ihr von dem Kreisen schwindlig wurde. Wieder gähnte sie, diesmal herzhafter, und zur Überraschung sank ihr der Kopf auf die Brust. Sie riss sich zusammen, um wieder munter zu werden, und wollte, da sie ihren Zweck erreicht hatte, aufstehen und zum Lager zurückgehen. Aber die Beine versagten ihr den Dienst. Es war so angenehm, im Sand zu sitzen, und sie wollte die Pause noch ein paar Minuten hinziehen, bis ihre Beine sich wieder erholt hatten.

Erneut gähnte sie, dann ein zweites und ein drittes Mal. Bald darauf lag sie auf der Seite, war fest eingeschlafen und schnarchte leise.

Später hatte sie keinerlei Erinnerung daran, wie lange sie so gelegen hatte. Es war ein tiefer Schlaf, das wusste sie, und sie hatte Mühe, wieder daraus zu erwachen. Sie wurde von dem Gefühl geweckt, dass es auf ihren Kopf regnete. Dichter Regen fiel, starker, kalter Regen, der ihr Haar binnen Sekunden durchnässte, ihr in den Kragen, über Brust und Rücken rann. Als sie aufstand, merkte sie, dass beiderseits von ihr Wasser die Düne hinablief. Es war kalt, ihre Kleider sogen sich voll davon und wurden schwer, als wollten sie sie zu Boden ziehen.

Sie tastete um sich, denn sie musste ihre Taschenlampe finden, ohne die sie bis zum Morgenlicht keinen Schritt tun konnte. Sie wusste sofort, was um sie herum vorging. Im Winter konnte es in der Wüste zu heftigen Regenfällen kommen. Sie waren sehr unangenehm, dauerten aber nie lange. In dieser kurzen Zeit konnten sie allerdings tödlich sein, weil sie in Wadis, den ausgetrockneten Flussbetten, eine Springflut erzeugten. Selbst bei dieser Finsternis sah sie, wie Wasser von den Hängen der Dünen über den Sand zu den tiefsten Punkten stürzte.

Sie kämpfte die aufkommende Panik nieder, schaltete die Taschenlampe ein und suchte den Weg zurück. Aber um sie herum war alles verändert. Sie fand einen Kanal, der abwärts führte. Das kalte Wasser umflutete sie, war schon knöcheltief, stieg höher und höher. Sie musste Ethan finden und die Männer vor der Gefahr warnen, in der sie sich befanden. Menschen starben, weil sie an einem Ort von einer Springflut fortgerissen wurden, an dem sie nie im Leben Wasser erwartet hätten.

 

Unten im Wadi hatte man die Gefahr bereits erkannt. Ayyub hatte alle geweckt, als die ersten Tropfen auf die Zelte fielen. Sekunden später lief schon das erste Wasser in den Wadi, als die Mönche noch ganz benommen aus den Zelten wankten.

»Lasst die Zelte stehen«, schrie Ayyub. »Rein in die Wagen und weg von hier!« Ethan konnte Sarah nirgendwo entdecken. Er packte Ayyub beim Arm, als der an ihm vorbeilief.

»Hast du Sarah gesehen?«

»Die Frau? Ja, sie ist bei den beiden Mönchen Claudiu und dem anderen.«

»Wo sind sie? Schnell!«

Ayyub sah, wie Gavril in den Jeep sprang, den er mit Ethan teilte. Er schaltete den Motor ein.

»Dafür ist jetzt keine Zeit!«, rief Ayyub. »Die Flut spült uns alle davon!«

Er packte seinerseits Ethan am Arm, zwang ihn in den Jeep, bevor er selber aufsprang. Als Gavril sah, dass alle drin waren, trat er aufs Gaspedal. Einen Moment waren sie zu Tode erschrocken, als die Räder durchdrehten und in dem nassen Sand keinen Halt fanden. Dann aber zogen die Hinterräder an, der Motor heulte schrecklich auf, und der Jeep machte einen Satz in die Dunkelheit. Hinter ihnen kamen auch das zweite und das dritte Fahrzeug in Bewegung. Tosend brauste das Wasser durch das Wadi.